Adriano zum 80. Geburtstag. Gespräche mit dem Künstler über seine Kunst und sein Leben mit der Musik

  • Heute, am 10. Juli, feiert unser geschätztes Tamino-Mitglied Adriano seinen 80. Geburtstag. Es ist eine besondere Ehre für uns glaube ich sagen zu dürfen, einen solchen Künstler in unserem Kreis haben zu dürfen. Seinen „runden“ Geburtstag, der auch in unserer Zeit technisch-medizinischer Zeit Errungenschaften ein gesegnetes Alter bedeutet, nehme ich zum Anlass, mit ihm eine Folge von Gesprächen über ihn und seine Kunst hier auf meiner Kolumnenseite zu veröffentlichen, die heute mit einem Eröffnungsgespräch beginnen wird. Es ist eine große Freude für mich, dass Adriano diesem meinem Vorhaben zugestimmt hat und ich freue mich über lehrreiche und spannende Beiträge von ihm mit all seinen reichen Erfahrungen seines Künstlerlebens, seinen so vielfältigen künstlerischen Aktivitäten, seinen Begegnungen mit anderen Künstlern und seinen Einblicken in die Musikkultur von heute.



    Gespräch mit Adriano zu seinem 80. Geburtstag am 10.7.2024


    Lieber Adriano,


    erst einmal gratuliere ich Dir ganz herzlich zu Deinem Geburtstag und wünsche Dir vor allem Gesundheit und dass Dir Deine Schaffenskraft und Freude an der Kunst erhalten bleibt!


    Ein solcher Tag sollte ein schöner und denkwürdiger Tag sein und so ist meine erste Frage: Wenn Du Dir selbst einen Geburtstagsstrauß überreichen würdest, wo die Blumen die Erinnerung an Deine schönsten Ereignisse und Erlebnisse Deiner Künstlerlaufbahn sind, welche würdest Du nennen?



    A.: Danke sehr, Holger, für die Gratulation! Man befindet sich bereits in dem Alter, wo die Gedanken an den eigenen Gesundheitszustand an erster Stelle kommt; man setzt sich täglich damit auseinander. Ich habe das große Glück, noch gut „beisammen“ zu sein, doch ich verliere immer mehr liebe Freunde – zum größten Teil noch jüngere als ich ­– was mich sehr schmerzt. Da kommt die Diagnose Krebs leider an erster Stelle, vor allem Prostata-, Lungen- und Bauchspeicheldrüsenkrebs. Alleine über die 2023er-Weihnachtszeit gab es für mich einige traurige Nachrichten!


    1994 musste ich an einem Stimmbandkarzinom operiert werden, doch mit dem großen Glück, dass sich dort keine Metastasen bilden können. Vor etwa 8-10 Jahren traten Nebenwirkungen auf, weil man mich damals (noch unwissend) doppelt intensiv bestrahlt hatte. Nun klingt meine Stimme immer etwas belegt und meine Pläne, mich nach der Pensionierung wieder als Schauspieler, Sprecher und Rezitant beschäftigen zu dürfen, fielen ins Wasser.


    Was meine Künstlerlaufbahn betrifft, da hat sich bereits vor Corona vieles verändert – so dass ich mich leider bereits als „gesunkener Stern“ betrachten muss. Für meine noch vielen CD-Projekte gibt es keine Sponsoren mehr und als Komponist und Arrangeur produziere ich noch mehr für die Schublade als früher. Darüber kann man sich schon verbittert fühlen, doch man muss realistisch bleiben: Es gibt so viele talentierte junge Dirigenten und Komponisten, dass man nur noch staunen – und immer noch daraus lernen kann. Aber oft gibt es auch nur etwas zum Kopfschütteln!


    Als schönste künstlerische Ereignisse meiner „Laufbahn“ würde ich z.B. die Aufnahme (in Bratislava) der Respighi-Kantate „La Primavera“ und die Templeton-Strong-Aufnahmen in Moskau der „Sintram“-Symphonie und der Suite „Die Nacht“ betrachten. Da funktionierte auch die Studio-Atmosphäre bestens. Und dann noch, dass ich Marco Polo-Naxos überzeugen konnte, die Sylvio Lazzaris Symphonie und Ernest Fanellis „Tableaux Symphoniques“ einzuspielen (bis es soweit kam, war es alles andere als einfach!), kann ich schon als einen Triumph betrachten. Auch Bernards Herrmanns Filmmusik „Jane Eyre“ gehört zu meinen bevorzugten, gelungensten Einspielungen!



    H.K.: Für meine inzwischen doch schon recht umfangreiche und sich stetig erweiternde Adriano-Sammlung habe ich eine eigene Abteilung in meinem CD-Regal reserviert. „La Primavera“ und auch den Templeton-Strong, den ich durch Dich entdeckt habe, liebe ich sehr. Bei jpc sehe ich gerade, dass sie da bei Deiner Respighi-CD eine Fono Forum-Rezension vom August 1995 zitieren. „Die Umsetzung unter der Leitung von Adriano ist so famos gelungen, daß es schier unglaublich scheint, daß dieser exzeptionelle Respighi-Kenner sein täglich Brot als Souffleur an der Züricher Oper verdient." Wenn ich das lese und auch mit Deinen famosen Aufnahmen im Kopf kann man da wirklich ernste Zweifel an unserem Musikbetrieb bekommen. Da musst Du jetzt natürlich nicht darauf antworten, die Frage, warum man Dich auch nicht als Dirigent für Konzerte engagiert hat, können wir auch später noch behandeln.



    A.: Gerne später! Ich habe in der Tat über 20 Jahre lag als „maestro suggeritore“ (als dirigierender Souffleur) am Zürcher Opernhaus gearbeitet. War hier der Erste, der von Alexander Pereira diesen Titel bekam – was an der Scala eine ganz gewöhnliche Sache ist. Das war mein Brotberuf… Dirigieren an diesem Ort durfte ich nur bei Klavierproben. Dabei konnte ich viel lernen, vor allem von Maestri wie Nello Santi, Nikolaus Harnoncourt, Michel Plasson, Serge Baudo, Marcello Viotti usw.; das waren aber auch Persönlichkeiten, die ihren Beruf sehr ernst nahmen und allen Mitwirkenden Vieles mitteilen und mitgeben konnten.



