Beiträge von Robert Klaunenfeld

    Lieber Rheingold, mich freut, dass Du hier eines der eigentlich bahnbrechenden, jedenfalls eines der bedeutendsten, eigen-artigsten Werke von Sibelius propagierst. Durch Verkettung unglücklich zusammentreffender Umstände wurde es nach der UA 1913 jahrzehntelang still um dieses Hauptwerk - anscheinend auch zum Leidwesen des Komponisten (der WUSSTE, was er da gegeben hatte!). Die Quelle zu dieser Aussage kann ich im Moment nicht zitieren. Jedenfalls kam die erste VERLÄSSLICHE Ausgabe des Werks erst im 21. Jahrhundert im Rahmen der B&H-Gesamtausgabe heraus. (Ich glaube, eine Facsimile-Ausgabe von "Luonnotar" steht unmittelbar bevor.)
    Ich kam ja beim "Vier-letzte-Lieder"-Thread schon darauf zu sprechen: Luonnatar ist DER Gegenentwurf zum Umgang Singstimme-mit-Orchester. Oft steht die (mit zwei Oktaven Umfang geführte!) Stimme allein. Sie wird eben NICHT "eingebettet". Das Orchester umgibt sie, farbenreich, charakteristisch, lakonisch, originell - aber vergleichsweise kaum mit Instrumentaldopplungen des Gesangsparts. Die Tonsprache integriert in umwerfender Selbstverständlichkeit Tonal-Modales, Freitonales und sogar Bitonales (Schluss!).
    "Luonno-" entspricht im Finnischen unserem Wortteil "Natur-" ; "-tar" hängt dran, kann ich nicht exakt zuordnen.
    Zwei keine Richtigstellungen: Sibelius plante zwar seit den 1890er-Jahren immer wieder eine Musikalisierung des "Luonnotar"-Stoffs, ganz konkret 1906 - aber dieser Ansatz ging dann in "Pohjolan tyttär" op. 49 auf. Sodass wir mit Sicherheit sagen können: "Luonnotar" als "Tondichtung mit Sopran" entstand NICHT vor Sommer 1913. Es war ein Wunsch der Sopranistin Aino Ackté, dem Sibelius hier in knapper Zeit nachkam. Nach der UA revidierte er die Partitur im Herbst 1913. Und wie schon erwähnt, wurde sie zu Lebzeiten des Komponisten nicht gedruckt. Auch die 1955er-Aufnahme wurde wohl aus handgeschriebenem Material realisiert.
    Die andere minimale Richtigstellung: Zwar sind "Kullervo", "Lemminkäinen" (inklusive "Tuonelan joutsien" - also dem "Schwan von Tuonela"), "Pohjolan tyttär" alles STOFFE aus dem Kalevala-Epos, die Sibelius musikalisch umgesetzt hat - natürlich auch "Luonnotar"; nicht aber "Tapiola". Tapio ist zwar der Waldgott in der finnischen Mythologie, und die Nachsilbe "-la" meint einfach den Ort: da, wo der ist. Aber dieser letzte Orchester-Höhepunkt in Sibelius' Schaffen aus dem Jahr 1926 vertont keinen "Stoff". Sibelius ließ der Partitur einen deutschsprachigen, atmosphärischen Vierzeiler voranstellen. Somit war der letzte große "Stoff", den Sibelius musikalisch bearbeitet hat, "The tempest" von Shakespeare - seine umfangreichste, charakterlich weitgespannteste Bühnenmusik: "Stormen" op. 109 (1925).

    Also ich sehe das nicht eng - ob man ein Lied nun in der originalen Tonart beschreibt oder in einer transponierten Version. Der Wesen eines Liedes wird doch durch eine Ganztontransposition nicht entstellt. Außerdem war ICH unkonzentriert, indem ich "Es-Dur" geschrieben hab, wo Du doch ausdrücklich vom E-Dur-Rahmen und dem zugehörigen C-Dur-Mittelteil ausgegangen bist.
    Was wir beide bislang unerwähnt gelassen haben: wie sehr die belebten Bordun-Quinten im Bass die erste und dritte Strophe prägen. Beim späteren Reger sehr selten: so ein harmonisches Kontinuum, das durch alle Polyphonie hindurch Ruhe, Zusammenhang und organisches Weben stiftet.
    Im übrigen bitte ich Dich meine Beiträge wirklich als Ergänzung, nicht als (gar nicht angebrachte) "Korrektur" zu nehmen. Auch dann, wenn ich schlicht mal anderer Meinung sein sollte in Bezug auf ein bestimmtes Lied.
    Robert

    Lieber Helmut, in der Vorliebe für dieses Lied "Im April" sind wir uns offensichtlich einig. So möchte ich Deinen schönen Beitrag hierzu nur ein wenig ergänzen. Ja, die fast durchgehend daktylische Bewegung der linken Klavierhand prägt dieses original in D-Dur geschriebene Lied. (Du hast offensichtlich eine transponierte Ausgabe in Es-Dur vorliegen. Sämtliche Lieder op. 4 sind "für mittlere Singstimme" komponiert.) Das tänzerische Moment wird nicht nur durch die ganz anders angelegte Singstimmenfaktur relativiert - auch die Dynamik spielt hier eine wesentliche Rolle. Für Pianisten ist es eine echte Herausforderung, Regers bezaubernder und höchst sinnreicher Dynamik zu entsprechen. Die Bezeichnungen gehen nur von ppp bis p. Crescendo-Gabeln lassen den konkreten zu erreichenden Lautstärkegrad offen. Ich meine, Mezzoforte sollte nicht überschritten werden. Dann verströmt dieses Lied wahrlich "leisen Liebesodem". Zum Umfang der Singstimme: Bis Takt 32 (von 40!) spielt sich alles innert einer kleinen Sexte ab. Welcher Reichtum in dieser Reduktion! Erst dann, im Abgesang wird ein tieferes Register angesteuert. Regers SPÄTERE Harmonik ist eigentlich nur beim "Veilchenduft" (Takt 22 - Anfang 23) zu vernehmen... Dafür ist in der Mittelstrophe die Nähe zu Faurés Mittelteil des im selben Jahr (1891) komponierten Verlaine-Lieds "Mandoline" op. 58/1 verblüffend. - Übrigens gehört "Im April" zu DEN Liedern, die auch als Solo-Klavierstück bereits tragen...
    Noch zu "Gebet": Im Henle-Werkverzeichnis wird eine Briefstelle Regers zitiert, wo er schreibt, dass er dieses Lied "mit 17 Jahren" komponiert habe - also wohl 1890.

    Ja, der junge Max Reger - es ist glaub ich nicht ganz erwiesen, ob er das Lied schon mit 15, 16 oder doch erst mit 17, 18 Jahren komponiert hat, aber jung war er auf jeden Fall - reagiert sehr empfindsam mit einem "weltlichen Choral(vor)spiel" auf dieses "Gebet", bei welchem der Titel spielerisch mehr Religiöses verheißt als die Lektüre dann bereitstellt. Aber Hebbel hat viele wirklich dunkle Gedichte geschrieben, und dieses ragt als eines der genuin hellen aus seinem lyrischen Werk heraus. So verbraucht diese Vokabel in aller Kunstbetrachtung ist - ich finde es einfach: schön! Wie eben auch das Lied. (Beinah sticht mich der interne Tamino-Hafer, und ich setze noch "vor mir" dazu - sowas kriegt man nicht mehr aus dem Ohr, wie das "klassisch" in Nestroys "Einen Jux will er sich machen" ...)
    Und ich möchte auf Hans Pfitzners Lied op. 26 Nr. 1 hinweisen, 1916 und somit von einem 47jährigen komponiert, bald nach Vollendung des "Palestrina", auf dasselbe Hebbel-Gedicht. Pfitzners Achtel schreiten belebter denn Regers Viertel, auch die Harmonik ist üppiger, der Ambitus der Singstimme (meiner Erinnerung nach) weiter, die Führung derselben exzentrischer. Aber ich will gar nicht auf eine Wertung hinaus! - Persönlich hab ich Regers Version erst im Hebbel-Jahr 2013 kennengelernt, Pfitzners Lied viel, viel früher. Sie ERGÄNZEN sich m.E. wunderbar.

