Gestern habe ich auch endlich die Zeit gefunden, mir den Bernstein-Film "Maestro" anzuschauen. Meine Eindrücke decken sich weitgehend mit denen von Amdir und Joseph II. Der Film fokussiert wirklich sehr stark auf die Beziehung zwischen Bernstein und Felicia Montealegre, wähend viele andere wichtige Aspekte seines Lebens gar nicht vorkommen oder höchstens einmal am Rande erwähnt werden. Was auch mir zu kurz kam, ist die Musik. Bernsteins lebenslanger Kampf um Anerkennung als "ernsthafter" Komponist, der Konflikt zwischen der Rolle des gefeierten Dirigenten und dem Bedürfnis nach Rückzug und Zeit zu schöpferischer Tätigkeit, die besondere Bedeutung von Gustav Mahler für ihn u.v.m., was den Musiker Bernstein ausmachte, kam nicht vor oder viel zu kurz. Wenn dann mal Ausschnitte aus seinen eigenen Werken erklangen oder man ihn beim Dirigieren zeigte, dann ohne jeden Kontext, ohne Erklärung, was da eigentlich zu hören war und welche Bedeutung es im Leben und Schaffen Bernsteins hatte. Auch seine Rolle als Pädagoge und Kommunikator (Omnibus-Lectures, Young People's Concerts, unzählige Werkeinführungen auf Video) wurden an einer Stelle gerade mal kurz erwähnt. Und wie schon angemerkt wurde, kann Cooper nicht dirigieren (oder es zumindest überzeugend simulieren), die Szene in Ely ist höchst peinlich. Im Abspann wurde Nézet-Séguin als "conducting consultant" genannt. Entweder hat er einen schlechten Job gemacht oder Cooper war ein schlechter Schüler. Ansonsten fand ich seine schauspielerische Leistung durchaus überzeugend, und auch Carey Mulligan ist sehr gut.
Die für mich berührendste Szene war ein Gespräch von Bernstein mit seiner Tochter Jamie, die während eines Sommer-Aufenthaltes in Tanglewood Geschichten über Affären ihres Vaters mit Männern gehört hatte und darüber verstört war und dies in einem Brief an ihre Mutter erwähnt hatte. Bernstein schiebt die Gerüchte auf Neider und antwortet auf ihre direkte Nachfrage: "Die Geschichten sind also nicht wahr?" mit "Nein". Dann schaut er sie noch lange schweigend an. Im Film ist eine Szene vorgeschaltet, in der Felicia ihren Mann dazu auffordert, der Tochter nicht die Wahrheit zu sagen, aber dass es sich so abgespielt haben könnte, war nur eine spätere Vermutung der Tochter. Sie schreibt dazu in ihrem Buch "Famous Father Girl":
In one chapter, I described spending a teenage summer working at Tanglewood, where I heard stories about my father’s “wild youth,” which included dalliances with men. I wrote uneasily to my mother, mentioning the stories. She evidently shared the letter with my father, who took me aside one evening after dinner to talk about what I’d heard. He said the stories weren’t true. As I wrote about this incident, I included a new thought: it was occurring to me for the first time that my mother might well have put my father up to denying those rumors. Bradley took that piece of speculation and wove it into his narrative. In a perfect example of how storytelling can amplify reality, the scene where Felicia asks Lenny to lie to Jamie, who is played in the movie by Maya Hawke, feels absolutely, painfully plausible to me. And in the next scene, where Lenny and Jamie have their conversation, the long, nearly unbearable pauses convey the inarticulate connection of father and daughter far better than any dialogue could do.
Mein Fazit: Ein durchaus sehenswerter Film, weil er private Aspekte von Bernsteins Leben beleuchtet, die wir als Musikliebhaber vielleicht bisher weniger kannten. Aber keine Biographie, die allen Aspekten der vielfältigen Persönlichkeit Leonard Bernsteins gerecht wird.