Die Magie des Fremden. Philosophische Gedanken zu Fatma Said: El Nour



  • „Ich bin in Kairo geboren und aufgewachsen und habe dort eine deutsche Schule besucht. Ich kenne mehrere Fälle von Deutschen, die zum Arbeiten nach Ägypten kamen und sich in Land und Leute verliebten – einige haben sogar dort geheiratet. Aber die meisten hatten nur befristete Verträge für ein paar Jahre bekommen und ich kann mich gut an die tränenreichen Abschiede erinnern. Zu Hugos Zeiten reisten viele Franzosen und andere Europäer in den Nahen Osten, denen die Kultur und das Klima so gut gefielen, dass sie sich dort niederließen. Obwohl sich „Adieu de l´hôtesse arabe“ mit dieser Thematik in einem Kontext befasst, mit dem ich nicht vertraut bin, kann ich doch die ungeheure Sehnsucht nachfühlen und erinnere mich an die besagten Lehrer aus Deutschland an unserer Schule, die sehr darunter litten, dass sie das Land verlassen mussten. Wir Ägypter legen Wert darauf, dass man sich bei uns wohl und integriert fühlt, und ich kann das im Text und in der Musik der Gastgeberin in diesem Lied spüren und hören: Was sie getan hätte, um ihren Geliebten zum Bleiben zu bewegen – am Anfang des Liedes versucht sie ihre Sorgen, ihn für immer zu verlieren, zu unterdrücken.“


    (Fatma Said – zu George Bizets Vertonung von „Adieu de l´hôtesse arabe“ von Victor Hugo)


    I. Das Fremde: Dialektik von Nähe und Ferne


    Fatma Saids Album fasziniert mich. Warum das so ist? Eigentlich bin ich so gar kein Freund von „Cross-Over“-Geschichten, wo sich hinter der großen Ambition doch nur das kommerzielle Interesse versteckt. In dieser Hinsicht finde ich das eher hochtrabende Motto des Klappentextes „Eine Offenbarung neuer Zusammenhänge“ eher weniger glücklich, weil es Erwartungen weckt, die einfach nicht eingelöst werden bei einer Programmzusammenstellung, die mehr etwas von einem Potpourri hat als dass es eine „große Idee“ dahinter verraten würde. All dies ist für mich aber nicht entscheidend, vielmehr dass es der Künstlerin Fatma Said gelungen ist, mit dieser sehr persönlichen Auswahl von Liedern wirklich glaubhaft zu sein, unbefangen und sehr natürlich ihre Individualität zu präsentieren, welche diejenige einer Migrantin ist, einer Künstlerin, die Grenzen zwischen den verschiedenen Kulturen überquert. Die Zusammenhänge, sie kann und sollte eigentlich jeder, der dieses Album nicht nur oberflächlich durchhört, selber herstellen, sofern er bereit ist, sich ernsthaft auseinanderzusetzen mit der Thematik von Migration und Fremdheit im Liedgut von der Romantik bis hin zu Moderne und in den verschiedenen Kulturen der Welt.


    Es lohnt finde ich, sich auf diese musikalische Entdeckungsreise einzulassen, nicht nur, weil hier die Sängerin Fatma Said Zeugnis von ihrem Können gibt, ihrer großen Einfühlsamkeit in verschiedenste Stile, ihrer interpretatorischen Intelligenz und der ungewöhnlichen Wandelbarkeit ihrer schönen Stimme. Als Auftakt wählt die Künstlerin gleich das Schwergewicht des Programms, das viel aussagt über unsere Ambivalenz im Umgang mit dem Fremden: Maurice Ravels Shéhérazade mit dem poetischen Text von Tristan Klingsor. Auf diesem Album erklingt es in einer originellen Transkription für Klavier, orientalische Flöte und Sopran – den anspruchsvollen Klavierpart übernimmt der ganz ausgezeichnete schottische Liedbegleiter Malcom Martineau, die Flöte, die Ney, spielt Buren Karadağ:


    Asien, Asien, Asien.

    Fernes, altes Wunderland in den Märchen der Ammen,

    wo die Fantasie schlummert wie eine Kaiserin

    in ihrem Wald voll der Geheimnisse.

    (…)

    Ich möchte Damaskus sehen und Persiens Städte

    mit den ätherischen Minaretten.


