„Ich bin in Kairo geboren und aufgewachsen und habe dort eine deutsche Schule besucht. Ich kenne mehrere Fälle von Deutschen, die zum Arbeiten nach Ägypten kamen und sich in Land und Leute verliebten – einige haben sogar dort geheiratet. Aber die meisten hatten nur befristete Verträge für ein paar Jahre bekommen und ich kann mich gut an die tränenreichen Abschiede erinnern. Zu Hugos Zeiten reisten viele Franzosen und andere Europäer in den Nahen Osten, denen die Kultur und das Klima so gut gefielen, dass sie sich dort niederließen. Obwohl sich „Adieu de l´hôtesse arabe“ mit dieser Thematik in einem Kontext befasst, mit dem ich nicht vertraut bin, kann ich doch die ungeheure Sehnsucht nachfühlen und erinnere mich an die besagten Lehrer aus Deutschland an unserer Schule, die sehr darunter litten, dass sie das Land verlassen mussten. Wir Ägypter legen Wert darauf, dass man sich bei uns wohl und integriert fühlt, und ich kann das im Text und in der Musik der Gastgeberin in diesem Lied spüren und hören: Was sie getan hätte, um ihren Geliebten zum Bleiben zu bewegen – am Anfang des Liedes versucht sie ihre Sorgen, ihn für immer zu verlieren, zu unterdrücken.“
(Fatma Said – zu George Bizets Vertonung von „Adieu de l´hôtesse arabe“ von Victor Hugo)
I. Das Fremde: Dialektik von Nähe und Ferne
Fatma Saids Album fasziniert mich. Warum das so ist? Eigentlich bin ich so gar kein Freund von „Cross-Over“-Geschichten, wo sich hinter der großen Ambition doch nur das kommerzielle Interesse versteckt. In dieser Hinsicht finde ich das eher hochtrabende Motto des Klappentextes „Eine Offenbarung neuer Zusammenhänge“ eher weniger glücklich, weil es Erwartungen weckt, die einfach nicht eingelöst werden bei einer Programmzusammenstellung, die mehr etwas von einem Potpourri hat als dass es eine „große Idee“ dahinter verraten würde. All dies ist für mich aber nicht entscheidend, vielmehr dass es der Künstlerin Fatma Said gelungen ist, mit dieser sehr persönlichen Auswahl von Liedern wirklich glaubhaft zu sein, unbefangen und sehr natürlich ihre Individualität zu präsentieren, welche diejenige einer Migrantin ist, einer Künstlerin, die Grenzen zwischen den verschiedenen Kulturen überquert. Die Zusammenhänge, sie kann und sollte eigentlich jeder, der dieses Album nicht nur oberflächlich durchhört, selber herstellen, sofern er bereit ist, sich ernsthaft auseinanderzusetzen mit der Thematik von Migration und Fremdheit im Liedgut von der Romantik bis hin zu Moderne und in den verschiedenen Kulturen der Welt.
Es lohnt finde ich, sich auf diese musikalische Entdeckungsreise einzulassen, nicht nur, weil hier die Sängerin Fatma Said Zeugnis von ihrem Können gibt, ihrer großen Einfühlsamkeit in verschiedenste Stile, ihrer interpretatorischen Intelligenz und der ungewöhnlichen Wandelbarkeit ihrer schönen Stimme. Als Auftakt wählt die Künstlerin gleich das Schwergewicht des Programms, das viel aussagt über unsere Ambivalenz im Umgang mit dem Fremden: Maurice Ravels Shéhérazade mit dem poetischen Text von Tristan Klingsor. Auf diesem Album erklingt es in einer originellen Transkription für Klavier, orientalische Flöte und Sopran – den anspruchsvollen Klavierpart übernimmt der ganz ausgezeichnete schottische Liedbegleiter Malcom Martineau, die Flöte, die Ney, spielt Buren Karadağ:
Asien, Asien, Asien.