    H.K.: Darauf werden wir noch kommen – Deine Prägungen, Deine Lehrer, Ernest Ansermet. Aber bleiben wir bei Deinen Aufnahmen. Da darf natürlich Dein wohl gewichtigstes Projekt nicht unerwähnt bleiben: Die Aufnahme aller Symphonien von Fritz Brun.



    A.: 2003 starteten dann meine intensiven Recherchen und Einspielungen der gesamten Orchesterwerke von Fritz Brun, eines Komponisten, der mir sehr ans Herzen gewachsen ist – weil ich mich auch seelenverwandt mit ihm finde. Dies alles war mit harter Arbeit verbunden, denn diese Musik ist nicht leicht. Mit der Zeit durfte ich derart viel Material über Brun auftreiben, um eine dreieinhalbstündige Video-Biographie über ihn realisieren zu können; auch daran habe ich einige Jahre lang gearbeitet. Dieser Film ist in 26 kürzeren Kapiteln gestaltet, die man separat „konsumieren“ kann; statt einer Biographie in Buchform, kriegt man nun aufs mal Bild und Ton. Ich bin da verantwortlich für Drehbuch, Schnitt und größernteils auch für die Kamera.


    Sieht ganz so aus, dass diese Brun-Projekte mein Schwanengesang werden!



    H.K. Dein Brun-Projekt ist wirklich eine große Lebensleistung und ein Verdienst, für das Du Dir wahrlich einen Orden verdient hättest. Nicht nur die Aufnahmen sind famos, dazu kommen noch Deine äußerst kenntnisreichen Erläuterungen zu den Werken und den ganzen Hintergründen, durch die man in die Brun-Welt eintreten kann. Das ist alles so bedeutend, dass wir uns dem natürlich noch ausführlich widmen sollten und auch widmen werden denke ich.



    A: A propos „Orden“: 2009 schrieb ein Rezensent über meine Einspielung der „Tableaux“ von Fanelli, dass ich dafür den Orden der französischen Ehrenlegion verdient hätte…


    Für die Fritz-Brun-Box gab es hier in der Schweiz eine moderat positive Kritik, die Fehler aufweist, also nicht gut recherchiert worden war. In einer weiteren wurde meine Interpretationen als „glanzlos“ befunden – und es musste darin noch unbedingt erwähnt werden, dass ich früher als kaufmännischer Angestellter bei Banken und Versicherungen gearbeitet hatte. Die verantwortliche Redaktion erhielt daraufhin empörte Reaktionen von zwei Musikwissenschaftlern. Einer wies auf Fehler hin und meinte, der Autor hätte sich die CD-Box nicht einmal richtig angehört. Der andere meinte, dass ein derart unvermögender Rezensent besser gefeuert werden sollte…


    Na ja, es gibt halt auch Provinz-Rezensenten, die im Boulevard-Stil schreiben wollen, um interessant zu wirken… Ich habe nichts gegen faire, fundierte negative Rezensionen, doch dann muss aber alles stimmen! Es gibt leider aber auch Rezensenten, die, weil sie ein Musikstück selber nicht mögen, es dann auch nicht gut aufgeführt finden…



    H.K.: Die Jugend ist die Zeit, wo man das Leben vor sich hat, das „Mittelalter“ das, wo man vor allem vielleicht in der Gegenwart schaffen will und im Alter kommt der – beseligende aber auch etwas schmerzliche – Rückblick. Ich selber habe auch schon die Altersgrenze zu dem, was ich etwas selbstironisch das „Opa-Alter“ nenne, überschritten und tröste mich immer ein bisschen mit Nietzsches Warnung: „Man soll nichts bereuen!“ Wünsche natürlich behalten wir immer und es wäre glaube ich auch schlimm, wenn wir sie nicht mehr hätten. Und eine gewisse Wehmut gehört glaube ich auch dazu. Bei all Deinen vielen künstlerischen Unternehmungen, bist Du eigentlich zufrieden mit dem, was Du erreicht hast? Gibt es noch offene Projekte, Die Du unbedingt in der Zukunft verwirklichen möchtest?



    A.: Zufrieden kann ich mich schon fühlen, denn ich durfte Vieles erreichen, was ich mir nie erträumt hatte. Ich, der nicht einmal ein Konservatoriums-Diplom hatte, durfte Dirigent und Komponist werden! Da muss man fast ein schlechtes Gewissen kriegen, wenn man die aufwändigen Biographien arrivierter Dirigenten liest! Ich durfte anspruchsvolles Repertoire dirigieren, ja sogar Werke einspielen, die noch niemand aufgeführt hatte oder längst vergessen waren! Ein Vorteil für mich: Rezensenten konnten meine Interpretationen nicht einmal mit vorangehenden vergleichen.


    Natürlich gäbe es noch Dutzende Wunschprojekte – die bereits damals auch bei Naxos vorlagen (ein Teil darunter wurde bereits genehmigt und dann alle zusammen in einer kurzen Aktion gestrichen…). Also „unbedingt noch verwirklichen“ darf ich nicht mehr sagen, es wäre anmaßend utopisch.



    H.K.: Wenn Du Dir selber Deine Frage beantworten würdest, was Du von all Deinen künstlerischen Leistungen als Deine wichtigste nennen würdest, welche wäre das dann?



    A.: Ich betätigte mich in meinen Sturm-und-Drang-Jahren 1965-75 auch als Theaterautor und als Zeichner. Und 2011 schrieb ich sogar ein Buch, das nicht im Geringsten mit Musik zu tun hat; doch zu all dem habe ich inzwischen eine grosse Distanz gewonnen. Leider aber ist ein verdammt gutes Gedächtnis noch da, sodass gewisse Erinnerungen (leider auch die unangenehmenren) ab und zu auftauchen und ich mich „ganz privat“ schämen muss. Aber bereits damals war ich selbstkritisch und betrachtete all jene verrückten Aktivitäten als „Lehrgänge“. Gewisse alte Unterlagen (die inzwischen in der Zürcher Zentralbibliothek gelandet sind) sind aber heute recht amüsant zu lesen; ich hab’s letztens selber mal probiert. Diese Dreistigkeit, mich zu präsentieren hätte ich heute natürlich nicht mehr. Ich war übrigens auch als Fotomodell für Werbung tätig…



    H.K.: Das ist eine beeindruckende Vielseitigkeit, wenn ich das kommentieren darf! Eine staunenswerte Begabung, mit der Du gesegnet bist!


    Blicken wir nun von Deinem Heute auf Deinen Anfang zurück: Wann hast Du realisiert, dass Deine Berufung die Kunst ist und den Entschluss gefasst, Künstler zu werden? Soviel ich weiß, war das alles nicht leicht und Du hattest einige Kämpfe zu kämpfen.