    Kaum eine andere Musik vermag uns wohl mehr in einen Traum und Rausch zu versetzen wie diese wunderbare Komposition von Maurice Ravel. So geht es auch mir. Nur wenn die verführerischen Töne der Zauberflöte, die uns in die luftigen Himmels-Höhen eines artifiziellen Paradieses entführen, verklungen sind, frage ich mich, auf dem Boden unserer Alltagsrealität wieder angekommen, dann doch: Kann Asien für uns heute überhaupt noch dieses Wunderland aus dem Märchen sein, wie es Tristan Klingsors Dichtung mit starken Bildern beschwört? Unsere Deutschen insbesondere sind Reise-Weltmeister, die es vor allem weit von zuhause wegzieht, je weiter, desto besser. Hat deshalb das, was in der Shéhérazade von Ravel und Klingsor nur ein Traumbild des Unerreichbaren ist, die Minarette im fernen Damaskus und in den Städten Persiens, seine Magie des Geheimnisvollen nicht längst verloren? Der Fern-Tourist von heute – in der Zeit vor Corona muss man inzwischen allerdings sagen – steigt in den Flieger und beäugt solche Gebetstürme aus der Nähe: sei es in Istanbul oder in Kairo, beim Fototermin an der Hagia Sofia oder nachdem ihn der Reisebus nach dem Ritt auf dem Kamelrücken bei den Pyramiden in die ägyptische Hauptstadt zurückgekarrt hat. Nur wenn es dann nach dem Rückflug um solche Minarette zuhause in Köln geht, also die Ausrufezeichen für den Glauben von Türken und Muslimen aus aller Welt, die sich bei uns niedergelassen und längst eingebürgert haben, nein, dann sind sie nichts für die Kamera und man will sie lieber gar nicht sehen! Eine Moschee bei uns in Deutschland wird besser gar nicht erst gebaut, oder wenn es leider nicht zu vermeiden ist, unauffällig hinterm Bahndamm versteckt. Man feilscht um Bauvorschriften, die Höhe gerade dieser so gar nicht körperlos ätherischen Turmbauten aus Stein und Beton. Natürlich dürfen sie, wie unsere Verfassung es will, überall sein – aber warum ausgerechnet gerade in unserer Nachbarschaft? Für so viel optische Aufdringlichkeit sollten sich ihre Erbauer eigentlich schämen! Nicht dass – um Gottes willen! – der Schatten von so einem Zeigefinger des Fremden auf das köllsch-katholische Wahrzeichen, den geliebten Dom, fällt!


    Kann man die Faszination für das Fremde in Literatur und Musik also wirklich so romantisch sehen als Ausdruck der Einheit von Kunst und Leben, wie uns Fatma Said das mit ihrer freilich sehr sympathischen Naivität einer offenbar beruflich erfolgreichen Grenzgängerin nahelegen möchte? Ist da nicht vielmehr Skepsis angebracht? Wo der Okzident für die Schritte über Grenzen von weltbekannten Filmstars, Popsternchen und Operndiven aus aller Welt geneigt ist, den roten Teppich auszurollen, zieht er die Landungsstege für anonym bleibende Flüchtlinge und Arbeitsmigranten aus dem Orient doch lieber ein. Migranten aus Damaskus oder Teheran, den Orten der Sehnsucht aus der Shéhérazade, die nunmal keine Popstars sind, sondern ganz normale Menschen wie Du und Ich, machen derzeit leider wieder die Erfahrung, unerwünscht zu sein. Ihre Sehnsüchte und Traumata, sie sind ja auch nicht die unsrigen. Haben etwa nur wir das Recht, vom Glück in der Ferne zu träumen, aber nicht der Rest der Welt? Europa schottet sich ab mit Zäunen, hat kaum Skrupel, Menschen im Mittelmeer ersaufen oder in unmenschlichen Flüchtlingslagern wie in Griechenland vor sich hinvegetieren und verbrennen zu lassen. Besitzstandwahrung, Projektionen von Ängsten aller Art machen den „Fremden“ zum Unerwünschten in der realen Erfahrung mit Migration. Doch wenn es fern von der Realität um den schönen Schein in Kunst, Kultur und Musik geht, dann sieht es freilich ganz anders aus – da ist das Fremde und Fremdartige „interessant“, ein geradezu magischer Anziehungspol. Wie kommt das? Woher dieser Widerspruch?


    Wenn ich wie gewöhnlich alljährlich nach Sofia fliege, sehe ich im Zentrum der Stadt die Synagoge, die Moschee und die christlich-orthodoxe Kirche in einträchtiger Nachbarschaft nebeneinanderstehen. Die bulgarische Kultur kennt traditionell weder Antisemitismus noch Islamophobie und folglich auch nicht die Neigung, den Islam einfach mit Islamismus und Terrorismus gleichzusetzen. In Bulgarien wird „Multi-Kulti“ seit Jahrhunderten praktiziert, doch selbst hier ist der Umgang mit dem Fremden sehr ambivalent – auch „Multi-Kulti“ schützt offenbar eine Gesellschaft nicht vor Xenophobie. Enerseits ist die bulgarisch-türkische Partei wie selbstverständlich Teil der Regierung, andererseits fehlt die Bereitschaft, die in weiten Teilen der Bevölkerung verhassten „Zigeuner“ (Roma) zu integrieren. Man wünscht sie sich über die offenen EU-Grenzen einfach weg. Sollen sie doch nach Deutschland wandern, dann wird man sie endlich los, ist die zynische Devise.


    II. Die „Winterreise“: Der Fremde als Gast


    Die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit im Umgang mit dem Fremden ist offenbar Kultur übergreifend, findet sich im Okzident wie im Orient – eine traurige Erkenntnis, die aber leider wahr ist angesichts von wieder erstarkenden chauvinistischen Nationalismen bei uns in Deutschland und außerhalb, von Polen über Ungarn bis hin zum fernen Indien. Es wäre nun allerdings verwunderlich, wenn sich die Problematik des Fremden nicht insbesondere auch in der Liedliteratur niedergeschlagen hätte. Und keineswegs nur als Neben- und Randthema. Wie lautet die erste Zeile der „Winterreise“, einem, wenn nicht gar dem einsamen Gipfel des deutschen Kunstlieds? Fremd bin ich eingezogen/ Fremd zieh´ ich wieder aus. Eigentlich unschwer erkennt man hier dasselbe Dilemma wieder, das Fatma Said bei ihren aus Deutschland kommenden Lehrern in Ägypten erlebt hat: eine Erfahrung von Fremdheit, in fernen Ländern bleiben zu wollen aber nicht zu können bzw. zu dürfen. Wenn wir das Beispiel nun ein wenig analysieren, kommt heraus: Die Figur des Fremden verkörpert exemplarisch der Migrant, welcher fern von seiner Heimat ein Wanderer ist und bleibt: Der Wanderer, wo er auch rastet, bleibt stets nur ein Gast. Doch wie erfährt und erlebt der Gast seine Fremdheit? Die Antwort lautet: genau dann, wenn er nicht wie normale Gäste – Freunde, Kollegen, Verwandte – kommt und wieder geht, sondern bleiben will und dann erfahren muss, dass er nicht bleiben kann.


