Vor vier Jahren verstarb erst 56-jährig der Allrounder Herbert Wernicke mitten in der Arbeit zu einer szenischen Version von "Israel in Egypt" von Händel in Basel. Im Jahr 2000 hatte in Basel ein Abend von Wernicke mit sechs Kantaten von JSB unter dem Titel "Actus tragicus" Premiere, der auch überregional viel Beachtung fand.
Diese Produktion lässt Albrecht Puhlmann jetzt in Stuttgart wieder aufleben. Während ich 2000 noch bedauern musste, die Aufführung nicht sehen zu können, konnte ich das jetzt in Stuttgart nachholen.
Es ist ein düsterer und auch bedrückender Abend geworden, der mich sehr berührt hat. Man sieht auf der Bühne ganz nach vorne gerückt ein 4-stöckiges Wohnhaus (das auch ein wenig an Altarbilder erinnert, die eine Geschichte erzählen). Im Keller liegt eine Leiche - der tote Jesus. im Obergeschoss wird geboren, rechts unten liebt sich ein Liebespaar. Das Haus ist mit ganz vielen Individuen gefüllt - Menschen, die dort wohnen und andere, die mehr zufällig anwesend sind (der Postbote, ein Bettler, ein Blinder...). Die Menschen in dem Haus sind geradzu zwanghaft mit den immer wieder gleichen Betätigungen beschäftigt: eine Frau bügelt das immer gleiche Hemd, ein Mann schaut immer wieder auf die Uhr, ein anderer reisst Kalenderblätter ab, eine Familie ist beim Essen, eine andere feiert Weihnachten, ein Selbstmörder will sich aufhängen, eine Braut flieht und reisst sich im Treppenhaus das Brautkleid vom Leib, es gibt unglaublich viel zu sehen. Eine Person fällt aus dem Rahmen: ein weiblicher Tod fast ganz in schwarz (denn mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben). Es ist kein grausamer Tod, sondern einer, der auch zu trösten weiss (es gibt eine sehr intime Szene mit einem Kranken). Nur: die Menschen wollen ihn nicht sehen, nehmen ihn nicht ernst, so, als würde allein schon das Negieren des Todes seine Existenz ausschalten. Er ist eine Art trauriger Clown geworden (mit einer weissen Karnevalshalbmaske). Nur einmal, wenn der Tod die Trommel rührt (nach der Bass-Arie: "An irdische Schätze" aus BWV 26), erschrecken die Menschen - wenden sich aber sofort wieder ihren Alltäglichkeiten zu. Die Botschaft ist klar: womit auch immer wir uns beschäftigen, was uns wichtig oder weniger wichtig ist - dem letzten Besucher in unserem Leben entgehen wir nicht.
Am Ende ein kleiner Kunstgriff: nach dem Schlusschor aus "Actus tragicus" setzt noch einmal die Stelle "Es ist der alte Bund, Mensch, du musst sterben" ein, während sich das Wohnhaus leert. Die Stimmen der Sänger/innen verhallen, etwa, wie Geisterstimmen. Der Sopran tröstet nicht: "Ja, Jesu, komm" singt die Sängerin - aber auf der Bühne sieht man nicht den auferstandenen Sieger, sondern den toten Jesus. Mit dem "Mensch, Du musst sterben" im Ohr gehe ich in eine trüben, nassen Novemberabend hinaus.
Musikalisch ist der Abend den Gegebenheiten einer Musiktheater-Vorstellung angepasst - und nicht mit einer konzertanten Aufführung im Konzertsaal oder einer Kirche vergleichbar. Überzeugend das kleine Orchester unter der Leitung von Michael Hofstetter, beim Chor und den Solisten musste man deutliche Abstriche machen.
Trotzdem: eine tolle Gesamtleistung - ucd ich würde es gerne nochmal ansehen.