    A.: Na ja, da ist vor allem meine Familie schuld, gegen die ich sehr kämpfen musste. Dieses sehr unangenehme Kapitel meiner Jugend (vor allem die Jahre 1955-1964) lasse ich lieber beiseite, außer mit der Betrachtung, dass ich, sagen wir mal ganz clichéhaft „durch Schmerzen empor“ gehen musste.



    H.K.: Was waren die wichtigsten Stationen Deiner künstlerischen Laufbahn?



    A.: Die Tatsache, dass ich Dirigent werden durfte (allerdings nur als CD-Dirigent, denn auf dem Podium wollte mich noch niemand haben), ist schon ein Meilenstein! Daran hatte ich am wenigsten geglaubt.



    H.K.: Heute ist Dein Geburtstag und die dazu ganz konkret die Frage: Wirst Du ihn feiern – mit Deinen vielen Freunden? Es gibt ja das Sprichwort „Der Prophet gilt nichts im eigenen Land“. Wird Deine Schweizer Heimat an diesem Tag an Dich denken und Dir die Ehrung, die Du verdienst, auch geben?



    A.: Die Schweiz wird zu diesem „Anlass“ bestimmt nicht an mich denken. Zurzeit muss ich sogar kämpfen, mit einer gerade ab diesem Monat gültigen, verminderten Rente auskommen zu müssen.


    In meinem Land war ich in der Tat nie ein Prophet. In Rezensionen wurde ich mehrmals belächelt und nicht ernst genommen. Dafür kann ich mit Stolz behaupten international ziemlich bekannt geworden zu sein. Als man 2015 einen Auszug meiner CD von Fritz Bruns Vierter Symphonie am Schweizer Rundfunk abspielte, erwähnte der Moderator meinen Namen – was dann seine Co-Moderatorin veranlasste, verdutzt zu fragen: „Adriano?? Gibt es ihn noch?“.


    Auch hierzulande muss man gewissen Kreisen angehören, um gefördert und aufgeführt zu werden. Und in solchen Kreisen wollte ich nie verkehren.


    Die Schweiz ist ein sehr kleines Land und die meisten ihrer Künstler haben es sehr schwer, denn es werden nur die bereits arrivierten gefördert – vor allem damit sie uns im Ausland gut vertreten. Unsere „nationale“ Pro Helvetia-Stiftung (und nicht nur die) ist leider seit vielen Jahren eine elitäre Firma geworden, die nur noch fördert was sie gut findet. Früher wurden viel mehr Projekte gefördert (auch CD-Projekte – die nun auch nicht mehr in Frage kommen), die von unbekannteren Künstlern unterbreitet wurden. Auch private Kulturförderer sind inzwischen echt knausrig geworden, dass man es nicht verstehen kann, in einem der reichsten Länder der Welt zu leben!



    H.K.: Nun zum Schluss die Frage: Wenn wir zu Deinem Ehrentag eine Deiner vielen Aufnahmen hören wollen, welche würdest Du uns empfehlen?



    A.: Vielleicht gerade eine der von mir weiter oben erwähnten.



    H.K.: Ich werde mir Primavera anhören – und eine von Deinen Ibert-Aufnahmen, die ich zuletzt entdeckt habe und wo Du mich so großzügig auch mit den vergriffenen Aufnahmen versorgt hast. Die Respighi-CD und den Templeton-Strong sind weiterhin bei jpc erhältlich:






    https://www.musicweb-internati…ev/2003/Aug03/Fanelli.htm


    H.K.: Ich bedanke mich sehr für Deine Antwort, wünsche Dir noch einen glücklichen Geburtstag und freue mich auf die baldige Fortsetzung unseres Gesprächs.



    A.: Nochmals, vielen herzlichen Dank. Ich führe es mit Freude weiter. 😊



    H.K. Die ist auch sehr groß auf meiner Seite!

  • Dr. Holger Kaletha

    Hat den Titel des Themas von „Titel: Adriano zum 80. Geburtstag. Gespräche mit dem Künstler über seine Kunst und sein Leben mit der Musik“ zu „Adriano zum 80. Geburtstag. Gespräche mit dem Künstler über seine Kunst und sein Leben mit der Musik“ geändert.
  • Interview Teil 2 – Die Filmmusik-Aufnahmen


    (Die Einzelbesprechungen der Aufnahmen in einer Auswahl folgen in der zweiten Hälfte dieses Interviews, im Anschluss an diesen allgemeinen Teil, H.K.)


    film_macbeth_1.jpg



    Ich freue mich sehr, das Gespräch mit Adriano fortführen zu können und bedanke mich bei ihm dafür sehr herzlich, dass er sich die Zeit genommen hat, die Fragen so ausführlich zu beantworten. In dieser Folge soll es um die Filmmusik gehen – die ihm ganz besonders am Herzen liegt.


    Filmmusik ist eigentlich ein Paradox. Jeder kennt sie, aber kaum Jemand nimmt sie als Musikgattung so richtig Ernst. Sicher, Hollywood und die Popmusik haben dafür gesorgt, dass man den Film als «Multiplikator» nutzt, um populäre Melodien und Songs weltweit zu vermarkten. Aber Filmmusik als anspruchsvolle Musik? Filmmusik ist Gebrauchsmusik, keine Frage. Daher kommt auch das verbreitete Vorurteil, dass Filmmusik mehr oder weniger anspruchslos sei und lediglich der effektvollen Untermalung der gesehenen Bilder dient. Hat sie also überhaupt einen Zweck, genauer Selbstzweck, um als quasi «symphonische Musik» ohne Film gehört zu werden? Oder war die Filmmusik – wenn man etwa an Schostakowitsch denkt – für den Komponisten nur ein Mittel zum Zweck, ein Broterwerb, um zu überleben? Vorurteile dem Genre Filmmusik gegenüber gibt es also viele – viel zu viele. Deine Filmmusik-CDs, lieber Adriano, sind dazu geeignet, solche Vorurteile über den Haufen zu werfen, sie haben mich gerade auch was die musikalische Substanz angeht überrascht und neugierig gemacht – geradezu begeistert. Die sind wirklich mitreißend musiziert und auch die Aufnahmequalität ist fantastisch. Auf die einzelnen Aufnahmen werden wir noch zu sprechen kommen in der zweiten Hälfte dieses Interviews.