    Gäste, die lange und zu lange bleiben wollen, werden unerwünscht, weil Dauergäste eigentlich keine Gäste mehr sind, sondern zu Mitgliedern der Gemeinschaft werden. Hier liegt die Quelle von Fremdenfeindlichkeit, von Ab- und Ausgrenzung, den Anderen mit seiner Andersartigkeit zu einem Ausgeschlossenen und damit eigentlich erst Fremden zu machen, indem man ihm die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft verwehrt: Der Fremde, er ist für die Fremdenfeindlichkeit der Gast, der nie wirklich zu uns gehören kann und dies auch nicht darf. Doch auch vom Anderen her ist dieser Gast-Status ein alles Andere als unproblematisches Verhältnis. Die aufnahmebereite Gemeinschaft, die dem Fremden schließlich das Bleiben gestattet, fordert ihm die Integrationsbereitschaft ab. Man sollte auch hier auf die „Winterreise“ hören, die dies als ein schmerzlichen Dilemma enthüllt: „Das Mädchen sprach von Liebe,/ Die Mutter gar von Eh', “ – warum nur, wenn der Fremde doch eigentlich bleiben will, nimmt er dieses Angebot nicht einfach an? Mit der Verwandlung der Liebe in die Institution der Ehe verlangt die Gemeinschaft, dass der Fremde seinen Gast-Status und damit seine Andersheit aufgibt, indem er zum Mitglied der Familie wird. Dies jedoch kann und will der Fremde aber letztlich gar nicht wollen: „Die Liebe liebt das Wandern/ Gott hat sie so gemacht. Von einem zu dem andern/ Gott hat sie so gemacht.“ Diese Auskunft der „Winterreise“ ist vieldeutig, aber sie zeigt das Dilemma der Integration, die genau dann scheitert, wenn sie als eine Verpflichtung zur Assimilation missverstanden wird, wo der Andere die Eintrittskarte für den Eintritt in die fremde Welt nur dann lösen kann, wenn er den hohen – und für ihn zu hohen – Preis der Preisgabe seiner Identität und Andersheit bezahlt. Genau das scheint uns die „Winterreise“ sagen zu wollen: Der Fremde als Gast, er will einerseits bleiben, doch kann er andererseits seinen Gast-Status eines Fremden nicht aufgeben, um er selbst zu bleiben. Damit aber ist sein Schicksal besiegelt: Er lebt immer im Zeichen des Abschieds, eines Trennungsschmerzes, der irgendwann einmal kommen muss.


    III. Das Fremde und die Schaulust am Verbotenen


    Wenn die Begegnung mit dem Fremden somit im Zeichen des Abschieds steht, angesichts des Unmöglichen, in der Fremde wirklich heimisch werden zu können, woher kommt dann die Lust an der Fremdheit, die Magie des Fremden? Arthur Justin Léon Leclère, der sich den Künstlernamen Tristan Klingsor gab, berauscht sich an Bildern vom Orient, die er den Märchen aus Tausendundeiner Nacht entnimmt. Und Maurice Ravel hat diesen Traum und Rausch mit den Mitteln impressionistischer Musik geradezu unwiderstehlich gemacht. Was ist hier die Erfahrung von Fremdheit? Die Antwort lautet: Sie entspringt als eine ästhetische Erfahrung so gar nicht „realer“ Lebenserfahrung, ist vielmehr ein Blick in die Ferne, gerichtet auf ein unerreichbar Fernliegendes, nahe gebracht allein durch die literarische Fiktion. Das Fremde, es ist hier so verführerisch, gerade weil es nicht wie in der Wirklichkeit durch Migrationsbewegungen bedrohlich nahe kommt, vielmehr als eine Art Luftspiegelung freier Fantasie, eine Fata Morgana der reinen Vorstellung, am fernen Horizont gleichsam kleben bleibt. Es ist das Bild des Orients, das den Dichter und Komponisten berauscht, nicht der Orient selbst als wirkliche Lebensrealität.