    Lieber Helmut Hofmann, weit davon entfernt, ein Reger-Spezialist zu sein (und noch weiter davon entfernt, Dir in der Repertoire-Auswahl dreinreden zu wollen), stelle ich hier einfach meine Favoriten aus dem wahrlich schwer zur Gänze aufzunehmenden Liedschaffen ein: Lieder, zu denen ich eine Beziehung entwickeln konnte. Wie Du ja schon beschrieben hast, meist sind die Dichter Regers Zeitgenossen. Op. 4/1&3&4, op. 14/1, 15/4, 75/18 weichen aber von dieser Reger-Regel ab...


    op. 4/1 Gebet
    op. 4/3 Winterahnung
    op. 4/4 Im April (!)
    op. 14/1 Nachts (Duett)
    op. 15/4 Traum
    op. 31/5 Mein Traum
    op. 35/4 Flieder
    op. 43/5 Wiegenlied (!)
    op. 48/6 Am Dorfsee
    op. 51/5 Mädchenlied (!)
    op. 51/6 Schmied Schmerz
    op. 62/10 Die Nixe
    op. 68/2 Unterwegs
    op. 70/11 Gegen Abend
    op. 75/11 Aeolsharfe
    op. 75/18 Einsamkeit
    op. 88/3 Flötenspielerin (!)
    op. 98/4 Es schläft ein stiller Garten
    op. 142/3 Maria am Rosenstrauch


    Beschäftigt hab ich mich im Lauf der Jahre mit vielleicht der vierfachen Menge des oben genannten Konvoluts; aber es überwog da - auch im Nachhinein - die Skepsis.
    All dies nur am Rande.
    Robert

    Bruchstücke einer Antwort. Über "abstoßende Harmonik" lässt sich schwer diskutieren. Ich kann nicht anders - mir drängt sich hier der Vergleich vom Gewürz bei den Speisen auf. Jede(r) verträgt eine jeweils andere Dosis. Jede(r) definiert "überwürzt" anders. Auch der Grad der "Schärfe" oder Milde ist ein beliebter Streitpunkt. - Versucht man sich dem Phänomen der "Harmonik" ohne "abstoßende" Fachsprache zu nähern, so gilt festzuhalten: Die "besondere" Akkordfolge kommt nur im Umfeld relativ "gewöhnlicher" Akkordverbindungen zur eindringlichen Geltung. Ohne dies polemisch aufladen zu wollen, der FRÜHE Max Reger wusste um dieses Phänomen noch sehr wohl. Aber schon sehr bald scheint dieser Komponist geradezu panische Angst vor vermeintlicher Langeweile im harmonischen Ablauf verspürt zu haben. Seine Werke werden dichter und dichter. "Besondere" Harmonieverbindungen drängen sich in derart kurzatmigen Abständen, dass sie sich ihrer eigentlichen Wirkung selbst permanent berauben. Ich zweifle nicht daran, dass Reger wusste, was er wollte; dass er tat, was er wollte. Aber er nahm in Kauf, dass ihm viele nun nicht mehr folgen wollten. Festzuhalten gilt, dass Reger auch heute noch "seine Gemeinde" hat - Hörer, für die eben DIESE Art der Harmonik eine Art anhaltender Extase bedeutet. - Ich rate immer, mal Ausschnitte aus dem Frühwerk zu hören, die Lieder op. 4, die Duo-Sonate op. 5, das Trio (für Violine, Viola und Klavier!) op. 2. Da ist etwas noch in Balance, wo der zweifelsohne genial begabte Komponist - im Bewusstsein, dass er als Kontrapunktiker und "Akkord-Arbeiter" kaum Konkurrenz zu fürchten braucht - später andere Schwerpunkte setzt. Da nun - im großen Gegensatz z. B. zu Bartók oder Strawinsky - sein Interesse an rhythmischer Vielfalt oder an Form-Prozessen viel schwächer ausgeprägt ist, haftet vielen seiner Kompositionen eine gewisse Einseitigkeit an. Damit steht er aber nicht allein. Donizetti und Bellini sind in ihrer Art auch einseitig, haben dennoch viele "Fans" - das ist doch auch gut so. Niemand muss sich entschuldigen für das, was er liebt oder womit er liebäugelt.
    Also, ich kann schon nachvollziehen, dass einen Regers Umgang mit der Harmonik "quälen" kann, meint, dass es einem ans Nervenkostüm geht - und da verträgt halt jeder unterschiedlich viel, vielleicht auch in unterschiedlichen Tages- oder Lebensphasen. Es ist letztlich eine Sache des Tempos. In Superzeitlupe könnte wahrscheinlich jede(r) Regers Windungen nachempfinden - aber der stellte sich ja seine Musik nicht im Permanent-Largo vor. Und schon ab mittleren Tempi passiert eben derart viel in dichtester Folge, dass einem beim Bewusst-Hören schwindlig wird. Und beim "Unbewusst-Hören"? Scheiden sich eben die Seelen und Geister. Welche wollen mit, können nicht genug der Gewürze und ihrer Mischungen kriegen. Und welche sehnen sich nach ... Quellwasser vielleicht.
    Themenabweichung - dieses "Reizwort" MUSS ich bemühen (und inhaltlich füllen). Lange vor Reger lebte und komponierte einer, den Reger wie keinen sonst verehrte. Der schrieb Anfang der 1740er-Jahre an einer "Aria mit dreißig Veränderungen", später "Goldberg-Variationen" genannt. Das nun ist sicher das Gegenteil von "einseitiger Musik". Zur Harmonik: Man höre direkt hintereinander Var. 24 - 25 - 26. Die mittlere hat SCHEINBAR viel mit Reger zu tun. Aber DA geht eben diese unendlich gelassene, verspielte WEITUNG der 24. Variation voraus. DA folgt dann der sagenhafte virtuose Wirbelsturm der 26. Variation. DANN ist jede noch so kühne Akkordverbindung in der 25. Variation ganz anders integriert. Herz und Hirn öffnen sich einer bis dato (bis auf Frescobaldi-Madrigale) unerhörten Harmonik. Und außerdem kennt diese 25. Variation bei aller Dichte eben doch auch die Weite, den großen Bogen. Mit letzteren Phänomenen hat unser Palindrom-Komponist aber immer wieder seine Müh'-und-Not...

    Lieber Lutgra, was die Texte zu op. 145 anbelangt, ist das im Netz nicht schwer: http://www.recmusic.org - zu Shostakovic gehen, zu op. 145. Du findest ALLE 11 Texte in original Italienisch und in Russisch, der Sprache der Vertonung; an den vielen blauen beigefügten Kästchen siehst Du den Bestand an (anklickbaren) Übersetzungen, also auch viele deutsche darunter. Besagtes Internet-Archiv ist DAS Füllhorn, DIE Fundgrube für solche und ähnliche Fragen wie Deine.