    Zuerst aber: Wie waren die Umstände, dass Du zu Deinem Aufnahmeprojekt Filmmusik?


    Adriano: In den frühen 1980er Jahren bat mich Marco Polo/Naxos-Boss Klaus Heymann, an einer Hamburger Musikmesse (die, glaube ich, Klassik.Com hieß) teilzunehmen, wo alle Labels ihre Produkte präsentierten und wo auch Diskussionsforen stattfanden – sogar eins über Filmmusik. Ich sollte mich über meine (damals erst 5 oder 6) Marco Polo-CDs äußern und fand mich mit einer Ansammlung von etwa 50-60 Musikliebhabern oder -Spezialisten konfrontiert, darunter einige, die ziemlich wichtigtuerisch auftraten. Da fragte mich z. B. einer in mitleidvollem Ton, warum ich es überhaupt für nötig fände, Filmmusik auf CDs einzuspielen – als wäre ich der erste, der so was tun würde. Dabei gab es seit Jahren schon dutzende Filmmusikplatten aus Europa und den USA, auch solche, die keine klassische Original Soundtracks waren, sondern Neueinspielungen in super Stereo-Sound. Ich fragte ihn, ob er die großartige, von Charles Gerhardt dirigierte RCA-LP-Reihe The Classic Filmscores of…, Elmer Bernsteins Film Music Collection oder Tony Thomas’ Miklós Rózsa-Reihe kennen würde; darauf reagierte er nicht, sondern kam mit einer neuen Frage: «Und warum überhaupt extrahieren Sie aus Filmmusiken Suiten??» Ich wurde langsam sauer und meinte: «Filmmusik gehört immerhin zur Sparte Bühnenmusik, ist also Untermalung oder Kommentar von Theaterstücken, die entweder auf einer Bühne oder auf einer Leinwand stattfinden. Haben Sie in dem Fall auch was gegen Mendelssohns Sommernachtstraum-, Griegs Peer Gynt- oder Tschaikowskys Nussknacker-Suite? Sogar Komponisten wie Khachaturian, Rózsa, Bax, Honegger und Ibert hätten Suiten aus ihren Film- und Bühnenmusiken extrahiert, damit sie im Konzertsaal oder auf Schallplatten erklingen konnten».


    Bevor ich noch Verdacht schöpfte, man würde mich nicht Ernst nehmen, oder eventuell als eine etwas komische Schweizergestalt bloßstellen wollen, der, u. a. wie ein Clown mit seinem Vornamen alleine auftreten würde (einer der Anwesenden hatte erfahren, dass ich aus der Schweiz kam, also stellte er mir seine Frage humorvoll beginnend mit «Grützi, Herr Adrianooo» – unser Schweizerdeutsches «Grüezi» parodierend). Ich wollte wieder nach Hause, doch Produzent und Publizist Klaus-Peter Hanusa, der mich im Forum vorgestellt hatte und mich bereits kannte, konnte das Gespräch auf ein höheres Niveau zurückbringen. Hanusa war es, der 1983 die von mir herausgegebene Napoléon-Suite von Honegger (die ich bereits mit einem Schweizer Jugendorchester eingespielt hatte) von mir gerne mit der RIAS-Sinfonietta dirigiert gesehen hätte. Der Sender fand mich allerdings als Dirigent «zu unbedeutend»… Im November 1987 durfte ich diese Suite für Marco Polo einspielen: Dies war dann mein Debut als CD-Dirigent.


    H.K.: Das sollte dann auch nicht die letzte Honegger-CD gewesen sein!


    Adriano: Die Serie Marco Polo Film Music Classics war übrigens meine Idee gewesen – inklusive ihr Cover Layout mit den beiden horizontalen Zelluloidstreifen und einem Filmstandbild in der Mitte. Ich fühle mich heute noch ziemlich stolz, dass Klaus Heymann damit einverstanden war, obwohl er mich ständig – und dies bis ans Ende unserer Zusammenarbeit – daran erinnerte, dass sich mit diesem Projekt kein Geld verdienen ließe.


    Was damals in Hamburg mich am meisten erfreute: Ich durfte dem Komponisten Jürgen Knieper begegnen. Ich umarmte ihn spontan, weil ich seine Musik zu Geissendörfers Zauberberg-Verfilmung so sehr mochte. Die war übrigens (auch in Form einer Suite) 1981 in Deutschland bei Celine Records erschienen! Auf diesem Label erschienen auch Soundtracks Rolf Wilhelms, die ich alle mit Begeisterung und Interesse kaufte.


    Das Label Colosseum (das Celine Records lizensierte) gab nicht nur Klassik und Unterhaltung, sondern auch wertvolle Soundtracks und neu eingespielte Filmmusik-Suiten heraus, dirigiert von berühmten Dirigenten und Komponisten wie Miklós Rózsa und Elmer Bernstein.


    Die Leute von Naxos Germany waren in Hamburg übrigens sehr nett mit mir, als ich anschließend ihren Messestand besuchte. Da fühlte ich mich schon wieder besser.


    H.K: Hattest Du einen «Plan», welche Filmmusiken Du dann der Reihe noch aufnehmen wolltest bei Marco Polo oder sind die Produktionen mehr oder weniger spontan entstanden?


    Adriano: Ich hatte genaue Pläne, doch von meiner Liste ließ sich nur etwa eine Hälfte realisieren. Einige Projekte, wie Lázlós Lajthas komplette Filmmusik zu Murder in the Cathedral – woraus der Komponist eine Symphonie und Kammermusikstücke gezogen hatte – sowie eine zweite CD mit Filmmusik von Khatchaturian, deren Partituren ich ab die Manuskripte bereits in monatelanger Arbeit ediert hatte – Manuskripte aus dem Nachlassarchiv des Sohnes des Komponisten – wurde kurzfristig abgeblasen. Beide Projekte waren mir von Klaus Heymann ein Jahr zuvor bestätigt worden. Auch die drei (damals in Druckform erschienenen) Suiten von Villa-Lobos’s Forest of the Amazons, die ich sorgfältig einstudiert hatte, wurden abgesagt. Wir hatten gerade eine CD in Bratislava aufgenommen und ich meldete dem Orchester, dass ich im Frühling mit den Villa-Lobos-Suiten wiederkommen werde. Der Konzertmeister meinte: Stimmt, wir haben bereits die genauen Daten erhalten – was mich aber sehr wunderte, denn diese hatte ich noch nicht. Der Konzertmeister entdeckte dann auf seiner Liste, dass das Projekt mit einem anderen Dirigenten registriert war. Ich fiel aus allen Wolken und meldete mich bei Klaus Heymann, denn er hatte mir nichts über diese Änderung mitgeteilt. Er meinte nur: Der nun vorgesehene Dirigent sei ein Villa-Lobos-Spezialist und entschuldigte sich nicht einmal über seine Sinnesänderung. Was aber die Höhe ist: Bevor die CD herauskam, meldete sich Klaus Heymann wieder bei mir und bat mich, die CD-Textbeilage zu diesen Werken zu schreiben! Er hätte doch einen Spezialisten engagiert, meinte ich. Mr. Heymann meinte: «You are not a good sport and don’t seem to belong to the Family». Ich antwortete, dass ich bisher nie etwas wie eine «Family» zu spüren bekommen hatte. Es war nicht das erste Mal gewesen, auf eine solche Art abgefertigt zu werden. Aber eben, diese Manager besitzen eine große Macht und können mit Künstlern umgehen wie es ihnen passt – außer natürlich man ist ein Star und darf sich mithilfe von Agenten und Rechtsanwälten wehren.