Fernes, altes Wunderland in den Märchen der Ammen,
wo die Fantasie schlummert wie eine Kaiserin
in ihrem Wald voll der Geheimnisse.
(…)
Ich möchte Damaskus sehen und Persiens Städte
mit den ätherischen Minaretten.
Kaum eine andere Musik vermag uns wohl mehr in einen Traum und Rausch zu versetzen wie diese wunderbare Komposition von Maurice Ravel. So geht es auch mir. Nur wenn die verführerischen Töne der Zauberflöte, die uns in die luftigen Himmels-Höhen eines artifiziellen Paradieses entführen, verklungen sind, frage ich mich, auf dem Boden unserer Alltagsrealität wieder angekommen, dann doch: Kann Asien für uns heute überhaupt noch dieses Wunderland aus dem Märchen sein, wie es Tristan Klingsors Dichtung mit starken Bildern beschwört? Unsere Deutschen insbesondere sind Reise-Weltmeister, die es vor allem weit von zuhause wegzieht, je weiter, desto besser. Hat deshalb das, was in der Shéhérazade von Ravel und Klingsor nur ein Traumbild des Unerreichbaren ist, die Minarette im fernen Damaskus und in den Städten Persiens, seine Magie des Geheimnisvollen nicht längst verloren? Der Fern-Tourist von heute – in der Zeit vor Corona muss man inzwischen allerdings sagen – steigt in den Flieger und beäugt solche Gebetstürme aus der Nähe: sei es in Istanbul oder in Kairo, beim Fototermin an der Hagia Sofia oder nachdem ihn der Reisebus nach dem Ritt auf dem Kamelrücken bei den Pyramiden in die ägyptische Hauptstadt zurückgekarrt hat. Nur wenn es dann nach dem Rückflug um solche Minarette zuhause in Köln geht, also die Ausrufezeichen für den Glauben von Türken und Muslimen aus aller Welt, die sich bei uns niedergelassen und längst eingebürgert haben, nein, dann sind sie nichts für die Kamera und man will sie lieber gar nicht sehen! Eine Moschee bei uns in Deutschland wird besser gar nicht erst gebaut, oder wenn es leider nicht zu vermeiden ist, unauffällig hinterm Bahndamm versteckt. Man feilscht um Bauvorschriften, die Höhe gerade dieser so gar nicht körperlos ätherischen Turmbauten aus Stein und Beton. Natürlich dürfen sie, wie unsere Verfassung es will, überall sein – aber warum ausgerechnet gerade in unserer Nachbarschaft? Für so viel optische Aufdringlichkeit sollten sich ihre Erbauer eigentlich schämen! Nicht dass – um Gottes willen! – der Schatten von so einem Zeigefinger des Fremden auf das köllsch-katholische Wahrzeichen, den geliebten Dom, fällt!
Kann man die Faszination für das Fremde in Literatur und Musik also wirklich so romantisch sehen als Ausdruck der Einheit von Kunst und Leben, wie uns Fatma Said das mit ihrer freilich sehr sympathischen Naivität einer offenbar beruflich erfolgreichen Grenzgängerin nahelegen möchte? Ist da nicht vielmehr Skepsis angebracht? Wo der Okzident für die Schritte über Grenzen von weltbekannten Filmstars, Popsternchen und Operndiven aus aller Welt geneigt ist, den roten Teppich auszurollen, zieht er die Landungsstege für anonym bleibende Flüchtlinge und Arbeitsmigranten aus dem Orient doch lieber ein. Migranten aus Damaskus oder Teheran, den Orten der Sehnsucht aus der Shéhérazade, die nunmal keine Popstars sind, sondern ganz normale Menschen wie Du und Ich, machen derzeit leider wieder die Erfahrung, unerwünscht zu sein. Ihre Sehnsüchte und Traumata, sie sind ja auch nicht die unsrigen. Haben etwa nur wir das Recht, vom Glück in der Ferne zu träumen, aber nicht der Rest der Welt? Europa schottet sich ab mit Zäunen, hat kaum Skrupel, Menschen im Mittelmeer ersaufen oder in unmenschlichen Flüchtlingslagern wie in Griechenland vor sich hinvegetieren und verbrennen zu lassen. Besitzstandwahrung, Projektionen von Ängsten aller Art machen den „Fremden“ zum Unerwünschten in der realen Erfahrung mit Migration. Doch wenn es fern von der Realität um den schönen Schein in Kunst, Kultur und Musik geht, dann sieht es freilich ganz anders aus – da ist das Fremde und Fremdartige „interessant“, ein geradezu magischer Anziehungspol. Wie kommt das? Woher dieser Widerspruch?