    Die "Fünf Skizzen" op. 114 (Klavier solo) sowie die insgesamt sieben Charakterstücke für Violine und Klavier, gesammelt in op. 115 und op. 116, allesamt 1929 entstanden, sowie das Orgelstück "Surusoitto" (= Trauergeläut) op. 111B (1931) sind ein Kosmos für sich und alles andere als unbedeutend. - Nach 1926 war Sibelius nicht untätig. Aber er kam mit der VIII. Symphonie nicht zu Rande, wurde immer skrupulöser, hat das umfangreiche Material hierzu schließlich in den 1940er-Jahren verbrannt. Oben erwähnter Miniatur-Kosmos erhält uns wenigstens die Ahnung einer Ahnung von der VIII. Symphonie. Wobei das imaginäre "Trauern" hier der erfüllten Dankbarkeit weichen könnte: In den beiden Einsätzern VII. Symphonie und "Tapiola" ist eben (auf komplementäre Art!) alles gesagt, was er zur Großform zu sagen hatte. Dahinter zurück wollte er auch nicht mehr. Also beließ er es (innerlich zwangsläufig) bei "offiziellem" Schweigen...

    Apropos "fixe Größe im Wiener Musikleben": Dazu wurde spätestens nach der UA seines Streichquartetts op. 8 durch das Hellmesberger-Quartett der ungarisch-österreichische Komponist Carl Goldmark, gestorben 1915. Der Erfolg seiner Oper "Die Königin von Saba" war legendär. Sein allerletztes Lied "Befreit" (nach Dehmel) steht ebenbürtig neben R. Strauss' berühmten op. 39/4 auf dieselbe Gedichtvorlage

    Am 28. Juni 1815 geboren: Robert Franz. Hat 279 Lieder für 1 Singstimme und Klavier geschrieben. Die wenigen unter den insgesamt 52 Opuszahlen, die nicht dieses Genre betreffen, verweisen auf Chormusik. Man muss sich halt durcharbeiten... Immer wieder wird man reich beschenkt. Aber bei 67 Liedern nach Heine, 51 nach Wilhelm Osterwald, 19 nach Lenau, 15 nach Robert Burns (in verschiedenen deutschen Übersetzungen), je 13 nach Eichendorff und Geibel, 9 nach Mörike, 8 nach Goethe, je 7 nach Rückert und Max Waldau, 6 nach Hoffmann von Fallersleben, 5 nach Chamisso - um nur die wichtigsten Dichter zu nennen - wird man oft überrascht: treffsichere Charakteristik, ein stets edel geformter Klaviersatz, in idealer Balance zwischen Klangfülle und Kontrapunkt. Nur auf Grund zu großer Selbstähnlichkeit, wenn es in Richtung Volkslied-Idiom geht, sollte man eben WÄHLEN. Es scheint mir nicht so günstig für den heutigen R.-Franz-Hörer, dessen Opera als Ganzes zu präsentieren, auch wenn es da Dichtergruppen gibt (op. 25, 34, 38, 39 nach Heine, op. 13 nach Max Waldau, op. 27 nach Mörike, op.33 nach Goethe). Die Auswahl, die ich für mich persönlich die letzten sechs Jahre über getroffen habe, hier einzustellen, würde den Rahmen sprengen, auch wenn es gut klingt: "77 aus 279". Alle obengenannten Dichter haben Franz zu Meister-Miniaturen oder eben zu Biedermeier-Kunst inspiriert. Manchmal schillert auch beides ineinander. Aber: die Geschmäcker sind verschieden. Jede(r) möge selbst auf Entdeckungsreise gehn. Fazit: Lied im 19. Jahrhundert ohne Robert Franz: undenkbar. Franz-Lieder in ungünstiger Auswahl präsentiert: folgenschwer, da es Vorurteile zementiert anstatt den Horizont zu weiten...

    Liebe Bachiania, verzeih dass ich auf Deinen Beitrag jetzt kaum eingehe. Wahr-nehmen tu ich ihn selbstverständlich. Aber ich bin noch zu sehr mit Holgers Ausführungen beschäftigt, muss diese erst mal (nicht "ab-", sondern) an-arbeiten... Gefällt mir sehr, dieses Statement in Frageform "Hört dieses Lied eher auf als dass es endet?" Auch das Zitat vom "mehrspurigen Hören" spricht mich sehr an. Mahler IX./Kopfsatz und die inadaequate Einengung "Sonatensatz" ist ein vortreffliches Beispiel für Analyse vom falschen Blickwinkel aus (also: WENN die "Analyse" da wirklich stehenbleibt...). - Andererseits kann Analyse manchmal wirklich klärend eingreifen, wenn bei einem musikalischen Kunstwerk zu sehr "um den heißen Brei herum" geschlichen wird. In anderem Kontext habe ich hier im Forum mal zur (wirklich einfach zu beschreibenden) Form von "Morgen!" (R. Strauss op. 27/4) etwas beigetragen, nicht um dem Lied seinen atmosphärischen Zauber streitig zu machen, sondern um einen weiteren Blickwinkel auf diese vielschichtige Lied zu fördern.


    Dann bin ich Holger noch einen Nachweis "schuldig". Also, ich konnte zwar kurzfristig nicht an die Erstfassung von Liszts "Pace non trovo" gelangen, jedoch sieht die Spätfassung (1883) keine Spur einer Text-Alternative vor; es heißt "Donna", wie selbstverständlich bei Petrarca - dessen 134. Canzoniere-Gedicht ich heute vor mir hatte - auch. Entweder kann sich der selige Fischer-Dieskau noch auf eine frühere Liszt-Fassung berufen, oder es wird sozusagen posthum "eng" für ihn... Das bleibt also noch ein bisschen offen.


    Bachianias Erwähnung von "Du bist die Ruh" lässt mich - unverbindlich - in Erwägung ziehen, wie das wäre: da es sich um ein überschaubares Gebiet handelt, um ein bei Schubert beglückend gelungenes, ob wir uns über Schuberts Rückert-Bestand unterhalten wollen? Drei Lieder aus op. 59, eines aus op. 20, eines aus op. 60, sowie das enigmatische (nachgelassene) "Die Wallfahrt" - allesamt EINER Schaffensperiode angehörig, unmittelbar bzw. bald nach Erscheinen von Rückerts "Östlichen Rosen" (Anfang 1822 ersch.) in Musik gesetzt. Rückert seinerseits reagiert ja mit seiner äußerst umfangreichen Gedichtsammlung u.a. auf Goethes "West-östlichen Divan", aus welchem Schubert 1821 einige Gedichte vertont hat.


    Beste Grüße, Robert

    Freut mich, lieber Holger, dass Dir Schuberts "Gebüsche" etwas geben können. - Wir entfernen uns halb rastlos vom Thread-Thema..., sei's drum. Ja, als ERSTES Schlegel-Lied seines Schaffens hat er gleich das LETZTE Gedicht aus "Abendröte" in Musik gesetzt. Und wie! - Danke, dass Du das ganze Gedicht hier eingestellt hast. Als der völlige Technik-Banause (als den ich mich ja immer wieder zwanglos oute) kann ich Deine liebenswürdigerweise eingestellten Hörbeispiele nicht wahrnehmen. Aber auch ohne Aufnahme bin ich mir eigentlich sicher, dass Du das Impromptu der ersten Vierer-Serie meinst (op. 90), Nr. 3 in Ges-Dur. Dem Querverweis stimme ich natürlich zu; acht Schöpfer-Jahre liegen dazwischen...


