Zeit: um 1800; Ort: auf dem Lande
Personen
- Eduard, Baron im besten Mannesalter, Witwer, jetzt verheiratet mit seiner Jugendliebe Charlotte
- Charlotte, verwitwete Baronesse, gleichaltrige Ehefrau Eduards
- Otto, der Hauptmann, Freund von Eduard und Geliebter Charlottes, betätigt sich auf dem Schloss als Landschaftsplaner
- Ottilie, junges Mündel Charlottes, Tochter der verstorbenen Jugendfreundin, Geliebte Eduards
Handlung:
- Eduard und Charlotte lieben sich, das scheint aber nicht mehr zu reichen. Eduard will seinen Freund, den Hauptmann, zu sich holen. Charlotte ist dagegen, willigt aber ein, wenn sie ihre arme ’Nichte’ Ottilie ebenfalls in das Schloss aufnehmen kann.
- Charlotte verliebt sich in den Hauptmann, Eduard in Ottilie. Der Hauptmann wird abberufen, Charlotte gibt ihn frei, hat sich möglicherweise aber mit dem Hauptmann eingelassen. Eduard und Charlotte schlafen miteinander, mehr aus Zufall denn mit Absicht. Charlotte wird schwanger.
- Als Ottilie das Haus verlassen soll, weigert sich Eduard zu seiner Frau zurückzukehren. Ottilie bleibt, Eduard zieht in den Krieg, um den Tod zu suchen. Charlottes Kind wird geboren, es ähnelt dem Hauptmann.
- Eduard kehrt unverletzt aus den Schlachten zurück, sucht Ottilie, die das Kind behütet, an einem See auf. Sie gestehen sich ihre Liebe. Innerlich erregt, rudert Ottilie über den See zurück, das Boot schwankt, das Kind fällt in das Wasser und ertrinkt.
- Alle verzeihen Ottilie, diese erträgt ihr Versagen aber nicht (Tod des Kindes, Eindringen in die Ehe Charlottes) und erkennt, dass ihre Liebe auf Erden unerfüllbar ist. Sie verweigert sich dem Leben, stellt das Essen ein und stirbt. Ottilie wird aufgebahrt und in der Kapelle beigesetzt.
- Eduard will ebenfalls nicht mehr leben, isst und trinkt wenig und stirbt schließlich, über persönliche Gegenstände Ottilies gebeugt, an Herzversagen. Charlotte lässt ihn neben Ottilie beisetzen.
Bewertung und Auszug:
Der Roman liest sich jedesmal wie neu, und zeigt unverändert seine Wirkung: am Ende ist man emotional überwältigt.. Warum?, denn die Handlung neigt zum Kitsch und könnte das Herz verschließen. Es ist Goethes knapper, aber treffender erzählerischer Stil (Ihre Unterhaltungen waren vermeidend / „Und für mich, was darf ich hoffen?“), die Reduzierung auf das Wesentliche, die ins Zentrum des Herzens trifft (Es schien ihr in der Welt nichts mehr unzusammenhängend, wenn sie an den geliebten Mann dachte, und sie begriff nicht, wie ohne ihn noch irgend etwas zusammenhängen könne / Das Leben war ihnen ein Rätsel, dessen Auflösung sie nur miteinander fanden), ohne jedes überflüssige Wort. Nichts ist zu viel, nichts zu wenig, ein sprachliches Meisterwerk. Der Stil hat etwas von japanischer Kunst, eine klare, kristalline Schönheit: Sie (Charlotte) empfand eine tiefe, selten gefühlte Traurigkeit. Das Kreisen des Kahns, das Plätschern der Ruder, der über den Wasserspiegel hinschauernde Windhauch, das Säuseln der Rohre, das letzte Schweben der Vögel, das Blinken und Widerblinken der ersten Sterne, alles hatte etwas Geisterhaftes in dieser allgemeinen Stille. Was für ein schöner Satz. Eine aktive, verbgebundene Sprache, die dem Leser Raum für eigenes Empfinden lässt, ohne gefühlszementierende, nur beschreibende Adjektivismen. Goethe schiebt mittels der Sprache den Nebel von der Szene, er lässt uns Gottes Wirken erkennen, sei es, wie im vorhergehenden Zitat, in der Natur oder im menschlichen Herzen.
Goethes Roman handelt auch von der Erpressung durch die Liebe. Ottilie wird erpresst, die Liebe drückt sie zu Boden, lässt ihr keinen Ausweg als den Tod. Caravaggio hat sie gemalt, in seiner reuigen Maria Magdalena, die in Rom in der Galleria Doria Pamphilj hängt. Das ist Ottilie, die dem Weltlichen bereits entsagt hat. Fazit: Einer der besten Romane aller Zeiten
Wie kommt es zu dem Titel?
Das abendliche Gespräch der drei kreist um die Naturwissenschaften, um neue Erkenntnisse: Es ist schlimm genug, rief Eduard, dass man jetzt nichts mehr für sein ganzes Leben lernen kann. Unsere Vorfahren hielten sich an den Unterricht, den sie in ihrer Jugend empfangen, wir aber müssen jetzt alle fünf Jahre umlernen, wenn wir nicht ganz aus der Mode kommen wollen. Charlotte (denn es macht in der Gesellschaft nichts lächerlicher, als wenn man ein fremdes, ein Kunstwort falsch verwendet) warnt vor den Gefahren der Bleiglasur auf Töpferwaren, der Hauptmann führt in die Grundzüge der Chemie ein (An den Alkalien und Säuren, die, obgleich einander entgegengesetzt und vielleicht eben deswegen, weil sie einander entgegengesetzt sind, sich am entschiedensten suchen und fassen, sich modifizieren und zusammen einen neuen Körper bilden, ist diese Verwandtschaft auffallend genug).
Die Unterhaltung nimmt einen erotischen Unterton an (Charlotte: Auf eben diese Weise können unter Menschen wahrhaft bedeutende Freundschaften entstehen, denn entgegengesetzte Eigenschaften machen eine innigere Vereinigung möglich). Der Hauptmann spricht von Wahlverwandtschaften, Charlotte eher von Naturnotwendigkeit (Gelegenheit macht Verhältnisse wie sie Diebe macht; und wenn von ihren Naturkörpern die Rede ist, so scheint mir die Wahl bloß in den Händen des Chemikers zu liegen, der diese Wesen zusammenbringt. Sind sie aber einmal beisammen, dann Gnade ihnen Gott!). Sie weist auf Fälle hin, wo eine innige unauflöslich scheinende Verbindung zweier Wesen durch gelegentliche Zugesellung eines dritten aufgehoben, und eins der erst so schön verbundenen ins lose Weite hinausgetrieben ward. Da sind die Chemiker viel galanter, sagte Eduard; sie gesellen ein viertes dazu, damit keines leer ausgehe. Ottilie wird ins Haus geholt. Den anderen Morgen sagte Eduard zu Charlotten: es ist ein angenehmes unterhaltendes Mädchen. Unterhaltend? versetzte Charlotten mit Lächeln: sie hat ja den Mund noch nicht aufgetan.
Zusammenstellung: Ralf Reck, 20.01.2021