Wenn ich wie gewöhnlich alljährlich nach Sofia fliege, sehe ich im Zentrum der Stadt die Synagoge, die Moschee und die christlich-orthodoxe Kirche in einträchtiger Nachbarschaft nebeneinanderstehen. Die bulgarische Kultur kennt traditionell weder Antisemitismus noch Islamophobie und folglich auch nicht die Neigung, den Islam einfach mit Islamismus und Terrorismus gleichzusetzen. In Bulgarien wird „Multi-Kulti“ seit Jahrhunderten praktiziert, doch selbst hier ist der Umgang mit dem Fremden sehr ambivalent – auch „Multi-Kulti“ schützt offenbar eine Gesellschaft nicht vor Xenophobie. Enerseits ist die bulgarisch-türkische Partei wie selbstverständlich Teil der Regierung, andererseits fehlt die Bereitschaft, die in weiten Teilen der Bevölkerung verhassten „Zigeuner“ (Roma) zu integrieren. Man wünscht sie sich über die offenen EU-Grenzen einfach weg. Sollen sie doch nach Deutschland wandern, dann wird man sie endlich los, ist die zynische Devise.
II. Die „Winterreise“: Der Fremde als Gast
Die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit im Umgang mit dem Fremden ist offenbar Kultur übergreifend, findet sich im Okzident wie im Orient – eine traurige Erkenntnis, die aber leider wahr ist angesichts von wieder erstarkenden chauvinistischen Nationalismen bei uns in Deutschland und außerhalb, von Polen über Ungarn bis hin zum fernen Indien. Es wäre nun allerdings verwunderlich, wenn sich die Problematik des Fremden nicht insbesondere auch in der Liedliteratur niedergeschlagen hätte. Und keineswegs nur als Neben- und Randthema. Wie lautet die erste Zeile der „Winterreise“, einem, wenn nicht gar dem einsamen Gipfel des deutschen Kunstlieds? Fremd bin ich eingezogen/ Fremd zieh´ ich wieder aus. Eigentlich unschwer erkennt man hier dasselbe Dilemma wieder, das Fatma Said bei ihren aus Deutschland kommenden Lehrern in Ägypten erlebt hat: eine Erfahrung von Fremdheit, in fernen Ländern bleiben zu wollen aber nicht zu können bzw. zu dürfen. Wenn wir das Beispiel nun ein wenig analysieren, kommt heraus: Die Figur des Fremden verkörpert exemplarisch der Migrant, welcher fern von seiner Heimat ein Wanderer ist und bleibt: Der Wanderer, wo er auch rastet, bleibt stets nur ein Gast. Doch wie erfährt und erlebt der Gast seine Fremdheit? Die Antwort lautet: genau dann, wenn er nicht wie normale Gäste – Freunde, Kollegen, Verwandte – kommt und wieder geht, sondern bleiben will und dann erfahren muss, dass er nicht bleiben kann.