    Analyse/Semantik/Unmittelbarer Höreindruck - ein uferlos weites Feld. - Klar, der Stoff, an dem Bachiania und ich neulich gebastelt haben, hat's da schwer. Aber Form-Analyse hilft denk ich schon einer konzentrierteren, umfassenderen Wahrnehmung eines musikalischen Kunstwerks. Deshalb hab ich mir erlaubt, das, was es diesbezüglich zu "Gretchen am Spinnrade" zu sagen gibt, auch hier einzustellen. Form-Analyse schafft Ordnung. Wieviel man davon "verträgt", beim Hören, muss jeder für sich entscheiden. Ent-Zaubern will ich jedenfalls nicht, durch Form-Analyse. Auf dem semantischen Feld - zu welchem ich als Mensch natürlich Zugang habe - hält mich oft eine gewisse Scheu von der Verbalisierung ab, mit Brahms/Groth op. 105/1 zu sprechen: "Doch kommt das Wort und fasst es und führt es vor das Aug - wie Nebelgrau erblasst es und schwindet wie ein Hauch..."


    Was die verschiedenen Text-Varianten betrifft, gibt es verschiedene Herangehensweisen von Seiten der Interpreten. Ich persönlich würde immer unterscheiden zwischen Gedichtlesung und Lied. Wenn keine Musik dabei ist, gilt der Text des Autors bzw. eine der von diesem hinterlassenen Varianten. Geht es um ein Lied, würde ich bis auf ganz wenige Ausnahmen (offensichtliche Übertragungs-, kleine Grammatikfehler) stets die Version des Komponisten nehmen, auch und gerade wenn sie von der Gedichtvorlage abweicht. Bei Schuberts berühmten beiden Zyklen hat es sich folgendermaßen "eingebürgert".: Bei der "Müllerin" wird fast immer nach Wilhelm Müllers Version hin korrigiert, also Schuberts mutmaßlichen Eingriffe werden ignoriert bzw. "stillschweigend verbessert"; die Quellenlage ist aber auch ungünstig - bis auf "Eifersucht und Stolz" hat sich kein Autograph erhalten, und es ist nicht mal sicher, ob der rastlose Schubert die Erstausgabe überhaupt selber Korrektur gelesen hat. Bei der "Winterreise" werden Schuberts Eingriffe im Allgemeinen ernster genommen. Aber auch da gibt es immer wieder Interpreten, die auf Müllers Originalversion zurückgreifen. Ich meine halt, niemand sollte kurzsichtig "verbessern" wollen. Auseinandersetzung, Abwägen, Entscheiden, ja - nicht: "der Dichterrr hat doch geschrrrieben...!" - wie gesagt, im Lied sind wir nicht bei einer Lesung. Wenn Schubert - ich paraphrasiere aus dem Gedächtnis - in der Nr. 20 der "Winterreise" Müllers Reim "Straßen" ignoriert und "Wegen" daraus macht, mag das halb bewusst, halb unbewusst geschehen sein, aber bei einem Lied, das "Der Wegweiser" heißt, nehme ich "Weiser stehen an den Wegen" ernst, halte es für sinnvoll und "verbessere" nicht zu "Straßen" zurück. DAVON gäbe es in der Lied-Geschichte nun eine Unzahl von Beispielen. (Auch gibt es immer wieder Text-Varianten beim selben Lied desselben Komponisten in verschiedenen überlieferten Fassungen.)


    - - - Ganz woanders angesiedelt sind DARÜBER hinaus gehende Eigenmächtigkeiten von Interpreten. Die stehen eigentlich gar nicht "zur Diskussion", weil am Ende eines solchen Weges die totale Willkür steht.


    Zu Deinem konkreten Beispiel mit Petrarca/Liszt kann ich freilich gar nichts sagen. Die Materialien habe ich nicht hier bei mir. Dass die betreffende Dame "Laura" heißt, steht glaub außer Frage; soweit ich weiß, nennt Petrarca sie aber eher selten beim Namen, eher "umspielt" er diesen Namen mit ähnlich klingenden italienischen Worten wie z.B. "L'aura"... Von den "Canzoniere"-Gedichten gibt's glaub nicht mehrere überlieferte Versionen. Von Liszts Lied KÖNNTEN meiner Erinnerung nach mehrere Fassungen vorhanden sein. (Die gibt es bei vielen Liszt-Liedern.) So hab ich also versucht, mich an das Problem seriös 'ranzutasten - lösen kann ich es heute nicht.


    Jetzt ist die geplante Kurzantwort völlig ausgeufert... Es sind aber auch spannende Themen.


    "Auf die Nacht" ohne Spinnstub'n grüßt


    Robert

    Lieber Holger, danke für Deine wie immer anregenden und bedenkenswerten Querverweise! - Nun wiederum meinerseits ein paar Fortspinnungen.


    Jessye Normans "will" ist einfach eine kleine Eigenmächtigkeit, jedenfalls weder durch Goethe, noch durch Schuberts veröffentlichte Version gedeckt.


    Dann spannst Du den Bogen zu Friedrich Schlegel und Robert Schumann. Ich möchte nur ergänzen, dass dieses berühmte Motto über der C-Dur-Fantasie den Schlussteil (ich hoff, ich erinner' mich jetzt recht, aber das lässt sich wirklich schnell nachforschen, ob Schluss- oder Mittelteil...) des Gedichts "Die Gebüsche" aus Schlegels Gedichtzyklus "Abendröte" bildet. Und Schubert hat ja vieles aus diesem Zyklus vertont. (Eigentlich war er schon knapp davor, hier - über Jahre gestreckt - seinen ersten Liederzyklus zu verwirklichen, aber nach der letzten "Abendröte"-Vertonung, eben dem Titelgedicht selbst, 1823, gab er das Projekt auf - im Herbst desselben Jahres war es dann soweit: "Die schöne Müllerin"...) - Nebenbei: Nach den vier weit vorn liegenden "Spitzenreitern" Goethe, Mayrhofer, W. Müller, Schiller folgt entweder direkt oder sehr bald danach Schlegel als einer der Dichter, von welchen Schubert rund 20 Gedichte in Musik gesetzt hat. - Hast Du das unbeschreiblich schöne Lied "Die Gebüsche" D 646 (Januar 1819) mal gehört?


    Zu "Gretchen am Spinnrade", der lyrischen, der musikalischen Form. Klar, trotz ebenfalls Bewegungskontinuum im Klavier gibt es triftige Unterschiede, v.a. eben den ersten Höhepunkt bald nach der Mitte, mit Abriss und stockend wiederaufgenommener Bewegung. Und es gibt die Parallele, dass Schubert wiederum die Schlussstrophe Goethes beträchtlich ausbaut. Aber: nicht SO extrem - auch von der Gesamtproportion her - wie bei der "Rastlosen Liebe" (siehe die "Statistik" in meinem letzten diesbezüglichen Beitrag weiter oben). - Zur lyrischen Form: Da ist in all diesen sehr kurzen Versen eine Miniatur-Rondoform schon von Goethes Seite angelegt: Refrain - zwei Strophen - Refrain - drei Strophen - Refrain - zwei Strophen. Nun hängt Schubert - eigentlich fast "logisch" - den (zumindest halben) Refrain an die (wie schon erwähnt, ohnehin ausgebaute) Schlussstrophe an, stärkt somit nochmals die Miniatur-Rondoform. Außerdem erweitert er die drei Goethe-Refrains jeweils um ein eingefügtes "ich finde", was die seelische Unruhe noch verstärkt. Die musikalische Form wäre also annäherungsweise: A-B-A-C, dann der Riss, dann die wiederaufgenommene Bewegung, dann weiter A-D (mit Ausbau) -A (halb) und kurzes Auslaufen.


