Beethoven: Streichquartett a-moll op.132
Trotz der höheren Opuszahl ist dies eigentlich das zweite der für den Fürsten Galitzin komponierten Quartette; es entstand vor dem B-Dur-Quartett (1825; Uraufführung 6.11.1825). In der Entstehensphase war anscheinend die kleine "danza tedesca", die später als 4. Satz von op. 130 endete, noch für dieses Werk vorgesehen. Ebenso gibt es eine vage Verbindung zur 9. Sinfonie: Zum einen findet sich in Plänen Beethovens für 2 neue Sinfonien, von denen dann später eine die 9. wurde, die Bemerkung "Sinfonie in den alten Tonarten". Hier könnte man einen Zusammenhang zum lydischen Choral im 3. Satz sehen. Zum anderen war angeblich das Thema des Finales dieses Quartetts für ein instrumentales Finale der 9. vorgesehen. (Recht schwer vorstellbar, ich weiß nicht genau, ob diese Idee vielleicht bis auf die Zeit zurückgeht, als noch 2 Sinfonien geplant waren.)
Das Werk hat als erstes Quartett Beethovens 5 Sätze, allerdings ist der 4. Satz nicht eigentlich als selbständiger Satz denkbar (ähnlich wie das Gewitter in der Pastorale). Diese "Brückenform" mit symmetrisch um einen zentralen Satz angeordneten Stücken findet sich später z.B. in Mahlers 5. und 7. Sinfonie und in Bartoks Quartetten 4 und 5. (Mit etwas Mühe paßt sie auch auf Beethovens op. 131)
1. Assai sostenuto (2/2) - Allegro (4/4) (a-moll)
Der Satz wird durch eine getragene Introduktion eingeleitet, in der ein "Viertonmotiv" eine zentrale Rolle innehat, das sich auch später immer wieder in langen Noten durch einzelne Stimmen zieht (die Durchführung beginnt z.B. damit pp), Sechzehntelläufe der 1. Geige leiten zum Allegro über und Cello und Geige stellen das markante Hauptmotiv vor. Die Sphäre des ersten Themas ist von einer gewissen Fahrigkeit geprägt, einzelne Adagio-Takte hemmen den Fluß, energische Aufschwünge fallen ins Leere, kleinräumige dynamische Kontraste prägen das Bild. Erst das liedhafte Seitenthema bringt eine Weile Ruhe ins Geschehen.
Der weitere Aufbau des Satzes ist recht ungewöhnlich; eine Art Sonatenform mit zwei "Reprisen" (nach W. Riezler: Beethoven, Zürich 1951), deren erste in der Dominante steht (e-moll statt a-moll und C-Dur statt vorher F-Dur im Seitenthema), statt einer Coda folgt nun eine weitere Rekapitulation, die das 2. Thema endlich in A-Dur bringt. Dann folgt noch eine dramatisch gesteigerte abschließende Coda.
2. Allegro (A-Dur 3/4)
Ein fast idyllisch-pastoral wirkendes, in mäßigem Tempo fließendes Scherzo; zwei zweitaktige Motive, eins in Vierteln aufsteigend, das andere in Achteln fallend, bestimmen den Satz; sie werden auf mannigfache Weise kombiniert und kontrastiert.
Im (nicht explizit so bezeichnete) Trio bringt zunächst die 1. Viol. allein eine ätherische Melodie in hoher Lage über einem liegenden Bordunton; es klingt wirklich fast wie eine Drehleier. Darauf folgt ein eher volkstümlich-ländlerähnliches Wechselspiel mit der Bratsche in das plötzlich, ähnlich wie im Scherzo in op.127 eine unwirsch-düstere Gebärde einbricht, anschließend kehrt noch einmal die ätherische Drehleier zurück, dann folgt das Dacapo des Scherzo-Hauptteils.
3. Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit, in der Lydischen Tonart (Molto adagio 4/4)- Neue Kraft fühlend (D-Dur, andante 3/8 )
Formal ist der Satz ein Doppelvariationssatz wie man ihn ähnlich von Haydn kennt, der Choral erhält zwei, das andante eine Variation, also etwa A B A' B' A'' (vgl. z.B. auch den 3. Satz der 9. Sinfonie; nur folgen dort auf die Wiederkehr des andante moderato in 3/4 noch zwei Variationen des A-Teils und eine Coda)
In Stimmung und Wirkung ist dies einer der überwältigendsten Sätze Beethovens. Der Choral wird zunächst in einem eher schlichten Satz vorgebracht, wegen des sehr langsamen Tempos scheint die Zeit stehenzubleiben, verstärkt durch die schwebend-mystische Wirkung der Kirchentonart ("F-Dur" mit h statt b). Der "Neue Kraft fühlend" Abschnitt bildet einen starken Kontrast, im forte einsetzend, helles D-Dur, fast tänzerische Bewegung mit spielerischen Trillern, Vorschlägen und fast hektischen Figurationen der 1.Violine in höchster Lage. In den Variationen wird das Choralthema dann polyphon durchgeführt: in der ersten Varation hat die 1. Violine den "cantus firmus", die drei weiteren Stimmen sind nun rhythmisch aufgelockert, teils kanonisch geführt, basieren in ihre Substanz aber auch auf dem ursprünglichen Choral.
Die Variation des andante-Abschnittes ist größtenteils figurativ, wobei die Bewegung gesteigert wird. Die 2. Variation des Chorals ("mit innigster Empfindung") verteilt den cantus firmus nun abwechselnd auf die Stimmen und bringt eine erneute Steigerung der Intensität in mehrfacher Hinsicht, rhythmisch, dynamisch, Erweiterung des "Raums" (die 1. Violine bewegt sich im 2. Teil häufig im viergestrichenen Bereich).
4. Alla marcia, assai vivace (A-Dur 4/4)
Dieser sehr knappe, fast banal wirkende Marsch bildet einen scharfen Kontrast zum Vorhergehenden. Man könnte es vielleicht so deuten, dass der Genesene nun vollends zurück im tatkräftigen, aber eben etwas gewöhnlichen Alltagsleben angelangt ist. Die Normalität hält jedoch nicht lange an: es schließt sich unmittelbar ein tremolobegleitetes Rezitativ der 1. Geige an, ein zunehmend angstvollerer Monolog, der nach wenigen Takten nahtlos ins Finale überleitet.
5. Allegro appassionato - Presto (a-moll 3/4)
Nach zwei Takten Begleitung setzt die 1. Vl. mit einer ungewöhnlich ausgedehnten nervös-leidenschaftlichen Melodie als Hauptthema ein. Ein knapper, mit Trillern versehener Seitengedanke kann die Stimmung nicht aufhellen.
Der Satz ist in Sonatenform gehalten, allerdings beginnt die Durchführung mit einer fast vollständigen Wiederholung des Hauptthemas in der Grundtonart, was man als Rondo-Element betrachten könnte.
In der eigentlichen Durchführung kommt es zu dissonanten und rhythmischen Klangballungen, durch heftige Synkopen verliert der Hörer das Gefühl für den vorher klar markierten 3/4-Takt; der Abschnitt erinnert tatsächlich an Bartoks Quartette. Sehr schön die Hinführung zur Reprise: in mehrfachem Ansatz versuchen sich die beiden Geigen abwechselnd am Beginn des Themas, man hat den Eindruck, sie müßten sich nach der aufreibenden Durchführung erst wieder fassen. In der Reprise ist alles etwas kondensiert, sehr bald wird das Tempo zum Presto gesteigert und der Celloliebhaber Galitzin kommt noch einmal zu seinem Recht: Das Cello stimmt in der höchsten Lage ekstatisch das Hauptthema des Satzes an, später von der 1. Geige unterstützt, es folgt der Wechsel nach A-Dur zur ausgelassenen Schlußsteigerung, in der sich alle Belastungen des 1. Satzes oder auch dieses Finales in freudige Energie und kraftvolle Bewegung aufzulösen scheinen.
Aufgrund der emotionalen Ausdruckskraft und der melodischen Zugänglichkeit halte ich diese Quartett für das vielleicht Eingängigste der späten Beethovenquartette. Zu Aufnahmen des Stücks werde ich mich vielleicht später noch äußern.
viele Grüße
JR