Gäste, die lange und zu lange bleiben wollen, werden unerwünscht, weil Dauergäste eigentlich keine Gäste mehr sind, sondern zu Mitgliedern der Gemeinschaft werden. Hier liegt die Quelle von Fremdenfeindlichkeit, von Ab- und Ausgrenzung, den Anderen mit seiner Andersartigkeit zu einem Ausgeschlossenen und damit eigentlich erst Fremden zu machen, indem man ihm die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft verwehrt: Der Fremde, er ist für die Fremdenfeindlichkeit der Gast, der nie wirklich zu uns gehören kann und dies auch nicht darf. Doch auch vom Anderen her ist dieser Gast-Status ein alles Andere als unproblematisches Verhältnis. Die aufnahmebereite Gemeinschaft, die dem Fremden schließlich das Bleiben gestattet, fordert ihm die Integrationsbereitschaft ab. Man sollte auch hier auf die „Winterreise“ hören, die dies als ein schmerzlichen Dilemma enthüllt: „Das Mädchen sprach von Liebe,/ Die Mutter gar von Eh', “ – warum nur, wenn der Fremde doch eigentlich bleiben will, nimmt er dieses Angebot nicht einfach an? Mit der Verwandlung der Liebe in die Institution der Ehe verlangt die Gemeinschaft, dass der Fremde seinen Gast-Status und damit seine Andersheit aufgibt, indem er zum Mitglied der Familie wird. Dies jedoch kann und will der Fremde aber letztlich gar nicht wollen: „Die Liebe liebt das Wandern/ Gott hat sie so gemacht. Von einem zu dem andern/ Gott hat sie so gemacht.“ Diese Auskunft der „Winterreise“ ist vieldeutig, aber sie zeigt das Dilemma der Integration, die genau dann scheitert, wenn sie als eine Verpflichtung zur Assimilation missverstanden wird, wo der Andere die Eintrittskarte für den Eintritt in die fremde Welt nur dann lösen kann, wenn er den hohen – und für ihn zu hohen – Preis der Preisgabe seiner Identität und Andersheit bezahlt. Genau das scheint uns die „Winterreise“ sagen zu wollen: Der Fremde als Gast, er will einerseits bleiben, doch kann er andererseits seinen Gast-Status eines Fremden nicht aufgeben, um er selbst zu bleiben. Damit aber ist sein Schicksal besiegelt: Er lebt immer im Zeichen des Abschieds, eines Trennungsschmerzes, der irgendwann einmal kommen muss.
III. Das Fremde und die Schaulust am Verbotenen
Wenn die Begegnung mit dem Fremden somit im Zeichen des Abschieds steht, angesichts des Unmöglichen, in der Fremde wirklich heimisch werden zu können, woher kommt dann die Lust an der Fremdheit, die Magie des Fremden? Arthur Justin Léon Leclère, der sich den Künstlernamen Tristan Klingsor gab, berauscht sich an Bildern vom Orient, die er den Märchen aus Tausendundeiner Nacht entnimmt. Und Maurice Ravel hat diesen Traum und Rausch mit den Mitteln impressionistischer Musik geradezu unwiderstehlich gemacht. Was ist hier die Erfahrung von Fremdheit? Die Antwort lautet: Sie entspringt als eine ästhetische Erfahrung so gar nicht „realer“ Lebenserfahrung, ist vielmehr ein Blick in die Ferne, gerichtet auf ein unerreichbar Fernliegendes, nahe gebracht allein durch die literarische Fiktion. Das Fremde, es ist hier so verführerisch, gerade weil es nicht wie in der Wirklichkeit durch Migrationsbewegungen bedrohlich nahe kommt, vielmehr als eine Art Luftspiegelung freier Fantasie, eine Fata Morgana der reinen Vorstellung, am fernen Horizont gleichsam kleben bleibt. Es ist das Bild des Orients, das den Dichter und Komponisten berauscht, nicht der Orient selbst als wirkliche Lebensrealität.