    Beste Grüße, Robert

    Zunächst möchte ich meiner Erleichterung Ausdruck verleihen, dass Eure Laune offensichtlich nicht ernsthaft getrübt wurde durch den geballten Analyse-Stoff in Beitrag Nr. 10 - jedenfalls habe ich sowohl Bachianias "Einstieg" wie auch die sich anschließenden launigen Plaudereien hernach genossen...


    Liebe Bachiania, ich will Dir antworten, so kurz wie möglich und so lang wie nötig. Zuerst: Gratulation zum "Näschen" mit der "Schöpfung"! Bin mir zwar sicher, der große Haydn liefert dieses Phänomen auch in anderen Werken, aber auf die werden wir "zufällig" immer wieder stoßen; bei der Instrumental-Einleitung zur "Schöpfung" hast Du jedenfalls einen Volltreffer gelandet. Hiermit verifiziere ich Dir - gemäß Order - das Erscheinen des "Doppeldominantseptnonakkordes mit kleiner Non bei tiefalterierter Quint im Bass" (so der korrekte funktionsharmonische Begriff) oder ""einfach"" ausgedrückt des "übermäßigen Quintsextakkords" (NICHT: Quartsextakkords...) in der zweiten Takthälfte von Takt 25, wie Du beschreibst kurz vor den Klarinetten-Sechzehnteltriolen. Sodann ist unser Magischer Akkord in der jeweils zweiten Takthälfte von Takt 37 und 38 gut herauszuhören.


    Wie Du richtig erahnst, bin ich computerhandhabemäßig im 19. Jahrhundert... zu verorten, muss also stets den umständlichen verbalen Weg wählen. (Vor zwei Jahren noch wäre jedoch eine Forumsteilnahme an sich jenseits aller gedanklichen Vorstellbarkeit gewesen...)


    Also: danke für die Verbildlichung der Kadenzen! Wichtig: im Bass MUSS "as" (nicht "gis") stehen, sonst ist das Notat sinn-los. Und im Tenor sollte "es" (nicht "dis") stehen - "dis" ist zwar einerseits sinnvoll (was das Hinstreben zu "e" anbelangt), aber für UNSEREN Ausgangspunkt, den von Dir korrekt wiedergegebenen Schubert-Akkord, sollte die Orthographie auch in der Transposition exakt dem Schubertschen Akkord-Aufbau entsprechen. Und in Schuberts Schreibweise lässt sich auch die Funktionsanalyse verifizieren: das große "D" steht ja für die DUR-Variante, also braucht die (große) Terz gar nicht näher bezeichnet werden. Die Dominantsept ist einfach die kleine (nur die große müsste extra bezeichnet werden)! So bleiben zu bezeichnen, per hochgestelltem Akzent: die kleine Non, vor allem aber die tiefalterierte Quint im Bass. Und, wie Du es ja getan hast, der fehlende Grundton muss mit dem durchgestrichenen Doppel-D erfasst werden.


    Zum Ineinanderschillern von subdominantischem und doppeldominantischem Aspekt: Ich meine, die beiden Kadenzen machen es gut sicht- und hörbar, der EINE veränderte Ton... Du müsstest nur bei der Kadenz mit dem Bass-F an das "S" eine hochgestellte "6" anfügen (sixte ajoutée); und bei der mit dem Bass-Fis unter das Doppel-D eine "3" (die Bass-Terz betreffend) setzen und oben eine "7" (für die Doppeldominantsept, die ja der Grundtonstufe entspricht) anfügen. - Unseren Schubert-Akkord subdominantisch zu hintergründen, ist eine grenzwertige Angelegenheit, meint: die funktionale Harmonie-Analyse stößt hier an ihre Grenzen - vom "Bauchgefühl" her halte ich die Empfindung des Ineinanderschillerns aufrecht. Wenn also..., muss man von Moll ausgehen, also vom kleinen "s": unter dieses die "3" (unbezeichnet, da ja: Moll), neben das "s" dann den Aufbau "1"-mit-Erhöhung (das sieht natürlich komisch aus...), darüber die "7" (unbezeichnet, da bereits klar repräsentiert) - das war's dann auch schon! (Denn die Quint ist in DIESER Sichtweise ganz unangetastet bereits vorhanden.)


    So, nun zurück zu schwedischen Schmankerln allerleirauher Art, und und und


    Beste Grüße, Robert

    Und nochmals kleine Ergänzungen zu Beitrag Nr. 10:


    Helmut Hofmann ging in Beitrag Nr. 3 schon darauf ein, aber ich möchte es nochmals zuspitzen: Es zeugt von äußerst eigenwilligem und selbstbewusstem Umgang mit einem Text des damals weitaus berühmtesten/anerkanntesten lebenden deutschsprachigen Lyrikers, wenn ein Komponist wie folgt proportioniert: Eine dreistrophige Vorlage wird geteilt in "zweieinhalb und halb" - der erste Teil davon (17 Verse) wird sozusagen regulär (unabhängig von der Hochoriginalität) vertont, nämlich fortlaufend und mit Strophentrennungen durch Kleinzwischenspiele; der zweite Teil (3 Verse) wird durch Wiederholung, hervorhebendes Insistieren derart "gestreckt", dass am Ende die 93 Zweivierteltakte sich so zueinander verhalten: 56 Takte für die ersten 17 Verse, 37 (!) Takte für die letzten 3 - so umfasst der Schlussteil mehr als ein Drittel des gesamten Liedes!


    Dann möchte ich ein paar Jahreszahlen zu oben erwähnten Werken nachtragen, um die musikgeschichtliche Einordnung ohne Nachschlagenmüssen zu ermöglichen:


    W. A. Mozart, Sonate KV 533/Kopfsatz: 1788


    L. v. Beethoven, V. Symphonie: v.a. 1807 - 08


    F. Schubert, Sonate D 664: 1819; Streichquartett D 810: 1824

    Kurzer Nachtrag: ich vergaß vorhin den Hinweis: Takt 15 auf 16 sowie Takt 17 auf 18 haben wir im Lied exemplarisch: Subdominante - Magischer Akkord - Tonika.


    Und nach allem vorhin Erwähnteen ist es natürlich KEIN Zuafall, dass bei Takt 77 bis 81 vorliegt: Tonika (Sextakkord) - Magischer Akkord - Tonika (Sextakkord) - Doppeldominante (Terzquartakkord) - Tonika (Quartsextakkord), dann kadenzierende Lösung.

    Erich Trunz ordnet in seiner Goethe-Gedicht-Ausgabe "Rastlose Liebe" den "Versen an Lida" bei, was auf Charlotte von Stein verweist, dem eminent prägenden Gegenüber Goethes für diese Jahre ab 1775.


