Ist die Sammelleidenschaft von uns Musikliebhabern nicht eigentlich eine komische Sache? Gut, wenn wir einen Interpreten besonders mögen, kaufen wir alles, was von ihm erscheint. Oder auch, wenn wir uns für einen Komponisten interessieren, dann wollen wir irgendwann das ganze Werk kennenlernen. Aber wozu müssen wir dasselbe Musikstück immer wieder anders hören wollen? Die Antwort, welche auf diese Frage gerne gegeben wird, lautet dann: Wir interessieren uns für die verschiedenen Interpretationen! Warum aber wollen und sollen wir uns mit so vielen verschiedenen Versionen ein und desselben Stücks, die uns da geboten werden, eigentlich beschäftigen? Lohnt das denn überhaupt? Und warum machen sich Liebhaber in einem Forum wie „Tamino“ die Mühe, eine Beethoven- oder Schubert-Sonate vorzustellen mit hundert verschiedenen Aufnahmen und mehr? Das Unternehmen spaltet offensichtlich die Musikfreunde. Während die eine Gruppe nicht genug davon bekommen kann, meint die andere, dies sei ja im Grunde unnötig, lenke vom Werk ab, indem man die Interpreten viel zu wichtig nähme. Und warum braucht man überhaupt den Vergleich, wenn man eine Aufnahme besitzt, die einem gut gefällt oder die man sogar für unerreichbar hält? Ist die Manie, immer neue Aufnahmen vom selben Stück hören zu wollen, nicht bloß ein Vertreiben von Langeweile, Abwechslung zu bekommen um jeden Preis?
Diese Frage könnten wir uns natürlich auch als Theater- und Opernbesucher stellen, warum so mancher von uns zum dreißigsten Mal die „Meistersinger“ erleben will und dafür viel Geld ausgibt für Fahrscheine und Hotels. Oder noch elementarer: Warum laufe ich zum hundertsten Male um den Aasee herum, wenn ich schon alles gesehen habe? Die Antwort könnte lauten, dass schöne Erlebnisse verblassen, wenn man sie nicht immer wieder auffrischt. Und dazu gehört auch, dass wir immer wieder etwas Neues erleben können, etwas Überraschendes, Unerwartetes. Das macht die Wiederholung des Erlebten um so schöner. Ein Maler malt dasselbe Motiv, weil er immer wieder andere Nuancen entdeckt. Interessant dabei ist, dass wir beim Hören einer neuen Interpretation zunächst eigentlich gerade nicht vergleichen. Wenn ich durch den verschneiten Wald laufe (heute ja ein eher seltenes Erlebnis wegen der Erderwärmung), denke ich nicht unbedingt daran, wie es dort im Sommer ist.
Ich glaube, dieser Aspekt ist durchaus wichtig festzuhalten. Nur wenn mir eine Interpretation nicht gefällt, muss ich ständig an meine Referenzeinspielung denken, wie man es doch besser machen könnte. Ist sie dagegen gelungen, überlasse ich mich ganz ihr selbst. Wenn ich dann allerdings vom selben Interpreten zwei unterschiedliche Aufnahmen bekomme – etwa einen Konzertmitschnitt und eine Studioaufnahme – dann vergleiche ich zwangsläufig. Dann sage ich: Auf beide Versionen möchte ich nicht verzichten. Es gibt andererseits auch die Sucht, immer Neues, immer andere „Sensationen“ erleben zu wollen. Gewiss! Dagegen wäre aber zu sagen: Die wiederholte Beschäftigung mit dem Selben – Dasselbe immer wieder anders erleben zu wollen – bedeutet doch eine Konzentration und Vertiefung. Das ist weit mehr als nur Sensationsgier. Warum? Ein Musikstück, das Kunstmusik ist und nicht so etwas wie ein Schlager, den man als denselben immer wieder pfeift, hört man nur dann gerne immer wieder, wenn man von ihm so gefesselt ist, dass man das Stück näher und immer besser kennenlernen möchte als bei der ersten, noch mehr oder weniger oberflächlichen und unverständigen Begegnung. Interpretationsvergleiche helfen einem so dazu, in das Stück tiefer einzudringen, seinen unerschöpflichen Reichtum an Möglichkeiten, es zu interpretieren, zu erfahren.
Dann kommen wir zu dem Punkt, dass wir wirklich verstehen wollen bei einer Interpretation: Warum kann man dieses oder jenes auch anders machen? Hat das Sinn? Was will uns dieses Kunstwerk eigentlich sagen? Was sind die geistigen Hintergründe? Dann machen wir einen ausdrücklichen Vergleich. Und man merkt schließlich: So höre ich das Werk bewusster, intensiver, mit noch mehr Freude, weil ich merke: Letztlich lerne ich mich selbst auch besser kennen, indem ich immer tiefer in die Geheimnisse eines Kunstwerks eindringe, meinen Erfahrungsschatz erweitere und die Welt auf einmal mit anderen Augen sehe. Der Fall der Ungarischen Rhapsodie Nr. 2 ist so einer, wo ich heute denke: Als ich immer nur die Horowitz-Aufnahme hörte und sie natürlich toll fand, habe ich nicht im geringsten verstanden, worum es in diesem Stück eigentlich geht. Und mehr noch: Heute gefällt mir das, was mir damals bei Horowitz so gefiel, auf einmal gar nicht mehr so richtig. Schuld daran sind meine Beschäftigungen mit dem Werk, wozu auch die Interpretationsvergleiche gehören, wodurch ich so viel mehr weiß, und denken muss: Was für eine faszinierende Welt ist das, von der Du lange nichts geahnt hast! Ich kann nun Bezüge herstellen zur Literatur, zur Philosophie, Zeitgeschichte, zu anderen Kompositionen von Liszt und anderen Komponisten, die sich mit derselben Idiomatik beschäftigen. Auch da entdecke ich also wieder Neues über dieses Einzelwerk weit hinaus, wovon ich früher nicht die Spur einer Ahnung hatte. Es ist natürlich nicht bei jeden Werk so, dass man so in die Tiefe gehen möchte. Da macht man dann auch keine ausgiebigen Interpretationsvergleiche. Das Interesse ist letztlich entscheidend, ob es geweckt oder nicht geweckt wird.
Ich glaube auch, dass die Antwort richtig ist, dass Interpretationsvergleiche der Geschmacksbildung dienen. Musik „richtig“ zu hören ist nicht etwas, was uns in die Wiege gelegt wird, man muss es lernen. Allerdings ist für die Phase des Kennenlernens wichtig, dass man mit einer exemplarischen sogenannten „Referenzaufnahme“ beginnt. Gerade wenn man noch über kein geübtes Urteilsvermögen verfügt, ist man einem Interpretationsvergleich mangels Maßstäben gar nicht gewachsen und braucht deshalb eine herausragende Aufnahme, die den Geschmack prägt. Deshalb empfehle ich Anfängern immer, mit den wirklich „großen“ Aufnahmen zu beginnen. Die Interpretationsvergleiche kommen dann später von selbst – viel später sogar, was die bewussten Vergleiche betrifft.
Liszts Ungarische Rhapsodie Nr. 2, mit der ich die Reihe mit Interpretationsvergleichen eröffne, sie hat jedenfalls mein Interesse geweckt – und ich hoffe, dieser Funke wird bei dem einen oder anderen Leser überspringen!
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