    Kann man das nun eine wirkliche Begegnung und ernsthafte Auseinandersetzung mit einer fremden Kultur nennen? Es scheint doch so zu sein, dass dieses Traumbild vom Orient für den Okzident nur ein Spiegelbild unserer eigenen Wünsche und Sehnsüchte ist. Begegnen wir in dieser Fremde also nur uns selbst, d.h. gar nicht wirklich dem Anderen? Ist diese Ästhetisierung des Fremden in Wahrheit nicht nur eine narzistische Selbstverliebtheit des Europäers, sich selber in das Fremde hineinzudeuten, statt sich selber zu vergessen in einem Denken und Fühlen wirklich vom Anderen her? Wo ist in dieser Illusion die Erweiterung des eigenen Erfahrungskreises, das Überschreiten der Grenzen des Nur-Eigenen? Es ist sicher richtig: Die Magie des Fremden ist nicht die einer anderen Realität, sondern das Verführerische einer sehr selbstischen Fiktion. Aber andererseits ist auch diese Ästhetisierung des Fremden ein Weg in eine tatsächliche Fremde, demnach eine Form der Selbstüberschreitung: Im Spiegel der anderen Welt, im Licht des Orients, begegnen wir okzidentalen Menschen schließlich unserer eigenen Fremdheit, dem Fremden, das in uns allen steckt - als das Verdrängte, Verbotene, als die Möglichkeiten, die wir in unserer Kultur und in den Sperrzäunen unserer „Moral“ nicht ausleben können und dürfen:


    „Ich möchte Samtroben sehen/

    und Gewänder mit langen Fransen.

    Ich möchte Pfeifen sehen im Munde weißbärtiger Männer,

    Händler, die mit undurchdringlichem Blick zäh feilschen,

    und Kadis und Wesire, die mit einem Senken des Daumens

    nach Belieben über Leben und Tod entscheiden“


    Das Lied nimmt seine dramatische Wende, wo das schöne Bild ins Hässliche kippt, zur Lust am Schauen eines Bösen und Ungeheuerlichen wird. Hier darf man dann doch einmal fragen: Ist es nicht pure Naivität, ein solches Lied gerade heute zu singen, nur weil es ein schönes Lied ist und unsere Sinne berauscht? Klingsors poetisches Bild zeichnet zwar nur das Erschreckende nach, die Geste des Wahns allmächtiger Willkür (was in Ravels musikalischer Umsetzung zu einem hochdramatischen Aufruhr in Tönen wird), und verbirgt uns dabei das Blut der Hinrichtung – anderenfalls wäre dieses Ungeheuerlich-Hässliche nicht mehr ästhetisch, sondern abscheulich. Es ist allerdings nur noch ein kleiner Schritt, der dahin führt, dass sich sensationslüsternde Schaulust ganz prosaisch an der Hinrichtungsszene selbst befriedigt und uns damit eine solche Ästhetik des Hässlichen verleidet. Können wir überhaupt noch frei und unbefangen den Exotismus der Shéhérazade genießen, ohne dass uns die Bilder überfallen, welche weltweit im Internet kursieren – jene apokalyptischen Abscheulichkeiten von Videos, wo blutrünstige IS-Terroristen die Köpfe rollen lassen? In dem Moment, wo das symbolistische Spiel kunstvoller Andeutung zum nackten Realismus wird, zur fotographischen Abbildung eines Tatsächlichen, kippt die Faszination für das Fremdartig-Ungeheuerliche in Horror und blankes Entsetzen um. Was die Ästhetik des Fremden damit aber verliert, ist Gastfreundlichkeit. Wenn die Angst und nicht mehr die Lust und Neugier den Umgang mit dem Fremden bestimmt, dann schlägt man fremden Menschen, die um Einlass bitten, die Tür lieber vor der Nase zu, als dass man sie gastfreundlich ins Haus nimmt.


    Wir können aber auch ganz anders an einen solchen Liedtext herangehen, indem wir realisieren, dass die Schaulust am Ungeheuerlichen nicht etwas ist, dem wir nur in einer fremden Kultur und Religion begegnen, sie vielmehr, was wir nur allzu gerne verdrängen, zu uns selbst gehört. Es empfiehlt sich erst einmal nicht, mit dem moralischen Zeigefinger auf den Islam zu zeigen. Historisch sind die Widerwärtigkeiten des sogenannten „islamischen Staates“ nur die Imitation von Praktiken im Umgang mit fremden Welten, die ihm christliche, weiße Europäer längst vorgemacht haben, wie es bei Bartolomé de Las Casas nachzulesen ist: „Nun sagt der Obriste dem Teufel: Schickt mir hundert Indianer her! Sogleich kommen sie wie geduldige Schafe herbei. Wenn sie alle beisammen sind, lässt er dreißig oder vierzig von ihnen die Köpfe abschlagen, und sagt zu den andern: so werde ichs auch mit euch machen, sofern ihr mich nicht gut bedient, oder euch ohne meine Erlaubnis entfernt.“