    Immer wieder wird über das "unregelmäßige Versmaß" dieses Gedichts geschrieben. Ohne das Gegenteil behaupten zu wollen, bedarf dies einer Differenzierung. Sechs plus acht plus sechs Verse umfassen die drei Strophen. Die zentrale zweite ist weit überwiegend "regelmäßig" gebaut. Bis auf die beiden hinzugefügten Auftakte "Des" (4. Zeile) und "Von" (6. Zeile) handelt es sich Zeile für Zeile um den sogenannten "Adoneus", also die Schlussgruppe der sog. "Sapphischen Strophe", die Goethe natürlich als Bildungsquelle hochpräsent war, überhaupt, aber auch vermittels der damals berühmten Oden von Klopstock, welcher viel in anverwandelten antiken Versmaßen gedichtet hat, sowie das gegen Ende des 18. Jahrhunderts dann Hölderlin ausgiebig praktizierte. (Noch in seinem bereits im 19. Jahrhundert entstandenen, berühmten Gedicht "Hälfte des Lebens" tauchen auffällig viele selbständige "Adoneus"-Bildungen auf!) Sappho - weibliche Lyrik... Hier im Forum der interessante Ansatz "Warum so oft von Frauen gesungen?"... Schon der Titel: Taa-ta-ta Taa-ta: Rastlose Liebe..., ein Adoneus, und wie gesagt fast alles in der zweiten Strophe; die dritte Zeile KANN man anders betonen, und davon macht Schubert in seiner Vertonung exemplarisch Gebrauch. Also: Der Adoneus als festgefügte Verbindung von Daktylus und Trochäus. - Weiter zur Schlussstrophe: VIER Adoneen hintereinander, dann erst die Versmaß-Brechung, wenn man so will, zwei "abgeschnittene" Adoneen. - Weiter zur Anfangsstrophe: Gar kein Adoneus... Aber vier regelmäßige Verse "ta taa ta taa ta", dann zwei extreme Abweichungen.


    Zwei der oben erwähnten Adoneus-Rhythmen ÄNDERT Schubert! Er vertont "Wie soll ich FLIEH'N?" und "Wälderwärts ZIEH'N?" - Dem Lied verursacht das überhaupt keine Qualitätseinbuße. Aber wenn in einem Vorgänger-Beitrag zwischendurch zitiert wurde, Schubert habe hier "am Versmaß vorbeikomponiert", meinte dies vielleicht die Kaum-Berücksichtigung des so prägenden Adoneus.


    So wesentlich ich den Adoneus-Hinweis für das Gedicht finde, so wenig muss ein Komponist sich "drum scheren", der aus ganz anderer Quelle den kongenialen Vertonungsschlüssel gefunden hat. Bachiana hat das erschöpfend dargestellt, WIE SEHR diese Harmonik, die in ihrem "rastlosen" Auf-Suche-Sein" nur wenig musikgeschichtliche Vorgänger kennt, zum Liebes-Empfinden genau dieses Gedichts passt, ja umfassend mit ihm korrespondiert. Manche Beispiele von Beethoven, sicher auch von Carl Phlipp Emanuel Bach ließen sich anführen. Ich belasse es jetzt beim Verweis auf eine Musik denkbar gegensätzlichen Charakters, aber gleicher harmonischer Unruhe, nämlich dem Beginn von Mozarts sog. "Dissonanzen"-Streichquartett KV 465.


    Ich meine, mit DREI Goethe-Liedern vor allem revolutioniert Schubert innert eines Jahres das Klavierlied: im Herbst 1814 mit "Gretchen am Spinnrade", im Mai 1815 mit "Rastlose Liebe" und im Herbst 1815 mit "Erlkönig"; alle diese Lieder wird er dann viele Jahre später, im klaren Selbstbewusstsein ihrer Bedeutung, 1821 veröffentlichen.


    Bleibt der Hinweis auf ein bestimmtes harmonisches Phänomen, welches Bachiana zwischendurch erwähnt, nämlich die Akkord-Bildung e-g-ais auf der Basis C, und ihre Weiterführung zum E-Moll-Quartsextakkord (Takt 45 bis 48) bzw. ihr Folgen auf den E-Dur-Sextakkord in Takt 78. - Dazu sei eine kleine Hinführung gestattet. (Kopfschütteln, Sich-Ärgern, Lachen über nun anstehende musikwissenschaftliche Elfenbeintürmelei ist selbstverständlich "erlaubt", auch Abschalten...) - Dieses harmonische Phänomen hat etwas Magisches an sich, war aber zu Schuberts Zeit durchaus schon bekannt. Wieder traue ich es C. Ph. E. Bach, aber auch Haydn jederzeit zu, aber einfallen tun mir Beispiele von Mozart, Beethoven und Schubert selber. Das Magische an diesen Akkord-Verbindungen hängt damit zusammen, dass der Akkord C-e1-g1-ais1 KLINGT wie der ganz gewöhnliche Dominantseptakkord C-e1-g1-b1, aber sozusagen eine andere "Ladung" mitbekommen hat. - Gelöst nach Dur höre man Beethovens Fünfte, zweiter Satz, Takt 29 auf 30, den kann man nicht verpassen, weil es der erste (und plötzlich einbrechende) Fortissimo-Akkord ist. Auch Mozarts Klaviersonate KV 533, erster Satz, zeitigt dasselbe harmonische Phänomen T. 86 - 87. Auch Schuberts Sonate D 664, erster Satz, bald nach Durchführungsbeginn (Ende der lauten Passage), wobei dieses Beispiel in ein leeres E ausläuft. - Gelöst nach Moll höre man das Ende der Coda im ersten Satz des Streichquartetts D 810 ("Der Tod und das Mädchen"), T. 329 auf 330 bzw. 335 auf 336. Da erlebt man "unser" Phänomen exemplarisch. Und in der "Rastlosen Liebe" liegt Takt 50 auf 51 das identische Phänomen vor, nur eben transponiert nach Cis-Moll! - Zu späterer musikgeschichtlicher Zeit kamen Tschajkowskij und Sibelius teilweise manisch auf diese Harmonieverbindung zurück, ersterer v. a. in der nach Dur gelösten Version.


    Nun HAT die funktionale Harmonielehre Bezeichnungen für solche enharmonisch umgedeuteten Dominantseptakkorde entwickelt. Ob sie weiterhelfen, sei dahingestellt. Mal hat so ein "übermäßiger Quintsextakkord" (so heißt unser Phänomen "offiziell") einen DOMINANTISCHEN Hintergrund, mal - und das ist der Fall bei den entsprechenden Takten der "Rastlosen Liebe" - einen DOPPELDOMINANTISCHEN. - Jetzt kommt das, vor was ich von vorneherein Scheu hatte, es auszusprechen, weil es sich wahrscheinlich hochgradig Fachchinesisch bis lächerlich anhört: Doppeldominantisches und Subdominantisches schillern ineinander. Man versuche auf dem Klavier folgende Kadenz: c0-e1-g1-c2 zu f0-d1-a1-c2 zu g0-d1-g1-h1 zu c0-e1-g1-c2. Dann dieselbe Kadenz mit EINEM geänderten Ton: im zweiten Akkord fis0 statt f0. Dann hört man, denke ich, wie NAH sich ein subdominantisch hintergründeter und ein doppeldominantisch hintergründeter Akkord sein können, ja dass sie Stellvertreter füreinander sein können. Als letztes eine Modell-Kadenz MIT unserem magischen Akkord: c0-e1-g1-c2 zu AS-es1-fis1-c2 zu G-e1-g1-c2 zu G-d1-g1-h1 zu c0-e1-g1-c2.


    Abschließend in eigener Sache: Ich brauchte ein wenig, mich überhaupt zu Wort zu melden, weil ich zwar wusste, ich bin gemeint, mit dem "Liedexperten" in Anführungszeichen, aber ich weiß nicht, wie's um Eure Melde-Lust bestellt wäre, würdet Ihr zur Meldung mit einem Anführungszeichen-Etikett aufgefordert. - Um der Sache willen, sozusagen der rastlosen Liebe-zur-Sache willen hab ich meine diesbezügliche, vielleicht doch von manchem von Euch nachvollziehbare Empfindlichkeit aber hintangestellt.


    Schöne Grüße, Euer Robert Klaunenfeld

    Ich bin mir eigentlich sicher - oder vielleicht wünsche ich mir das nur? - , dass Rudi Stephans Musik gerade nächstes Jahr hochpräsent sein wird: ist er doch am 29. September 1915 mit nur 28 Jahren, kriegsbedingt, gestorben.


