BWV 114: Ach, lieben Christen, seid getrost
Kantate zum 17. Sonntag nach Trinitatis (Leipzig, 1. Oktober 1724)
Lesungen:
Epistel: Eph. 4,1-6 (Ermahnung zur Einigkeit im Geist)
Evangelium: Luk. 14,1-11 (Heilung eines Wassersüchtigen am Sabbat, Mahnung zur Bescheidenheit)
Sieben Sätze, Aufführungsdauer: ca. 26 Minuten
Textdichter: unbekannt; inspiriert aber vom titelgebenden Choral
Choral (Nr. 1, 4 und 7): Johannes Gigas (1561)
Besetzung:
Soli: Sopran, Alt, Tenor, Bass; Coro: SATB; Traversflöte, Oboe I + II, Horn, Violino I/II, Viola, Continuo
1. Choral SATB, Oboe I + II, Horn, Streicher, Continuo
Ach, lieben Christen, seid getrost,
Wie tut ihr so verzagen!
Weil uns der Herr heimsuchen tut,
Lasst uns von Herzen sagen:
Die Straf’ wir wohl verdienet ha’n,
Solch’s muss bekennen jedermann,
Niemand darf sich auschließen.
2. Aria Tenor, Traversflöte, Continuo
Wo wird in diesem Jammertale
Vor meinen Geist die Zuflucht sein?
Allein zu Jesu Vaterhänden
Will ich mich in der Schwachheit wenden,
Sonst weiß ich weder aus noch ein.
3. Recitativo Bass, Continuo
O Sünder, trage mit Geduld,
Was du durch deine Schuld
Dir selber zugezogen!
Das Unrecht säufst du ja
Wie Wasser in dich ein,
Und diese Sünden-Wassersucht
Ist zum Verderben da
Und wird dir tödlich sein.
Der Hochmut aß vordem von der verbot’nen Frucht,
Gott gleich zu werden;
Wie oft erhebst du dich mit schwülstigen Gebärden,
Dass du erniedrigt werden musst.
Wohlan, bereite deine Brust,
Dass sie den Tod und Grab nicht scheut,
So kömmst du durch ein selig’ Sterben
Aus diesem sündlichen Verderben
Zur Unschuld und zur Herrlichkeit.
4. Choral Sopran, Continuo
Kein’ Frucht das Weizenkörnlein bringt,
Es fall’ denn in die Erden;
So muss auch unser ird’scher Leib
Zu Staub und Aschen werden,
Eh’ er kömmt zu der Herrlichkeit,
Die du, Herr Christ, uns hast bereit’
Durch deinen Gang zum Vater.
5. Aria Alt, Oboe I, Streicher, Continuo
Du machst, o Tod, mir nun nicht ferner bange,
Wenn ich durch dich die Freiheit nur erlange,
Es muss ja so einmal gestorben sein.
Mit Simeon will ich in Friede fahren,
Mein Heiland will mich in der Gruft bewahren
Und ruft mich einst zu sich verklärt und rein.
6. Recitativo Tenor, Continuo
Indes bedenke deine Seele
Und stelle sie dem Heiland dar;
Gib deinen Leib und deine Glieder
Gott, der sie dir gegeben, wieder.
Er sorgt und wacht,
Und so wird seiner Liebe Macht
Im Tod und Leben offenbar.
7. Choral SATB, Traversflöte, Oboe I + II, Horn, Streicher, Continuo
Wir wachen oder schlafen ein,
So sind wir doch des Herren;
Auf Christum wir getaufet sein,
Der kann dem Satan wehren.
Durch Adam auf uns kömmt der Tod,
Christus hilft uns aus aller Not.
Drum loben wir den Herren.
Der Text dieser Choralkantate bezieht sich auf die Episode der Heilung des Wassersüchtigen, die im heutigen Sonntagsevangelium (unter anderem) thematisiert wird. Der Bezug des Dichters auf die Zuhörer seiner Zeit erfolgt durch die nicht unoriginelle Umdeutung der Krankheit „Wassersucht“ auf den Sünder, der wie ein Schwamm die begangenen Missetaten in sich aufsaugt:
ZitatDas Unrecht säufst du ja
Wie Wasser in dich ein,
Und diese Sünden-Wassersucht
Ist zum Verderben da
Und wird dir tödlich sein.
Sehr schön – sehr plastisch – sehr barock!
Außerdem wird der Aspekt der Mahnung zu einem bescheidenen Dasein angesprochen (siehe die erwähnten “schwülstigen Gebärden“) – ein weiterer Bezug auf das Evangelium für den heutigen Sonntag.
Die einleitende Choralbearbeitung überträgt in der bei Bach am häufigsten vorkommenden Stimmverteilung die Choralmelodie auf den Sopran, der – auch das kommt häufig vor – von einem parallel geführten Horn verstärkt wird.
Bach muss – zumindest zeitweise (und vor allem anscheinend im Spätsommer/ Herbst 1724!)– einen virtuosen Flötisten zur Verfügung gehabt haben:
Die Arie Nr. 2 ist wieder einmal eine der bei Bach recht zahlreichen Tenor-Arien, in denen die Gesangsstimme raffiniert von einer Traversflöte umspielt wird. Ich denke da unter anderem an die bekannte Tenor-Arie “Frohe Hirten, eilt, ach eilet“ aus dem Weihnachts-Oratorium oder an Arien in anderen Kantaten wie z. B. in BWV 99 oder BWV 130.
Im Choral Nr. 4 singt nur der (Solo-?) Sopran die Choralmelodie, wobei er allein vom Continuo begeleitet wird.
Interessant ist in der Arie Nr. 5 der Hinweis auf Simeon, dessen Lobgesang (auf lateinisch als “Nunc dimittis“ bekannt und oft vertont) liturgisch ja zum Fest Mariae Reinigung am 2. Februar gehört.