Kann man das nun eine wirkliche Begegnung und ernsthafte Auseinandersetzung mit einer fremden Kultur nennen? Es scheint doch so zu sein, dass dieses Traumbild vom Orient für den Okzident nur ein Spiegelbild unserer eigenen Wünsche und Sehnsüchte ist. Begegnen wir in dieser Fremde also nur uns selbst, d.h. gar nicht wirklich dem Anderen? Ist diese Ästhetisierung des Fremden in Wahrheit nicht nur eine narzistische Selbstverliebtheit des Europäers, sich selber in das Fremde hineinzudeuten, statt sich selber zu vergessen in einem Denken und Fühlen wirklich vom Anderen her? Wo ist in dieser Illusion die Erweiterung des eigenen Erfahrungskreises, das Überschreiten der Grenzen des Nur-Eigenen? Es ist sicher richtig: Die Magie des Fremden ist nicht die einer anderen Realität, sondern das Verführerische einer sehr selbstischen Fiktion. Aber andererseits ist auch diese Ästhetisierung des Fremden ein Weg in eine tatsächliche Fremde, demnach eine Form der Selbstüberschreitung: Im Spiegel der anderen Welt, im Licht des Orients, begegnen wir okzidentalen Menschen schließlich unserer eigenen Fremdheit, dem Fremden, das in uns allen steckt - als das Verdrängte, Verbotene, als die Möglichkeiten, die wir in unserer Kultur und in den Sperrzäunen unserer „Moral“ nicht ausleben können und dürfen:
„Ich möchte Samtroben sehen/
und Gewänder mit langen Fransen.
Ich möchte Pfeifen sehen im Munde weißbärtiger Männer,
Händler, die mit undurchdringlichem Blick zäh feilschen,
und Kadis und Wesire, die mit einem Senken des Daumens
nach Belieben über Leben und Tod entscheiden“
Das Lied nimmt seine dramatische Wende, wo das schöne Bild ins Hässliche kippt, zur Lust am Schauen eines Bösen und Ungeheuerlichen wird. Hier darf man dann doch einmal fragen: Ist es nicht pure Naivität, ein solches Lied gerade heute zu singen, nur weil es ein schönes Lied ist und unsere Sinne berauscht? Klingsors poetisches Bild zeichnet zwar nur das Erschreckende nach, die Geste des Wahns allmächtiger Willkür (was in Ravels musikalischer Umsetzung zu einem hochdramatischen Aufruhr in Tönen wird), und verbirgt uns dabei das Blut der Hinrichtung – anderenfalls wäre dieses Ungeheuerlich-Hässliche nicht mehr ästhetisch, sondern abscheulich. Es ist allerdings nur noch ein kleiner Schritt, der dahin führt, dass sich sensationslüsternde Schaulust ganz prosaisch an der Hinrichtungsszene selbst befriedigt und uns damit eine solche Ästhetik des Hässlichen verleidet. Können wir überhaupt noch frei und unbefangen den Exotismus der Shéhérazade genießen, ohne dass uns die Bilder überfallen, welche weltweit im Internet kursieren – jene apokalyptischen Abscheulichkeiten von Videos, wo blutrünstige IS-Terroristen die Köpfe rollen lassen? In dem Moment, wo das symbolistische Spiel kunstvoller Andeutung zum nackten Realismus wird, zur fotographischen Abbildung eines Tatsächlichen, kippt die Faszination für das Fremdartig-Ungeheuerliche in Horror und blankes Entsetzen um. Was die Ästhetik des Fremden damit aber verliert, ist Gastfreundlichkeit. Wenn die Angst und nicht mehr die Lust und Neugier den Umgang mit dem Fremden bestimmt, dann schlägt man fremden Menschen, die um Einlass bitten, die Tür lieber vor der Nase zu, als dass man sie gastfreundlich ins Haus nimmt.