    Und warum waren einst Hinrichtungen in Deutschland und überall in Europa ein öffentliches Fest und Sonntagsereignis, wo sich das Volk wie zum Kirchgang herausputzte, um zu begaffen, wie sich die Schlinge um den Hals des armen Sünders zuzog? Warum müssen Schaulustige von Verkehrsunfällen mit Verletzten und Toten erst mit Strafandrohung daran gehindert werden, den Autoverkehr zum Erliegen zu bringen, nur um ihre Handy-Kamera zu zücken? Hinter solch oberflächlicher Sensationsgier verbirgt sich ein tieferes metaphysisches Bedürfnis, wie es uns schließlich der Mythos und die dichterische Fiktion enthüllen. Die griechischen Götter hatten einst das Vorrecht, dem Spiel des Menschen mit seinem Schicksal, dem er mutig trotzt, um ihm im unausweichlichen Tod schließlich zu unterliegen, lustvoll zuzuschauen. Drückt sich da nicht der geheime Wunsch von uns Sterblichen aus, der Traum davon, ein Unsterblicher zu sein, erhaben über Leid und Tod? Es ist der Wunsch eines jeden Knechtes, einmal im Leben den Herrn zu spielen, sagte einst Jean-Paul Sartre. Es ist nicht zuletzt die Selbstherrlichkeit einer herrischen Moral, die überall die Sperrzäune des Verbotenen errichtet, die uns einerseits schützen aber auch eingezwängen, so dass wir uns so unfrei fühlen wie ein Sklave oder Knecht. Das ästhetische Erleben, es tröstet uns nun damit, den Herrn über die Moral zwar nicht im wirklichen Leben, aber wenigstens in der freien Fantasie zu spielen, entführt uns wie es bei Tristan Klingsor geschieht in ein orientalisches Märchenreich „Jenseits von Gut und Böse“. Indem sich das Subjekt in eine solche fremde Traumwelt hineinträumt, suspendiert es das Ethische, begibt sich in einen Bereich ohne die janusköpfige, schützende und zugleich knechtende Moral. Was es dabei erfährt ist die Magie eines Gefühls grenzenloser Freiheit, welche ihm die reale Welt niemals bieten kann. Doch ist es gerade die Magie des Fremden, welche verhindert, dass ein solcher Wunschtraum ins Inhumane und Zynisch-Abscheuliche pervertiert. In der Traumwelt von Tristan Klingsor und Maurice Ravel sind wir letztlich nur Gäste – bleiben uns als Gäste damit selber fremd im Erleben der Tiefen und Abgründe in uns selbst: Das ästhetische Erleben projiziert sich in die Ferne und Fremde, so dass das ästhetische Subjekt dem moralischen Subjekt letztlich fern bleibt. Moral und Ästhetik vermischen sich deshalb nicht. In der Traumwelt, wo alles möglich ist, sind wir zugleich wir selbst und nicht wir selbst – mit dem Erwachen aus diesem Traum verfliegt auch die Faszination für das Böse als Ausdruck grenzenloser Freiheit. „Ach wie schön, dass Niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß!“ Die Märchen-Wahrheit ist: Sobald man die Dämonie beim Namen nennt, verliert sie ihre Macht. Das Ausleben gerade auch der destruktiven Seelen-Kräfte in der Welt des schönen Scheins macht uns somit von ihnen frei, verhindert, dass sie uns in der wirklichen Welt untergründig und unerkannt beherrschen und bestimmen.


    (Ende Teil I)

  • (Teil II)


    IV. Fiktionalisierungen: Das Fremde als das abgewiesene Eigene


    Deine Augen, unbekannter Jüngling,

    sind sanft wie Mädchenaugen.

    Die geschwungene Linie deines Munds

    mit dem schattigen Flaum

    ist noch verführerischer.

    Deine Lippe singt auf der Straße vor meiner Tür

    in zauberhaft-unbekannter Sprache

    ein falsch gestimmtes Lied.


    Tritt ein! Möge mein Wein dich erquicken.

    Aber nein. Du gehst vorbei

    und entfernst dich.


    Zum letzten mal sehe ich deine anmutigen Bewegungen,

    die leicht geschwungene Hüfte

    deines lässig-femininen Gangs.


    (Shéhérazade: „Der Gleichgültige“ (L´indifférent))


    Homosexualität gehört die Kulturen übergreifend zu den großen Tabus, welche die gesellschaftliche Moral aufgerichtet hat bis hin zur Strafandrohung und Strafverfolgung. Höchst kunstvoll, wie die Shéhérazade hier im Spiel mit dem Fremden dem offenen Tabubruch aus dem Weg geht, das Verbotene schamhaft verboten sein lässt, um zugleich unverhohlen das Verführerische zu evozieren: Das Objekt des Begehrens, der schöne Jüngling, ist ein möglicher Gast, den jedoch die Einladung zu dionysischer Orgiastik scheinbar nicht erreicht: Dem erotischen Verlangen begegnet der Fremde mit abweisender Gleichgültigkeit. Das Begehren bleibt so auch in der dichterischen Fiktion ein Unerfülltes, der Ort der Begegnung nur ein scheinbarer in der Ungreifbarkeit seines Objekts. Die Nähe dieser flüchtigen Begegnung an der eigenen Haustür, sie ist damit nicht weniger fiktiv wie die Ferne der Minarette in Damaskus und Persien aus dem Märchentraum von Asien im ersten Lied: In all diesen Wunschbildern der Sehnsucht laufen die Linien des Nahen und Fernen im Erlebnishorizont unerreichbarer Ferne zusammen. Die Kunst und Poesie, sie kokettiert also nur mit dem Unerwünschten und Unerlaubten, ohne es wirklich zu tun. Die Wirksamkeit des Tabus zeigt sich gerade dann, wenn das Tabu scheinbar gebrochen wird, das Begehren des Verbotenen sich auszudrücken wagt: in der Nichterfüllbarkeit des Wunsches, der Unmöglichkeit der Herstellung wirklicher Nähe.