    Zu meinen weiteren Filmmusik-Projekten gehörten z. B. eher ausgefallenere Werke von Kabalewski, Popov, Pizzetti, Renzo Rossellini usw. 1988 trat ich sogar mit Ursula Vaughan-Williams wegen einer kompletten Filmmusik-CD von Scott of the Antartics in Verbindung. Sie meinte, so was würde sich nicht eignen. Anscheinend eignete es sich dann doch noch 2017, als diese komplette Musik auf dem Label Dutton erschien – hervorragend dirigiert von Martin Yates. Auch Goffredo Petrassi und Giovanni Fusco mochten es nicht so, dass man ihre (hervorragenden) Filmmusiken auf CD veröffentlichte…


    H.K.: Gibt es bei Dir so etwas wie «Kriterien», welche Filmmusiken Du auswählst?


    Adriano: Wenn ich mich für eine Suite entscheide, die nicht bereits vom Komponisten selbst hergestellt wurde, dann kommen Sequenzen in Frage, die als substanzielle Einzelstücke daherkommen können. Oder ich vervollständige solche, indem ich sie mit früher oder später aufkommenden Fragmenten «kombiniere». Da ein klassischer Filmmusik-Score ohnehin als einer Ansammlung vieler, meist kürzeren «cues» besteht, ist eine solche Arbeit meistens keine große Sache. In der Partitur von Honeggers Regain, die eine grosse Anzahl an «cues» verfügt und woraus der Komponist bereits eine «suite de concert» gezogen hatte, fand ich noch eine beträchtliche Anzahl sehr interessanter «cues», um eine zweite Suite zu extrahieren. Auf meiner CD-Einspielung befinden sich beide Suiten.


    H.K.: Haben Dir die Filmmusiken die Türen geöffnet, um auch als Opern- und Konzertdirigent tätig zu sein?


    Adriano: Ich mochte nie über Filmmusik fachsimpeln, ich mag sie einfach studieren, edieren und aufführen, so wie ich Symphonik, Oper, Bühnenmusik und Ballett mag. Ich konnte oft durch glückliche Zufälle den Zugang zu wundervollen Scores finden – und durfte sie sogar für Marco Polo einspielen, was ich zu den größten Ereignissen in meinem Leben rechne. Dadurch ergab sich, dass mich Klaus Heymann auch als Dirigent von symphonischer Musik und von Opern akzeptierte, wenn ich auch zuvor noch nie in einem Konzertsaal als Dirigent aufgetreten war! Ich hatte nur mit einem Jugendorchester zusammengearbeitet.


    H.K.: Man war dann aber doch so zufrieden mit Deinen Filmmusik-Aufnahmen – und Du letztlich auch –, so dass Du die Gelegenheit bekamst, auch anderes – seltenes – Repertoire einzuspielen?


    Adriano: Mr. Heymann erzählte nach unserer Trennung noch lange herum, dass er es war, der mich als Dirigent entdeckt hatte. Gegen Ende meiner Naxos-Ära jedoch wollte er immer mehr Besitz von mir ergreifen. Als ich von ihm immer mehr Absagen von geplanten Projekten erhielt, meldete ich mich bei anderen Labels, die mich gerne genommen hätten. Doch Mr. Heymann warnte mich: Wenn Sie zu einem anderen Label wechseln, dürfen sie nie mehr für mich arbeiten. Ich hatte dies damals gerade vor – und es passierte alles reibungslos. Ich hatte mir einfach vorgenommen, 30 CDs für Marco Polo einzuspielen, koste was es wolle, und dies war manchmal ziemlich mühsam, um nicht auch noch die tiefen Gagen und alle Rechte abtretenden Verträge zu erwähnen, die wir Heymann-Künstler akzeptieren mussten. Doch ich war damit einverstanden, für mich ging’s nur darum, dass schöne unbekannte Musik endlich auf CD veröffentlicht wurde.


    Von den von mir für Marco Polo/Naxos eingespielten 30 CDs sind 15 Filmmusik-CDs. Bis heute durfte ich auf verschiedenen Labels ganze 49 CDs mit unbekanntem Repertoire einspielen. Für eine 50. CD, wofür ich alles bereitgestellt habe, suche ich seit einiger Zeit Sponsoren und ein Label, doch langsam glaube ich nicht mehr daran – obwohl es sich um großartiges nachromantisches Symphonik-Repertoire handelt, deren Partituren ich ab den Manuskripten ediert habe, damit sie später noch von einem Musikverlag gedruckt werden.


    H.K.: Ich kann mir vorstellen, dass Du nicht einfach die Soundtracks aufnehmen konntest, sondern sie von Dir als symphonische Suiten gewissermaßen umgearbeitet werden mussten.


    Adriano: Ja – es kam auch vor, dass ich gewisse Sequenzen, wozu keine Manuskripte mehr aufgefunden werden konnten, durch Abhören der Tonspur eine Partitur erstellen musste. Da gab es z.B. eine Nummer aus Honeggers Les Misérables (eine CD übrigens, die mit dem spanischen Preis Ritmo ausgezeichnet wurde). Als ich das Stück fertig neuorchestriert hatte, erschien mir seine Tonart, im Vergleich mit den restlichen Stücken, etwas fremd daneben und fand heraus, dass die damalige Tonspur in einer unkorrekten Geschwindigkeit montiert worden war: Es ging um einen bloßen Halbton-Unterschied, also musste ich von Hand alles neu schreiben, denn damals gab es noch keine Notations-Software!