    Im Liedbereich müssten die Liedklassen zumindest der deutschsprachigen Musikhochschulen eigentlich dankbar zugreifen. Die reifen Lieder Stephans datieren allesamt von 1913 und 1914. Ein überschaubares Konvolut von 16 Stücken, immer im Grenzbereich der Tonalität angesiedelt, eindrucksvoll, und gar nicht so schwer einzustudieren. - Das Lied ist sicher nur ein Nebenstrang in Stephans Werk, das durch größer besetzte Werke und die Oper "Die ersten Menschen" geprägt wird. Aber dieser Nebenstrang lässt sich eben relativ unaufwändig realisieren.

    Bestens - die Liste füllt sich... Danke, lieber Willi, lieber portator!


    Vorige Nacht fiel mir noch ein, dass ich a) Hartmut Höll (bekannt geworden durch die Zusammenarbeit mit D. Fischer-Dieskau, aber bald danach auch eigenständig etabliert als Begleiter verschiedener SängerInnen), b) Irvin Gage (hat z.B. bei der verdienstvollen ersten Gesamteinspielung der Sibelius-Lieder - ich glaub in den 1980er-Jahren - mitgewirkt) vergessen habe.

    Ein Heimat-Empfinden - wenn es um Mozarts Quintette geht. Eher zufällig lernte ich sie früher kennen als seine Quartette.


    Ohne deswegen die anderen im gerinsten abwerten zu wollen, ist mir von jeher das C-Dur-Quintett besonders nah. Das strukturelle Spiel mit der Zahl "5" gleich zu Beginn des ersten Satzes - wo eben nicht nur die Besetzung von vier auf fünf Streicher erweitert wird, sondern auch die "normale" viertaktige Periode durch lauter fünftaktige "ersetzt" wird... Oder das Unendlichkeit atmende Duett zwischen erster Geige und erster Bratsche im langsamen Satz... Oder das Menuett mit dem "Siebenviertel-Auftakt"... Und und und

    Ein weites Feld... Um überhaupt mal einzusteigen, werfe ich ein paar Namen in den Ring - ohne mich jetzt für eine Rangfolge entscheiden zu wollen. Die Qualität des so begleitenden wie führenden wie textmitvollziehenden Lied-Klavierspiels bei den im folgenden Genannten ist aber verbürgtermaßen sehr hoch:


    Fritz Schwinghammer, Wolfram Rieger, Gerold Huber, Helmut Deutsch, Graham Johnson, Julius Drake, Joseph Breinl, Bengt Forsberg.


    Bestimmt fallen anderen Forumsteilnehmern sofort noch dreimal soviel Namen ein, und vielleicht beginnt ja ein anderer schon mal anhand "meiner" oder anderer Namen mit den Kurzbeschreibungen.

    Zum Wolf-Lied "Ständchen" sind hier ja schon viele wunderbare Äußerungen zu lesen. Mir fällt keine weitere ein. Aber zu Holgers Beitrag Nr. 43 möchte ich kurz schreiben. Der Querverweis zu Grieg hat mich verblüfft. Sofort zog ich die Gesamtausgabe der "Lyrischen Stücke" heraus. Tatsächlich bin ich an diesem fantastischen Stück "Klokkeklang" op. 54 Nr. 6 bislang vorbeigegangen. Ist mir jetzt völlig unbegreiflich. Es sticht ja in seiner Art, seiner Bauweise total heraus aus seinem Umfeld. - Ja, die offenen Quinten... (Auch Ligeti baut eine seiner berühmten Klavieretüden drauf auf, ich glaub "Cordes vibrantes" oder so ähnlich heißt sie, aus den 1980er-Jahren) - mal gehen sie, wie bei Wolf, von der Einstimmung der Mandoline aus, in unserem Fall wohl einer Tenor-Mandoline, in der Einstimmung G -D - A - E, angeregt vom Wort "Laute" im Text, aber auf das Klavier übertragen und mit Pedal gespielt, ist eben die Assoziation mit einem Glockengeläute auch nicht fern. - Bei Wolf ist es die Magie einer kurzen Einleitung. Bei Grieg ist es wirklich ein aus offenen (und zum Teil verwegen miteinander dissonierenden) Quinten gebautes ganzes Stück höchst eigenartigen Charakters. Die zeitliche Nähe der Kompositionsdaten sticht ins Auge. Hugo Wolf veröffentlichte die Eichendorff-Lieder glaub 1889, Grieg sein op. 54 sicher 1891. (Grieg schrieb ja - nebenbei erwähnt - viele, viele Lieder, die meisten auf norwegische und dänische Texte, aber durchaus so um die 15 bis 20 auf deutsche.) Dennoch glaube ich nicht, dass Grieg sich die Anregung von genau unserem Wolf-Lied holte. Ausschließen kann man's freilich nicht. Es bleibt Spekulation. - Und es bleibt mein Dank für diese schöne Anregung, ein für mich neues Werk kennenlernen zu dürfen, was ab heute sicher "immer dazugehören" wird.

    Auch ich kann diese beiden Bücher wärmstens empfehlen. Sie sind aus völlig unterschiedlicher Perspektive geschrieben, enthalten aber beide eine Fülle von eindringlichen Darstellungen. Tatsächlich könnten sie - falls man die Musik von Schostakowitsch nicht ohnehin schon liebt - öffnend wirken, auf jeden Fall Neugier, Anteilnahme weckend. (Nur mit K. Meyers nicht besonders substanzieller Kritik am großen, großen Zwetajewa-Zyklus op. 143 für Altstimme und Klavier (( herb, ja, beim ersten Hören vielleicht zum Teil einen etwas spröden Eindruck hinterlassend - aber das ÄNDERT sich, bei näherer Beschäftigung)), in des Komponisten Spätzeit entstanden, hadere ich ein bisschen - Meyer ist ja selbst zeitgenössischer Komponist, er müsste wissen, "wie's läuft"... Für die V. Symphonie muss er keine Werbung betreiben, die ist ohnehin populär; aber fürs Sperrigere, selten zu Hörende, sollte er sich "ins Zeug legen"... - Aber: das ist ein kleiner Nebenschauplatz. An sich liegt hier eine beinah mustergültige Biographie mit immensen Werkkenntnissen und ebensolcher Fähigkeit zur Darstellung vor. - Dafür stellt Volkov den Zusammenhang zwischen Puschkin/Zar Nikolaj und Schostakowitsch/Stalin gerade anhand von op. 143 brennend intensiv dar.)

    Nicht erwähnt wurden hier bislang Ernst Tochs Neun Lieder op. 41 aus dem Jahr 1926, so ziemlich sein einziger (aber gewichtiger) Beitrag zum Genre Klavierlied. Es finden sich als Textgrundlage u.a. frühe Rilke-Gedichte (bei welchen man vielleicht gar nicht auf diesen als Autor tippen würde), mehrmals Christian Morgenstern (der am 31. März vor 100 Jahren in Meran gestorben ist), auch Wilhelm Busch, und: Otto Julius Bierbaum ( von dem wir nächstes Jahr den 150. Geburtstag feiern können). Das Bierbaum-Gedicht (Nr. 3): "Die Straßburger Münster-Engelchen", stimmig und originell vertont. Aber gleich die Nr. 1, "Abend" (nach R.M. Rilke), schafft eine suggestive Verbindung von strengem Kontrapunkt und betörendem Stimmungszauber.