    Die Begegnung mit dem Fremden ist hier aber nicht nur eine poetische Fiktion, sie fiktionalisiert zugleich eine Realität, ein erotisches Begehren, dem gesellschaftliche Moral seiner Andersartigkeit wegen die Erfüllung und Anerkennung versagt. Die Scham davor, dass das Eigene das gesellschaftlich Unerwünschte und Unerlaubte ist, führt zur Abweisung des Eigenen, einer Art Abschiebung des Unerwünschten und Unerlaubten in ein Fantasiereich der Begegnung mit einem Fremden. Wenn sich der fremde Besucher gleichgültig zeigt einladendem erotischen Begehren gegenüber, dann ist es in Wahrheit das lyrische Ich, also das diese Szene fiktiv vorstellende und erlebende Subjekt, was sich damit konstituiert als scheinbar gleichgültig seinem Eigensten gegenüber, seinen Trieben und Neigungen, und sich so zum Fremden seiner selbst macht. Homosexualität wird in dieser dichterischen Fiktion zu einem Objekt der Selbstverleugnung, der Lebenslüge, nicht der zu sein, der man eigentlich ist.


    Der Gleichgültige“ Klingsors hält uns letztlich den Spiegel unserer Gesellschaft vor, wie sie Menschen, die anders und andersartig sind, zur selbstgewählten Selbstverleugnung treibt, dazu zwingt, sich zu assimilieren. Es spielt dabei keine Rolle, was die Gesellschaft jeweils zum „Fremden“ macht, seien es nun Homo- oder Transsexuelle, Schwarze, Juden, Zigeuner oder Muslime, die Mechanismen der Ausgrenzung und Assimilation bleiben immer dieselben. Für Felix Mendelssohn wurde der Taufschein zur Eintrittskarte in die Gesellschaft. Zeit seines Lebens musste er den verhassten Namen Bartholdy führen, wie der Onkel es befahl, als allsichtbares Zeichen gesellschaftskonformer Verleugnung seines Judeseins. Als Getaufter wurde er zum „Vorzeigejuden“. Nur so konnte er einer der populärsten und beliebtesten deutschen Komponisten überhaupt werden.


    Die Wiederholung dieser Problematik der Judenassimilation erleben heutzutage wieder diejenigen Menschen, die an die Stelle der unerwünschten Juden getreten sind, welche unsere große deutsche Nation schließlich vergast hat, Muslime nämlich, die bei uns leben.


    „Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“ – dieser Satz des ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff schlug einst hohe Wellen. Eigentlich sprach er damit nur die unleugbare Tatsache aus, dass mittlerweile über 4 Mio. Muslime bei uns leben und viele von ihnen längst auch deutsche Staatsbürger sind in zweiter und dritter Generation. Wulff erlebte es nun, dass man ihn korrigierte: Der einzelne Mensch muslimischen Glaubens darf selbstverständlich deutscher Staatsbürger sein, nur sein Islam gehöre nicht zu Deutschland! Also nur, sofern er seine muslimische Identität verleugnet, ist der Moslem ein ordentlicher und „richtiger“ Deutscher!?


    Ist das nun Xenophobie – Islamophobie? Heutzutage wird das Moralisieren zunehmend unpopulär. Um Allgemeinverbindlichkeit bemühte gesellschaftliche Normen wie die political correctness sind ein Ärgernis geworden, das man am liebsten wegschafft. Was im grassierenden Populismus von heute zählt, ist die eigene Wahrnehmung, die Exklusivität eines Erlebens von Welt, das die private Vorstellungswelt auch im Öffentlichen nicht verlassen will. Die ästhetische Weltsicht mit ihrer Verabsolutierung des Erlebnisstandpunkts, wo jenseits von Gut und Böse nur noch das Lustprinzip des Gewünschten und Unerwünschten über das Erlaubte und Unerlaubte entscheidet, sie hat – längst über die Grenzen der Kunst hinaus – das Moralisieren verdrängt. Xenophobie soll keine Xenophobie mehr sein, nur wenn das xenophobe Subjekt sie nicht mehr als Xenophobie fühlt und erlebt. Entsprechend wird Xenophobie in Wort und Schrift heutzutage zunehmend demokratisiert und bagatellisiert. Man fordert in Berufung auf das Prinzip uneingeschränkter demokratischer Partizipation Toleranz ein auch der intoleranten Meinung gegenüber, will sich den Mund nicht verbieten lassen durch eine vermeintliche „Moralkeule“, seinen individuellen Wahrnehmungsstandpunkt uneingeschränkt artikulieren dürfen. Eine Gesellschaft, die so mit dem Fremden verfährt, bekümmert allerdings nicht mehr, dass sie ihm damit das Wort entzieht, ihn gar nicht erst zu Wort kommen lässt. Ein Satz, der Christian Wulffs Aussage ins Gegenteil verkehrt wie „Der Islam gehört nicht zu Deutschland!“, der Millionen Muslime, die bei uns leben, größtenteils mit deutschem Pass, stumm machend zu Staatsbürgern 2. Klasse degradiert, ist somit eine Bagatelle wie das Urteil „Arminia Bielefeld gehört nicht in die 1. Fußball-Bundesliga!“? Nimmt daran etwa nur eine zur Übertreibung neigende political correctness Anstoß, wie beim Zigeunerschnitzel oder dem Mohrenkopf? Nein, es geht hier nicht um eine gesellschaftliche Norm, sondern schlicht um den Anderen. Jüdische Philosophen wie Martin Buber und Emanuel Levinas haben angesichts von Auschwitz das „Du“ eingeklagt, die Beachtung des Wortes des anderen Menschen, der das Monologisieren, die Selbstrede im Horizont des Nur-Eigenen, unterbricht. Der Andere soll nicht nur das unwirkliche und namenlose Schattenbild in unserer Vorstellungswelt bleiben, sondern ein Jemand sein, der uns leibhaftig begegnet.


