Ist diese Fermate in dieser Arie ebenfalls für eine kleine "Kadenz", für eine kleine Improvisation gedacht, soll sie der Sängerin eine kleine Freiheit einräumen?
Ja.
Ich stelle ja meinen Geschmack nie über das Werk, sondern das Werk über meinen Geschmack. Über solche Verzierungen zur Zeit Mozarts weiß ich theoretisch zu wenig, um bestimmen oder begründen zu können, welche Koloraturen "erlaubt" oder "gut" sind, und welche nicht. Solange ich darüber nichts Genaues weiß, bleibt mir allerdings nur mein Geschmacksurteil, und da finde ich, dass zu viele Koloraturen nicht mehr schön sind, besonders, wenn sie die Melodie zu sehr verfälschen. Ich finde, man sollte damit genauso sparsam umgehen wie etwa mit einem Vibrato.
Sowohl Quellen- als auch Literaturlage sind hinsichtlich der „erlaubten Koloraturen“ relativ günstig, was den Sänger allerdings nicht der geschmacksbedingten Wahl enthebt. Die Spannbreite des Vokabulars ist gross – weder war die Tradition der virtuosen Neapolitanischen Schule, von der auch Mozarts Vorbild Christian Bach beeinflusst war, ganz obsolet, noch die spätbarocke Hofoper eines Fux völlig vergessen. Dank Kaunitz konnten sogar die französischen synkretistischen Opern wirken, etwa in Gestalt einiger Werke von Salieri, von dem ebenso ausgeschriebene Ornamente vorliegen wie von Martín y Soler und Mozart selbst.
Auf dieser Basis müssen wir mit lebhaften Koloraturen rechnen, zumal in den beiden „Arien“ Cherubinos, die sich mit „Martern aller Arten“ befassen – Affekt „läuft“ auch in dieser Zeit noch wesentlich über Verzierungen. Heute sollte man den Kontext von Inszenierung und Personenzeichnung berücksichtigen. Als ich diese Rolle als Dreizehnjähriger auf die Bühne brachte, was ja quasi die ultimative „realistische“ Besetzungsoption darstellt, schien uns beispielsweise ein zurückhaltener Umgang mit Koloratur angemessen, um besagte Besetzungsvariante nicht durch übermässige Artifizialität zu konterkarieren. Doch selbst bei einer canzonenhaften Form wie „Voi che sapete“ (Caruso41 plädierte für eine möglichst schlichte Ausführung) wäre es mir inadäquat erschienen, nicht wenigstens in der „Reprise“ eine Form von varietas einzubringen.
Nun habe ich nur einen Teil der Beispiele aus dem Paralellthread über „Voi“ hören können, doch scheinen mir nicht immer die Möglichkeiten genutzt, die eine differenzierte Nutzung des Vibratos böte. Geht der Darsteller hingegen von einem vibratolosen Fundament aus, bieten sich eine Vielzahl von Schattierungen, die im passenden Augenblick als Verzierung wirken können, also auch bei einem straighten Vortrag jene Momente unterstreichen, in denen Cherubino doch einmal aus der Bahn zu fliegen droht.
Ja, das wäre für mich auch so ein Beispiel, auch Crebassa singt in der Reprise eine kleine Variation und sorgt für ein wenig Abwechslung. Bei Kirchschlager wirken mir die vielen Koloraturen so, als ob sie nur um der Koloraturen wiillen gesungen werden, und nicht, um den Ausdruck zu unterstützen.
So gerne ich auch mit René Jacobs musizierte und so sehr ich seine Figaro-Aufnahmen schätze (seit Currentzis letzten Mozart-Ausflügen um so mehr), bin ich doch ganz froh, den Cherubino nicht unter seiner Leitung gesungen zu haben. Er diktiert den Sängern die Ornamentik oftmals sehr vor und bezieht sich dabei nicht zuletzt auf eher barocke Quellen. Das ist, wie angedeutet, nicht illegitim, passt aber m.E. nicht zu Cherubino. Zwar bezieht sich Beaumarchais mit seinem ironischen Figurennamen auf die barocke Ikonographie, die Engel und Amor fusioniert, doch bleibt Cherubino eine dezidiert jugendliche Figur, die sich kaum abgestandener Moden bedienen würde (ausserdem erscheint mir die identische Repetition von Kadenzen aus dieser Zeit widersinnig, sei es im Gesang, bei Soloinstrumentalmusik oder im Orchester). Schon daher ziehe ich ebenfalls Mdm Crebassas Lesart derjenigen von Frau Kirchschlager vor.
Die Mezzosopranistin Solenn Lavnanat Linke singt den jugendlichen Cherubino mit Dreispitz und in Kniebundhosen. "Das ist eine der schwierigsten Arien für Mezzo, weil die liegt ganz hoch", erklärt die Sängerin über die Arie "Voi che sapete". "Und jetzt bin ich wie ein Chamäleon und wandele an dieser Grenze." Neben der stimmlichen Herausforderung ist die Rolle des Cherubino auch schauspielerisch kein Kinderspiel: Seit Wochen spaziert Solenn Lavanant-Linke durch die Straßen und beobachtet junge Männer. Wie könnte sich ihr Cherubino die Haare aus dem Gesicht streichen, wie ist sein Gang, wie seine Mimik? Und dann ist da auch noch das komplizierte Seelenleben der Teenager
Ach ja, wie oft hört oder liest man doch von angehenden Mezzo-Cherubin-innen, die sich im Rahmen der Rollenvorbereitung selbst vor Feldstudien nicht scheuen. Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht… ?