    Damals investierten CD-Producer noch in ihre Künstler. Heute muss man mit möglichst viel Sponsorengeld daherkommen, wenn man etwas Rares auf CD einspielen möchte – außer man ist ein Star und darf selbst bestimmen, was man aufnehmen will, gleich ob man es zum ersten, zum zweiten oder dritten Mal tut.


    H.K.: Du bist ja nun ein «Multitalent», komponierst auch und nimmst symphonisches Repertoire auf. Welchen Stellenwert haben für Dich persönlich die Filmaufnahmen?


    Adriano: Ich hatte mich schon während meiner Studienzeit in den 1960er-70er Jahren mit Theater- und Filmmusik beschäftigt und gelegentlich auch in Schulen Vorträge über dieses Thema gehalten. Als Theatermensch, hatte ich früher eigene Stücke geschrieben, die sogar aufgeführt wurden – unter meiner Mitwirkung als Darsteller, Regisseur und Komponist. Von mir gibt es über 30 Bühnenmusiken, teils auch elektronische. Als die Synthesizer aufkamen, war dies natürlich ein gutes Mittel, um ganz besondere Effekte zu kreieren, denn das Geld für ein echtes Instrumentalensemble war ohnehin nie vorhanden. Später gab es elektronische Soundbanks mit mehr eingebauten Klängen, die echten Instrumenten ziemlich nahekamen; mit heutigen Software-Programme instrumentierte Partituren erklingen fast wie live. Etwa ein Dutzend meiner Bühnenmusik-Suiten liegen in Form von «echten» Partituren vor, man könnte sie im Konzertsaal aufführen. Die 1960er-70er waren meine verrückten Lehrjahre, wo ich allerlei Stilistisches ausprobieren wollte, ein «learning by doing», was mir viel mehr Wissen und Erfahrung einbrachte als durch Unterricht in einem Konservatorium!


    H.K.: Gibt es ein «Schlüsselerlebnis», was Deine Leidenschaft für die Filmmusik geweckt hat?


    Adriano: Dass Filmmusik etwas ganz Tolles und Wichtiges sein muss, realisierte ich gerade durch Hitchcocks Psycho: es ging um eine ernsthaft konzipierte, meisterhafte Partitur. Davon wurde ich mit der Zeit fast besessen; ich fragte mich (nicht vergessen: in den 1960ern!), warum man so was auch nicht konzertant aufführen würde. Es war hochkarätige Musik à la Honegger oder Prokofiev. Ich wollte mir diese Partitur genauer kennenlernen, doch dies war dann erst viel später möglich, als die Psycho-Musik endlich auf Platte erschien. Den Namen Bernard Herrmanns hatte ich mir ab Beginn eingeprägt und ich versuchte, mir möglichst viele Filme, die er vertont hatte, anzusehen.


    H.K.: Nur als kurzer Einwurf: Mir gefällt Deine Herrmann-CD auch ganz besonders. Das ist sehr intensiv-ausdrucksstarke Musik, wo man besonders merkt, dass sie der Charakterisierung einer Filmszene dient. Meine Lieblings-Filmmusik-CD von Dir ist gleich beim ersten Hören der Ibert geworden – «Macbeth». Der Film von Orson Welles hat mich immer schon tief beeindruckt mit seinen ausdrucksstarken Bildern. Merkwürdigerweise habe ich da nie realisiert, was für eine anspruchsvoll-«moderne» Musik das ist. Die hat wahrlich einen Eigenwert.


    Natürlich recherchierte ich über weitere Filmmusik-Komponisten um herauszufinden, dass das damals noch junge Hollywood lauter eingewanderte hochkarätige Europäer engagiert hatte, die diesen typischen «historischen» Hollywood-Sound kreierten. Allerdings durften fast all diese Komponisten ihre Scores nicht einmal selbst orchestrieren! Sogar die Partituren eines super-farbig «Orchestrators» wie Korngold wurden vom Personal aus der Filmmusik-Studioabteilung ausgearbeitet. Komponisten mussten ein an einer Moviola visionierten Filmes entstandenes Particell abliefern. Und oft wurden die «full scores» nach Film-Produktionsende einfach entsorgt; behalten wurden nur die Particells – falls Copyright-Probleme auftauchen würden. Mehrere dieser wunderbar klingenden, klassischen Hollywood-Suiten, z. B. auf jener erwähnten RCA-Filmmusik-Serie, mussten von Christopher Palmer komplett «ab Ohr» und anhand spärlichen Zusatzangaben im Particell re-instrumentiert werden.


    H.K.: Bei Filmmusik-Konzerten und -aufnahmen stellt sich die grundsätzliche Frage nach ihrem Eigenwert: Wie kann sie auch unabhängig vom Film bestehen und eine Hörerfahrung eigener Qualität vermitteln? Kann man sie vielleicht so hören wie eine Symphonische Dichtung, also als eine Art Programmmusik? Würdest Du so einen Vergleich für sinnvoll erachten? Programmmusik ist ja mehr als nur eine Begleitmusik zur Literatur - Richard Strauß unterschied «Programmmusik» und «Literaturmusik». Entsprechend hört man Filmmusik ohne Film auch nicht mehr nur als «Untermalung» zu den Bildern auf der Kinoleinwand.


    Adriano: Natürlich ist Filmmusik «Programmmusik» – und wo liegt das Problem? Auch Lully, Mozart, Beethoven und viele andere frühere Komponisten hatten sich in diesem Bereich betätigt­. Es ist jedoch nicht die reine «Tondichtungs»-Programmmusik à la Liszt, Richard Strauss oder Respighi, deren beschriebene «Handlungen» ohne zusätzliches optisches Geschehen abläuft und welche dieses Geschehen kommentiert und auch nur untermalt – sondern reine «Bühnenmusik». Für abgehobene «absolute Musik»-Klassik-Liebhaber und viele Musikwissenschaftler sind reine Tondichtungen oft auch nichts sehr Wertvolles – geschweige denn Filmmusik! Sie wollen nicht einmal einsehen, dass Filmmusik (wie sie z. B. in Europa in den 1930er-50er Jahren von mehreren großen «Klassik»-Komponisten, die noch einen super Sinn fürs Theater hatten, konzipiert wurde), derart substantiell, ja sogar «symphonisch» daherkommen kann und auch in Form von Suiten verewigt, oder komplett im Konzertsaal erklingen sollte! Bereits in den 1980er Jahren fanden in England und in Deutschland Filmmusik-Konzerte mit Suiten vergangener und auch zeitgenössischen Scores statt, dargeboten von großen Symphonieorchestern. So etwas hatte ich in Zürich vergebens versucht, auf die Beine zu stellen; ich war damals noch «zu unbekannt», wie man mir mitteilte. Solche Konzerte finden inzwischen seit einigen Jahren in Zürich statt, unter der Leitung «bedeutender» Dirigenten…