    Der Fremde in der Figur des Gleichgültigen ist ein Mahnmal, dass Verleugnung der eigenen Identität kein humanes Konzept für eine moderne Gesellschaft darstellen kann – auch nicht im berauschenden Schönklang eines Kunstlieds.


    V. Das Fremde und die Entdeckung des Rein-Menschlichen


    Die Faszination für das Fremde gehört zur Romantik. Der romantische Enthusiasmus für das Fremdartige ist letztlich der Wunsch nach grenzenloser Freiheit, welcher in der realen, bürgerlichen Gesellschaft unerfüllt bleibt. Liszts Zigeuner sind dafür ein Zeugnis, aber auch die „Winterreise“: Der Fremde sucht die romantische Liebe, welche rein und frei bleibt vom Ballast der Konvention und Tradition, wie sie der bürgerlichen Institution der Ehe anhaftet. Zaide gibt ein Traumbild der Alhambra von Granada, einem Ort, der zwar „da“ ist, dessen maurisches Leben jedoch in der längst untergegangenen Welt des Mittelalters liegt. Die Erinnerung an ein Gewesenes verbindet sich hier mit dem Wunsch der Freiheit, wie dieses junge Mädchen ein Mensch ohne Heimat und Herkunft sein zu können in einer offenen Welt. Wenn sie schließlich von einem fahrenden Ritter geheiratet wird, erfüllt sich in ihrer Paria-Existenz der Traum eines Lebens fern aller Zwänge der Gesellschaft. Und ist es im ägyptischen Kunstlied Ich bin die Tochter des Sultans nicht ebenso? Wer dieses Lied singt, will diese Sultanstochter selber sein, frei agieren wie eine Herrscherin aus dem Märchen, wie diese über ihre Liebe und ihr Leben selbst entscheiden, als emanzipiertes Individuum einer traditionalistischen Gesellschaft gegenüber, in der man nicht heiratet, sondern verheiratet wird.


    Im Reisetagebuch des Kulturphilosophen Graf Hermann Keyserlingk findet sich der Satz: Der kürzeste Weg zu sich selbst führt um die Welt herum. Die fremde Welt ist nicht nur der Ort, an dem man Aufnahme oder Abweisung erfährt und wo man sein Selbst verlieren kann, sondern die Ursprünge seines Existierens findet und wiederfindet. Das Fremde trennt nicht nur, es verbindet vielleicht tiefer, als jede Gemeinschaft und Genossenschaft es vermögen. Denn der Weg in die Fremde führt einmal zum Wesenskern eines „Rein-Menschlichen“, wie Richard Wagner es im Anschluss an Ludwig Feuerbach nannte, der in der alltäglichen Existenz, dem Leben in und aus einer bestimmten Kultur, verdeckt und verstellt wird von dem, was uns zuallererst bestimmt: die Rücksichtnahme auf übermächtige Traditionen und Konventionen. Der kulturelle Mensch fühlt sich in erster Linie als Angehöriger seiner Gruppe, die ihn in die Pflicht nimmt: als Deutscher, Franzose, Europäer, Afrikaner, Amerikaner, Araber, Chinese, Christ, Jude, Hindu oder Moslem, als Mitglied einer gesellschaftlichen Klasse oder eines Familienverbandes, Anhänger einer politischen Partei oder Weltanschauung usw. usw. – und dann erst als Mensch. Das Naheliegende, einfach nur Mensch zu sein, ist uns als Angehörigen einer Nationalität, Religion und Kultur oder welcher Sozialität auch immer also zunächst das Fernste. Die Magie des Fremden dagegen, wie sie in der Shéhérazade begegnet, lässt uns unser Nächstes, das kulturell Eigene, vergessen, indem sie uns in eine ferne Welt entrückt, enthüllt so schließlich das Allgemein-Menschliche als das, was uns eigentlich das Nächste sein sollte: Alle Menschen verbindet in der Tiefe die Sehnsucht nach Freiheit, zwanglos und selbstbestimmt zu existieren, die Gefühle – gerade auch die erotischen einschließlich von Homosexualität – ungehemmt ausleben zu können.


    Aber wir finden auch zurück zu uns selbst im Transport des Eigenen durch die fremde Kultur: des Kulturguts eigener Herkunft, das wir vergessen haben und was in der fremden Kultur überlebt hat, welches uns schließlich wieder zurückgegeben wird. Wer Philosophie studiert hat, weiß um die Verflechtungen von arabisch-islamischer und europäischer Kultur. Arabische Philosophen wie Averroes und Avicenna (Abū Alī al-Husain ibn Abd Allāh ibn Sīnā) überlieferten und kommentierten die Schriften des Aristoteles im Morgenland, die im Abendland scheinbar verloren gegangen waren. Über die Rezeption des arabischen Aristotelismus fanden sie erst wieder ins Abendland zurück. Wenn Fatma Said das in der arabischen Welt berühmte Lied Aatini Al Naya Wa Ghanni („Gib mir die Flöte zurück“) singt, dann gibt es Ausdruck von dem, was in der Kultur unserer Antike und unseres Mittelalters die Sehnsucht nach dem Zeitlosen und Ewigen war, dem, was der Antike begeisterte Klassiker Friedrich Schiller das „die Zeit in der Zeit aufheben“ nannte, dem wir so wieder begegnen in der Begegnung mit einer fremden Kultur. Auch hier treffen wir im Anderen und Fremden also letztlich uns selbst.


