Eine Sängerin, die mir in der "Tamino"-Galerie der berühmten Stimmen noch fehlt, ist Julia Varady.
Ich konnte Sie von 1973 als Donna Elvira bis 1996 als Aida in München erleben.
Sie war für mein Empfinden und das meiner Freunde einer der ganz seltenen Fälle, in denen eine Stimme in reiferen Jahren besser wurde, - was heißt "besser wurde"?, - zur absoluten Weltklassestimme wurde.
In den 70er-Jahren störten mich noch gelegentliche Höhenschärfen. Doch auf einmal waren die völlig verschwunden. Wir rätselten, ob es ihr Ehemann Dietrich Fischer-Dieskau war, der ihr den letzten stimmtechnischen Schliff verpasst hatte, - jedenfalls war sie nun das Ideal eines (lyrisch)-dramatischen italienischen Soprans schlechthin. Dazu war sie eine hinreißende Darstellerin, - die Callas-Fans mögen es mir verzeihen, - die Varady war eine Callas ohne Höhenschärfen. Ich hatte das Glück, sie als Troubadour-Leonore, Traviata, Elisabetta, Aida und Desdemona zu hören, - lauter ganz große Abende. Daneben war sie auch im deutschen Fach etwa eine hervorragende Senta, - wenngleich ich in dieser Rolle (1o Jahre früher) Ingrid Bjoner noch höher schätzte.
Die Rolle, mit der ich die Varady immer identifizieren werde und bei der ich immer an sie denken werde, war aber die Abigail. Was sie in dieser immens schweren Rolle an Innigkeit des pianos in der großen Arie und an strahlendem, jubelndem, mühelosem Höhenglanz in der folgenden Cabaletta auf die Bühne brachte, - das war einer der ganz großen Momente, die ich in der Oper erlebt habe.
Auf ihrer Solo-CD unter Fischer-Dieskau ist leider nur die Arie erhalten, - aber ich hüte als Kleinod eine Audiocassette von einem Wiener Konzert mit Bruson, Scandiuzzi und Malagnini, in dem sie auch die Chor-Cabaletta gesungen hat.
Der in seinem Urteil überaus harte Manuel Brug schreibt in seinem Lexikon "Die neuen Sängerstimmen", die Geschichte des Verdigesangs werde umgeschrieben werden müssen, wenn einmal die Aufführungsmitschnitte von Julia Varady veröffentlich seien. Ich kann ihm nur beipflichten.