    Weltweit gibt es heute großartige «philharmonische» Filmmusikkonzerte, auch welche, wo die Musikspur eines gezeigten Films stillgelegt wird, um sie synchron von einem Orchester im Konzertsaal darzubieten. Noch interessanter und wertvoller sind «konzertante» Darbietungen von Stummfilmen mit ihren ursprünglichen – oder neu komponierten Musikbegleitungen. Was Frank Strobel in diesem Gebiet leistet, ist einfach sensationell! Ihm verdanken wir, dass (restaurierte) Stummfilme endlich wieder «hörbar» gemacht, und als Gesamtkunstwerk wiederaufgeführt werden – wie damals in den luxuriöseren Filmpalästen, die, statt nur eines Klaviers, sich ein großes Kino-Orchester leisten konnten.


    H.K.: Wie war die Resonanz angesichts der vielen Vorurteile gegenüber Filmmusiken, die es gibt? Du sagtest einmal, dass Du für Deine Jacques-Ibert Filmmusik-CD den «Grand Prix du Disque» bekommen solltest, aber dann die Jury einen Rückzieher machte, weil es ja «nur» Filmmusik sei.


    Adriano: Das war, in der Tat, so. Darüber habe ich nicht nur mich selbst geärgert, sondern auch Iberts Sohn Jean-Claude und der Verleger Jean Leduc, mit denen ich befreundet war. Übrigens folgte Innerhalb der Ibert-Nachkommen noch ein Riesenknatsch wegen der Rechteverteilung meiner Orchestrierung des kurzen Chanson de Sancho, die immer wieder am Rundfunk gespielt wird und reichlich Komponisten- und wesentlich geringere Arrangeur-Tantiemen einbringt.


    Für meine Filmmusik-CDs gab es praktisch immer gute Rezensionen – außer aus der Schweiz, wo ein Kritiker wohnt, der mit mir angeblich ein Problem hatte und in seinen Rezensionen immer was zu Meckern fand. Bei der ersten Honegger-CD musste er unbedingt hinzufügen, dass ich auch als Fotomodell tätig war... Andere Kritiker mussten (und müssen heute noch) in ihren Rezensionen oder Interviews noch unbedingt erwähnen, dass ich nur mit meinem Vornamen allein auftrete und dass ich am Zürcher Opernhaus als Souffleur (besser definiert «maestro suggeritore», also «dirigierender Souffleur») tätig war. Na ja, eine jpc-Rezension meiner CD mit Respighis Kantate La Primavera machte jedoch alles wieder gut: dort hieß es: «Die Umsetzung ist so famos gelungen, dass es schier unglaublich scheint, dass dieser exzeptionelle Respighi-Kenner sein tägliches Brot als Souffleur an der Zürcher Oper verdient.»


    (Zum Thema monomial auftreten: In den 1950er Jahren gab es z. B. den Pianisten Solomon, heute gibt es die Geigerin Midori; doch das scheint niemanden zu stören. Ich trete nur so auf, um den Familiennamen meiner Eltern nicht zu brauchen; die haben nämlich mit allen Mitteln zu verhindern versucht, dass ich Künstler werde).


    H.K.: Du hast über Deine Erfahrungen mit Naxos gesprochen – aber Du hattest ursprünglich glaube ich ein eigenes Label?


    Adriano: 1977 war ich der erste, der eine schweizerische «Original Soundtrack Recording» auf Schallplatte herausgab, dies auf meinem eigenen damaligen Label Adriano Records! Es war eine repräsentative Auswahl der Musik zum Schweizer 1941er Filmklassiker Romeo und Julia auf dem Dorfe, komponiert von Jack Trommer, mit dem ich auch befreundet war. Dieses Unternehmen war mit allerlei «menschlichen» Problemen verbunden; diejenige technische Natur (die Restaurierung der Tonspur) waren im Vergleich Lappalien. Und noch heute, wo ich gerade dabei bin, diese wundervolle Musik auf CD wieder zu veröffentlichen, gibt es Unannehmlichkeiten:


    https://www.mediafire.com/file…_Seldwyla_-_2024.pdf/file


    https://www.mediafire.com/view…ORDS_-_Catalogue.jpg/file


    H.K: Anschließend denke ich, wir besprechen, lieber Adriano, eine Auswahl Deiner Filmmusik-CDs.

  • film_macbeth_1.jpg



    Beginnen wir doch mit Jacques Ibert, der als Mitglied der Group de Six merkwürdiger Weise Musikfreunden weniger bekannt ist als z. B. Francis Poulenc. Er schrieb neben seinen Balletten, Orchesterwerken und Kammermusik immerhin 60 Filmmusiken. Ibert habe ich Dank Deiner drei CDs erst für mich entdeckt – Du hast ja nicht nur Filmmusiken von ihm aufgenommen, sondern auch Ballette. Bemerkenswert ist, dass sich die Filmmusik von «Macbeth», die mich gleich fasziniert hat, bruchlos in sein symphonisches Werk einordnet, als wäre es eigentlich gar keine Filmmusik mit nur «begleitender» Funktion. Der Film von Orson Welles ist auch sehr bildstark, und dazu passt natürlich eine wiederum sehr Bild-assoziative impressionistische Musik. Siehst Du bei Ibert die Filmmusik auch so im Kontext seiner symphonischen Musik?


