Nach dem Beitrag von Thorsten habe ich die Kubelik- und die Bruno Walter-Aufnahme noch einmal gehört und gerade läuft zum Vergleich die Leinsdorf-Aufnahme (Boston 1962).
Als Beitrag zur Diskographie dieser Sinfonie:
Ich habe neben den genannten Aufnahmen
Bernstein mit NY-Ph 1966 und Bernstein mit Concertgebouw Orch 1987, Solti Chicago 1984, Mitropoulos 1940, Horenstein mit LSO und VSO 1958 und 1969, Barbirolli Halle 1957, Scherchen Wien 1955, Inbal aus der Gesamtaufnahme, Kondrashin mit NDR SO 1981, Chailly mit Concertgebouw Orch 1996.
Unter diesen ist IMO keine so weit herausgehoben, dass ich das weitere Vergleichshören zu dieser Sinfonie beenden könnte.
Ich habe Anfang der 70er Jahre begonnen mit der 1. Bernstein-Aufnahme, habe dann in den 80er meistens die Solti-Aufnahme gehört. Diese Aufnahme hat in der Expressivität, in der Deutlichkeit und in ihrer Eindringlichkeit Vorteile gegenüber den meisten anderen Aufnahmen. Das ist für das erste Hören dieser Sinfonie von Vorteil. Gerade das kehrt sich später dann aber zum Nachteil, weil die Details, die Widersprüchlichkeit und die Fragilität von vielen Stellen in den Hintergrund tritt. Sie ist vielleicht überdeutlich, überprägnant - trotzdem immer wieder schön anzuhören Ähnlich geht es mir übrigens mit der Aufnahme der 6. Mahler von Solti. In ihrem Ausdruck und der Heftigkeit kaum zu übertreffen, aber andere Aufnahme zeigen noch ganz andere Seiten dieser Sinfonie. Das fehlt etwas bei Solti, die möchte ich denn auch hören.
Und in dieser Hinsicht liegen die Stärken IMO in den Aufnahmen von Leinsdorf und nach erneutem Hören auch von Kubelik. Unter Mahler-Exegeten wird übrigens auch Mitropoulos sehr hoch gehandelt. klangtechnisch nicht mehr sehr gut, aber musikalisch.
Seit Jahren suche ich die Aufnahme von Mackerras, die nicht mehr lieferbar ist, aber vom Penguin-Guide weit nach oben gesetzt wurde. Vielleicht hat die jemand.
Soweit auf die Schnelle - muß jetzt los
Freundliche Grüße
Matthias
Nachtrag nach der Rückkehr vom Essen:
Die Gielenaufnahme der 1. Sinfonie habe ich bisher nicht erworben und gehört. Michael Gielen hat in seinem im Ganzen interessanten Buch "Mahler im Gespräch - die zehn Sinfonien" (Metzler Stuttgart 2002)aus der Sicht des Dirigenten sich eingehend zu den Sinfonien erklärt. Daraus ergibt sich leider, dass er gegen die 1. Sinfonie deutliche Vorbehalte hat, er hat sie auch als letzte für die Gesamtaufnahme eingespielt. Das hat mich bisher abgehalten, Gielen für die 1. Sinfonie näher in Betracht zu ziehen. Zu Tennstedt habe ich einige durchwachsene Kritiken gehört und bin ihm deshalb bei Mahler noch nicht nähergetreten. Ich schrecke auch eher vom Erwerb von Gesamtaufnahmen zurück. Solti habe ich ab 1985 nach und nach erworben (es gab damals noch keine Gesamtaufnahmen) und Bernstein DG mußte einfach sein.
Noch ein Wort zu den Anklängen in der 1. Sinfonie. Darauf hat Thorsten angespielt. Mahler greift Alltagsklänge auf. Aufgewachsen in Kalischt und Iglau an der Grenze zwischen Böhmen und Mähren sind Klänge böhmischer und jiddischer Musik und auch von Militärmusik in den Sinfonien enthalten (Iglau war Garnisonsstandort), in anderen Sinfonien auch bis zu einem Posthorn - andererseits z.B. aber auch Herdenglocken aus den Alpen. Mahlers Musik auf die böhmisch-mährischen Ursprünge zurückführen zu wollen, führt meines Erachtens in die Irre. Alltagsklänge kommen vor in jeder Hinsicht, auch besonders solche aus der Jugend. Das Entscheidende ist aber die Verarbeitung und Entwicklung sublimer sinfonischer Formen und Übergänge aus solchen einzelnen Klängen.
Uri Caine hat etwa versucht, auf seiner CD "Urlicht" (Winter & Winter 1997) den 3. Satz der 1. Sinfonie als allein jüdisch-böhmische Musik zu rekonstruieren. Sehr faszinierend, wenn man das das erste Mal hört (inzwischen mag ich es nicht mehr hören). Aber zugleich wird beim Hören des Originals deutlich, dass Mahler in seinen sinfonischen Formen meilenweit von dieser anderen musikalischen Welt entfernt ist. Es sind nicht viel mehr als Zitate und Fingerzeige. Ich vermag diese Musik Caines nicht mehr als einen wesentlichen Beitrag zu Mahler zu empfinden. Man muss das nicht gehört haben, wenn man sich für Mahler interessiert.
Und das zeigt für mich deutlich, dass es mit dem Rückführen auf die "Wurzeln" nicht getan ist. Das gilt vielleicht auch für viele andere Komponisten aus diesem geografischen Bereich. Aber bemerkenswert ist doch, wie nachhaltig die Klänge der Jugend und Herkunft fortgewirkt haben.
Bei Mahler gibt es aber eben auch viele andere "Anklänge" und Zitate, die dann zu entwickelteren Formen weiter verarbeitet werden. So beginnt der 4. ursprünglich als Todtenmarsch bezeichnete Satz mit dem auf die Note genau wiedergegebenen Lied "Bruder Martin, schläfst Du schon" (zu den Einzelheiten Floros, Gustav Mahler, die Sinfonien Band III, Seite 35 ff.). Das interessante ist nur, was daraus gestaltet wird. Das ist die musikalische Form, die wir in Gestalt der Sinfonie vor uns haben.
Und noch ein Wort zu Alfreds Erstbeitrag in dem thread. Eine Aufnahme mit dem Blumine-Satz habe ich gar nicht (vielleicht ein Mangel?). Mahler hat an seinen Sinfonien oft gestrichen und umgearbeitet, zumeist um die Instrumentierung zu ändern, nachdem er die Stücke bei Aufführungen gehört hatte. Ursprünglich handelte es sich bei dem Bluminesatz um Begleitmusik, die Mahler zu einem Versepos komponiert hatte und die er selbst für zu sentimental hielt. Warum er diese Musik überhaupt eingefügt hat, ist unklar. Er hat dann diesen serenadenartigen Satz wegen zu großer Ähnlichkeit mit den Tonarten der beiden benachbarten Sätze (er war als 2. Satz eingefügt) seit der Berliner Premiere der Sinfonie 1896 gestrichen. Die Erstausgabe der Sinfonie erschien 1899 ohne den Blumine-Satz. Ob die Wieder-Einfügung dann noch Sinn macht, ist die Frage.
Ich habe bis jetzt ganz gut ohne gelebt, muß aber auch gestehen, dass ich besonders den 3. und den 4. Satz der 1. Sinfonie mag. Und den Anfang des 1. Satzes, wenn dieser langsam und fast flirrend gespielt ist (da lassen sich einige Dirigenten etwas entgehen).
Soweit für heute:
Matthias