    Ja, ich kenne so manches Werk aus siener Feder. Und ich ich gebe Christoph Schlüren - nicht in der ideologischen Zuspitzung, dass da nur EINER wäre, aber - im sachlichen Sinne Recht. All diese Vorzüge weist m.E. die Musik von Anders Eliasson auf. Leider ist der CD-Markt nicht sehr ergiebig. Aber ich war kurz bei "jpc - Anders Eliasson", und da sind doch einige Hauptwerke vertreten, die helfen könnten, den ungewöhnlich hochrangigen Wikipedia-Artikel auch hörend zu verifizieren. Z. B. mit einem von Eliassons Haupt-Interpreten, dem Saxophonisten und Dirigenten John Edward Kelly. Also, unbedingt reinhören in die III. Symphonie, in die Streichersymphonie, das Hornkonzert, aber auch in die bereits beeindruckende I. Symphonie.


    Leider gibt es meines Wissens keine Aufnahme von "Pentagramm" (Klavier-Bläser-Quintett in der Mozart-Besetzung) und "Abendlicht" für Oboe und Klavier. Auch nicht von den vier auf deutsch vertonten Goethe-Liedern (1993), worunter "Gefunden" und "Wanderers Nachtlied" (Über allen Gipfeln) herausragende Beispiele für zeitgenössisches Lied bieten, das qualitativ völlig auf der Höhe der Tradition angesiedelt ist, weder anbiedernd avantgardistisch noch anbiedernd "neoromantisch" - einfach vom Text inspiriert an seiner eigenen Welt bauend.


    Anders Eliasson ist IMMER hörenswert. Aber: es muss nicht gleich beim ersten Mal "funken" - das tut's vielleicht bei J.S. Bachs "Musikalischem Opfer" auch nicht, und wirkt dann später um so nachhaltiger.


    Robert Klaunenfeld

    Lieber Don Gaiferos, die Fünfte ist "gut zu hören", klar - und diesen kompositorischen Überlebensspagat in allen Ehren, - und auch die berührende, meisterliche Zehnte in allen Ehren, aber heute, eben am 108. Geburtstag möchte ich doch noch ein bisschen mehr "riskieren" bei Empfehlungen. Nichtsdestotrotz sind es Herzblut-Empfehlungen, ungefähr ein Achtel dessen, was ich von Schostakowitsch meine, dass "man hören muss"...


    Bleiben wir doch bei der Zahl 108. Das VII., unerhört knapp gehaltene Streichquartett, das kürzeste, trägt diese Opuszahl. Hören! Und das radikalste ist das XIII. - Wenn es einen aber anspricht - und SPRECHEN tut es nun wahrlich! -, immer weiter mit Quartetten, mit dem hellsten (aber nie banalen) VI., dem extrem kontemplativ trauernden XV. - - -


    Dann "das letzte Wort", die Sonate für Viola und Klavier op. 147, in ihrem Finale mit der Evokation von Beethovens berühmten Eröffnungssatz der Sonata quasi una Fantasia op. 27/2...


    Schließlich die einzigartige XIV. Symphonie, für Sopran, Bass, Schlagzeug und Streichorchester. Es gibt viele Aufnahmen, überall sind die Texte übersetzt - also nicht vom Russisch-Gesang abschrecken lassen - die Wirkung ist ohnehin suggestiv.


    Aufnahmen zu den genannten Werken können Dir sicher die anderen Forumsmitglieder empfehlen.


    Dies also als Geburtstagsgruß meinerseits, Robert Klaunenfeld

    ROBERT UND GUISCARD, Vierter Abschnitt


    Schon schliefen Alle, Garten, Schloss und Lüfte,/Nur Guiscard und die Nachtigallen nicht,/Er stand am offnen Fenster, Fliederdüfte /Atmet' die Nacht herauf im Mondenlicht;/Da war's, als hört' er gehn - zu solcher Stunde /Schweift' oft Marie - er sang aus Herzensgrunde:


    "Über Wipfel und Saaten...


    ...Und schön war die Nacht."


    Das war Marie nicht! - Durch den Hauptgang schreiten /Sah er nur eine dunkele Gestalt,/Drauf um die blüh'nden Kaktushecken gleiten /Weithin den Schatten nach dem nahen Wald,/Doch eh' er sich verwundert noch besonnen,/War in der Nacht Laut und Gestalt zerronnen.


    Soweit..., Robert Klaunenfeld

    "Ein wunderbar leises Lied ist das" - so geht es mir auch, und ich will nur ein wenig Ergänzendes beitragen, dabei die Quadratur des Kreises vor mir: das "Unbestimmt-Schwebende" zutiefst zu bestätigen, und dennoch zur harmonisch-analytischen Klärung beizutragen.


    Ich würde H. Wolfs Verwirrspiel mit den Vorzeichen nicht "zu hoch hängen" - fast scheint's mit ganz leisem Augenzwinkern so notiert. Es ist ein Lied in D! Anfangs in offenem D; bezeichnenderweise laufen (inklusive Klaviervorspiel) vier von fünf Anfangsphrasen in die offene Quinte, gründend auf D, aus, eben weder nach D-Moll noch nach D-Dur.(Und wenn die dritte Phrase doch auf zartem D-Dur endet, ist doch die unmittelbar vorangehende Dominante offen, also terzlos gefasst.) Dann der einzige wirkliche "Riss" in der Harmonik, beim Textbeginn "wer mag sie erraten" bzw. "beim Rauschen der Haine" - der Vorzeichenwechsel suggeriert wieder das "Falsche". Die Musik taucht in die Fis-Dur-Sphäre ein. Wenn aber Fis-Dur definitiv erreicht ist: folgt magisch sofort D-Dur, noch in Sextakkordlage, die eigentliche Grundtonart. Von daher erklären sich nun G-Moll (mit wundersüß schmerzender großer Septim eingefärbt) und G-Dur (mit gleißender großer Septim angereichert) als kadenzbildende Phänomene, die "selbstverständlich" zur Dominante A7 führen und von dort weiter in die aufrauschende Grundtonart.


    Schon der allererste erklingende Ton ist ja das zweigestrichene D. Die Wendung gleich nach C-Moll könnte auch über das vorgezeichnete, jedoch imaginäre G-Moll erklärt werden, aber das führt nicht weiter. Eher ist es vergleichbar der berühmten, reizvollen Flamenco-Harmonik, wo - auf D bezogen - die Harmoniefolge D-Dur - C-Moll - D-Dur schlicht konstitutiv ist. (Aber bis zum Spanischen Liederbuch wird es noch ein gutes Jahr dauern, bei Hugo Wolf...) Das Klaviernachspiel lebt ganz vom Ausbau des Harmoniewechsels Mollsubdominante (G-Moll) und Grundtonart (D-Dur). Und als könne Wolf sich selbst kaum satthören an diesem zarten Schmerzakkord, lässt er noch vier Mal den "verschwiegen"-Akkord sprechen, eben jenes G-Moll mit großer Septim, welche dann jeweils in die mildere Sixte ajoutée weitergeführt wird, um schließlich in D-Dur gestillt zu werden.


    Zum Gedicht nichts Analytisches. Hugo Wolf fand DIESE Vorlage (wie auch die zu "Nachtzauber") sicher als Einzelgedicht in der 1864er-Ausgabe des Sohnes Hermann von Eichendorff. Interessant ist aber der ursprüngliche Kontext. Eichendorffs letzte lyrische Jahre werden ja völlig dominiert von den drei Versepen "Julian", "Robert und Guiscard" sowie "Lucius". Und aus dem vierten Abschnitt des mittleren Versepos werde ich in Kürze die das Gedicht "Über Wipfel und Saaten" umgebenden Zeilen hier einstellen.