    VI. Das Fremde als Heterogenität


    Der Schatten ist sanft und mein Herr schläft;

    er trägt eine seidene Zipfelmütze,

    die lange gelbe Nase im weißen Bart.

    Ich hingegen, ich wache noch immer

    und höre

    wie draußen

    eine Flötenweise erklingt

    traurig und dann wieder beschwingt.

    Ein Lied – sehnsuchtsvoll und frivol,

    das mein Geliebter spielt,

    und wenn ich mich dem Fenster nähere,

    kommt es mir vor, als ob jeder Ton

    der Flöte zu meiner Wange schwebe

    wie ein geheimnisvoller Kuss.


    (Shéhérazade: Die Zauberflöte ( La flûte enchantée))


    So mancher Kritiker mag die Heterogenität in Fadma Saids Album bemäkeln: Da werden nicht nur verschiedene Zeiten und Stile munter durcheinandergemixt, sondern auch Klänge und Instrumentierungen gesucht, die einfach zu sehr „anders“ sind, um ein integrales Ganzes zu bilden. Schließlich beginnt das Programm mit klassischer Liedbegleitung durch das Klavier und die Gitarre, um dann mit improvisatorischem Gesang in einer Jazz-Combo zu enden. Der Zwang ästhetischer Homogenität gehört jedoch zum Märchen vom einheitlichen Lebensstil einer Kultur, das letztlich eine Fabel und ein Konstrukt des Nationalismus ist. Richard Wagners abscheulicher Antisemitismus speist zum nicht unerheblichen Teil nationalistischer Einheits- und daraus resultierender ästhetischer Einförmigkeitswahn, eine Sucht nach dem Reinen und Bereinigten in der Suche nach dem eigenen Ursprung. Nationalistische Identifikation sucht das Unvermischt-Einfache und nicht das Kunterbunt-Komplexe, weil nur dieses klar und sauber das Eigene vom Fremden trennt. Geschichtlich ist dieses Pochen auf nationale Uniformität aber eher ein Neues. Meine Urgroßeltern sprachen fließend drei Sprachen – Deutsch, Kaschubisch und Polnisch –, lebten also im Überlappungsgebiet dreier Nationalitäten. Passend dazu erzählte mir ein Warschauer Kollege, dass die eine Hälfte seiner Familie heute in Polen, die andere in Deutschland lebt, weil einst das deutsche Kaiserreich ihre polnisch-deutsche Doppelidentität nicht akzeptieren wollte, sie zu einer Entscheidung zwang, die sie so niemals wollten, entweder Deutsche oder Polen zu sein. Für Wagner war bezeichnend das Jiddisch mit seinem fremdartigen Klang der Sprachverschmelzung ein Graus. Ganz anders Leonard Bernstein, dem Amerikaner russisch-jüdischer Herkunft, für den jüdische Heteroginät – nicht zuletzt bei Gustav Mahler – zur Auszeichnung einer musikalischen Postmoderne wird, welche die Widerstreite aktiviert zur Selbstfindung in multikultureller Vielfalt. Was bei Mahler die Mandoline ist, welche im klassisch-romantischen Orchesterapparat die Rolle eines Intimität stiftenden Fremdkörpers spielt, das ist im Jazz die Verbindung eines globalisierten, standardisierten Instrumentariums mit traditionellen Instrumenten. Heterogenität spielt hier die Rolle, das Partikulare und nicht Universalisierte zu universalisieren, eine musikalische Nationalsprache über ihre Grenzen hinaus in die musikalische Weltsprache zu integrieren, wie dies hoch virtuos bei Bulgariens wohl international bekanntestem Jazz-Musiker, dem Flötisten Theodosii Spassov mit seiner bulgarischen Hirtenflöte, der Kaval, geschieht.



    In Fatam Saids Album ist es die arabische Rohrflöte, die Ney, gespielt von Buren Karadağ, welche die Rolle der Zauberflöte übernimmt und so Ravels impressionistisch homogenes Stimmungsbild heterogen macht. Die verführerische Querflöte bei Maurice Ravel wandelt die Sehnsucht nach dem Orient in Tristan Klingsors Dichtung aufs Höchste intensivierend um von einer sprachlich vermittelten Vorstellung in die Unmittelbarkeit einer Erlebnisrealität, indem sie das luftig-ungreifbare Vorstellungsbild dieses Wunschtraums versinnlicht und damit seine Unnahbarkeit fühlbar macht. Ravels dionysische Querflöte steigert das sprachlich Imaginäre zum musikalisch Rauschhaften, lässt damit aber das Ferne zugleich noch sehnsuchtsvoll ferner erscheinen, als es ist. Die Ney an ihrer Stelle rückt uns mit ihrem greifbar-sinnlichen, sprechenden Klang die ferne Welt des Orients nun auf einmal nah, wie ein intimer Freund, so, als wären wir Hörer selbst die Dienerin in diesem poetischen Sehnsuchtsbild, die sich dem offenen Fenster nähert, um sich von der Flötenstimme ihres Geliebten berühren zu lassen fast wie ein Kuss. Und genau das ist berührend und beglückend – wie es das ganze wunderbare Album von Fatma Said ist. :) :) :)


    Kolloquium zu meinem Kolumnen-Thread "Doctor Gradus ad Parnassum"


    Entdeckungen: Neue Stimmen