Wir können aber auch ganz anders an einen solchen Liedtext herangehen, indem wir realisieren, dass die Schaulust am Ungeheuerlichen nicht etwas ist, dem wir nur in einer fremden Kultur und Religion begegnen, sie vielmehr, was wir nur allzu gerne verdrängen, zu uns selbst gehört. Es empfiehlt sich erst einmal nicht, mit dem moralischen Zeigefinger auf den Islam zu zeigen. Historisch sind die Widerwärtigkeiten des sogenannten „islamischen Staates“ nur die Imitation von Praktiken im Umgang mit fremden Welten, die ihm christliche, weiße Europäer längst vorgemacht haben, wie es bei Bartolomé de Las Casas nachzulesen ist: „Nun sagt der Obriste dem Teufel: Schickt mir hundert Indianer her! Sogleich kommen sie wie geduldige Schafe herbei. Wenn sie alle beisammen sind, lässt er dreißig oder vierzig von ihnen die Köpfe abschlagen, und sagt zu den andern: so werde ichs auch mit euch machen, sofern ihr mich nicht gut bedient, oder euch ohne meine Erlaubnis entfernt.“
Und warum waren einst Hinrichtungen in Deutschland und überall in Europa ein öffentliches Fest und Sonntagsereignis, wo sich das Volk wie zum Kirchgang herausputzte, um zu begaffen, wie sich die Schlinge um den Hals des armen Sünders zuzog? Warum müssen Schaulustige von Verkehrsunfällen mit Verletzten und Toten erst mit Strafandrohung daran gehindert werden, den Autoverkehr zum Erliegen zu bringen, nur um ihre Handy-Kamera zu zücken? Hinter solch oberflächlicher Sensationsgier verbirgt sich ein tieferes metaphysisches Bedürfnis, wie es uns schließlich der Mythos und die dichterische Fiktion enthüllen. Die griechischen Götter hatten einst das Vorrecht, dem Spiel des Menschen mit seinem Schicksal, dem er mutig trotzt, um ihm im unausweichlichen Tod schließlich zu unterliegen, lustvoll zuzuschauen. Drückt sich da nicht der geheime Wunsch von uns Sterblichen aus, der Traum davon, ein Unsterblicher zu sein, erhaben über Leid und Tod? Es ist der Wunsch eines jeden Knechtes, einmal im Leben den Herrn zu spielen, sagte einst Jean-Paul Sartre. Es ist nicht zuletzt die Selbstherrlichkeit einer herrischen Moral, die überall die Sperrzäune des Verbotenen errichtet, die uns einerseits schützen aber auch eingezwängen, so dass wir uns so unfrei fühlen wie ein Sklave oder Knecht. Das ästhetische Erleben, es tröstet uns nun damit, den Herrn über die Moral zwar nicht im wirklichen Leben, aber wenigstens in der freien Fantasie zu spielen, entführt uns wie es bei Tristan Klingsor geschieht in ein orientalisches Märchenreich „Jenseits von Gut und Böse“. Indem sich das Subjekt in eine solche fremde Traumwelt hineinträumt, suspendiert es das Ethische, begibt sich in einen Bereich ohne die janusköpfige, schützende und zugleich knechtende Moral. Was es dabei erfährt ist die Magie eines Gefühls grenzenloser Freiheit, welche ihm die reale Welt niemals bieten kann. Doch ist es gerade die Magie des Fremden, welche verhindert, dass ein solcher Wunschtraum ins Inhumane und Zynisch-Abscheuliche pervertiert. In der Traumwelt von Tristan Klingsor und Maurice Ravel sind wir letztlich nur Gäste – bleiben uns als Gäste damit selber fremd im Erleben der Tiefen und Abgründe in uns selbst: Das ästhetische Erleben projiziert sich in die Ferne und Fremde, so dass das ästhetische Subjekt dem moralischen Subjekt letztlich fern bleibt. Moral und Ästhetik vermischen sich deshalb nicht. In der Traumwelt, wo alles möglich ist, sind wir zugleich wir selbst und nicht wir selbst – mit dem Erwachen aus diesem Traum verfliegt auch die Faszination für das Böse als Ausdruck grenzenloser Freiheit. „Ach wie schön, dass Niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß!“ Die Märchen-Wahrheit ist: Sobald man die Dämonie beim Namen nennt, verliert sie ihre Macht. Das Ausleben gerade auch der destruktiven Seelen-Kräfte in der Welt des schönen Scheins macht uns somit von ihnen frei, verhindert, dass sie uns in der wirklichen Welt untergründig und unerkannt beherrschen und bestimmen.
(Ende Teil I)