    Adriano: Mit dem Wort «symphonisch» soll man vorsichtig umgehen. Ibert war auf alle Fälle kein «Symphoniker» wie z.B. Roussel, Ropartz oder Magnard, seine Stärken waren Ballette, Symphonische Dichtungen und Konzerte. Wenn sie unbedingt so klassifiziert werden muss, kann Iberts Filmmusik auch «symphonische Züge» aufweisen. Gute (und gut funktionierende) Filmmusik muss vor allem von einer bloßen «hintergrundhaften begleitenden» Funktion abweichen; sie muss in der Lage sein, was man auf dem Bildschirm mitbekommt zu «kommentieren», «interpretieren» oder, sogar zu «kontrapunktieren». Auch Sachen spüren lassen, die sich hinter der offensichtlichen Handlung verbergen, um diese manchmal auch hochzunehmen oder zu hinterfragen! Aber dazu braucht es auch Filmregisseure, die etwas von Filmmusik verstehen, mit klaren Ideen, was sie mit ihrem Soundtrack beabsichtigen und sie müssen eng mit ihren Komponisten zusammenarbeiten. Was Honegger und Ibert betrifft: Beide durften auch mit hervorragenden (und «Off-Stream-») Regisseuren zusammenarbeiten.


    H.K.: Mit Arthur Honegger hat Ibert gemeinsam eine Operette geschrieben.


    Adriano: Stimmt nicht ganz: Die Honegger-Ibert-Zusammenarbeit L’ Aiglon ist ein «drame lyrique en cinq actes», also ein «lyrisches Drama», eine Oper. Darin geht es um Napoleons Sohn, dem jungen Herzog von Reichstadt, der an Tuberkolose erkrankte und in Schönbrunn starb. Es war Honegger, der eine Operette (mit dem Titel Les Aventures du Roi Pausole ) komponierte.


    H.K.: Bei «Macbeth» und auch bei «Golgotha» dirigierst Du die «Suiten», die, wenn ich das richtig verstehe, eine von Ibert eigens erstellte Konzertfassung der ursprünglichen Filmmusik darstellen.


    Adriano: Was Iberts Macbeth betrifft: sein 195-seitiges Autograph hat in der Tat überlebt. Da ich auf meiner CD noch weitere, wichtige seiner Filmmusiken verewigen wollte – nachdem Klaus Heymann keine zweite Ibert-Film-CD mehr haben wollte – musste ich leider auf einen kompletten Macbeth verzichten und die vom Komponisten zusammengestellte «Suite» nehmen, von der er übrigens gehofft hatte, Leeds Music würde sie in Druckform veröffentlichen. Doch es kam nie dazu. Dies sind also die 30 Minuten, die auf meiner CD zu hören sind. Nebst Harfe, Klavier und Celesta verlangt diese Partitur noch einen atmenden und stöhnenden Chor, Dudelsack-Pfeifen und ein großes Schlagwerk, inklusive den Jazz-typischen Millboard Bells. Die Dudelsack-Pfeifen können durch Blasinstrumente ersetzt werden; auf meiner CD wird übrigens auch gestöhnt und geatmet…


    Welles hatte für seine Macbeth-Schauspielfassungen Bernard Herrmann als Komponist herbeigezogen – eine von 1940 wurde sogar auf Schellack verewigt (Herrmanns erste kommerzielle Aufnahme als Dirigent und Komponist!). Es war also klar, dass Herrmann auch den Macbeth-Film vertonen solle. Dieser zog sich jedoch verärgert zurück, weil Welles noch nicht in der Lage war, ihm einen Film-Rohschnitt zu zeigen. Mit allen Filmrollen reiste Welles Ende 1947 ab nach Rom, um seinen Film zu schneiden. Dort entschloss er sich für den Komponisten Jacques Ibert, der gerade in Rom wohnte; Ibert lieferte seine Partitur innert 5 Wochen. Die Chorsequenzen wurden bereits in Rom separat aufgenommen und dann nach Hollywood geschickt, um sie mit den dort eingespielten Orchestersequenzen zu synchronisieren, oder – wie der Komponist in seinen Anweisungen schreibt – «zu modulieren».


    Von diesem 90-minütigen Film entstand übrigens noch eine etwa 20 Minuten längere «Extended Version», mit zwei zusätzlichen Musikstücken (Prologue und Epilogue, die das Publikum bei schwarzer Leinwand abhören sollte). Für diese «Arrangements» vorhandener Sequenzen war nicht Ibert, sondern die Musikabteilung von Republic Pictures verantwortlich.


    Republic hatte sich als Studio für Western- und Low-Budget-Produktionen einen Namen gemacht; Macbeth konnte mit 800'000 US$ produziert worden. Die damalige britische Hamlet-Produktion mit Laurence Olivier (mit Musik von William Walton) hatte ein Zehnfaches gekostet – und gewann den Preis am Filmfestival von Venedig. Welles, der Venedig seinen Macbeth ebenfalls eingereicht hatte, zog seinen Beitrag zurück, als er erfuhr, dass sich bereits eine hochrangigere, luxuriösere Shakespeare-Verfilmung auf der Liste befand.


    Erstaunlich, dass bei dieser Orson Welles-Produktion in Sachen Filmscore nicht gespart wurde, was man im Gegenteil aus deren B-Film-typischen Dekorationen (Wände, Treppen und Pappmaché-Felsengebilde) erahnen kann. Doch gerade diese kantig-minimalistische, expressionistische, von Welles’ Mercury Theater-Inszenierung übernommene filmmische Umsetzung macht sie zum Meisterwerk.


    Iberts Soundtrack wurde von Efrem Kurtz, einem aus Russland stammenden, dann aus Nazi-Deutschland in die USA emigrierten hervorragenden Dirigenten eingespielt – der höchst selten in Hollywood-Studio anzutreffen war. Bekannt wurde er vor allem durch Einspielungen von Werken zeitgenössischen russischer Komponisten. Ein größeres Studio wie Paramount oder Warner Brothers hätte diesen avantgardistischen, dissonanten und stilistisch anspruchsvollen Soundtrack nie akzeptiert. Republic Pictures und Orson Welles sei also Dank!


    Inzwischen gibt es eine hervorragend digitalisierte Restaurierung von Macbeth auf DVD. Ich verfügte damals nur über eine technisch sehr zu wünschen übrig lassende Kopie auf VHS-Kassette, die ich von einer Fernseh-Ausstrahlung selbst abgezapft hatte.


    Unsere Aufnahmen in Bratislava werde ich nie vergessen! Es herrschte eine enorm kreative Atmosphäre. Das Orchester war begeistert von dieser tollen Musik und brachte super Leistungen zustande – besonders wenn man die beschränkte Zeit betrachtet, die uns, wie üblich, Marco-Polo/Naxos-zur Verfügung stellte.


    le_demon_de_l_himalaya.jpg



    H. K.: Auch bei Honegger merkt man, dass er die Filmmusik Ernst nimmt, sie ist eigentlich – so mein Eindruck – weniger «Film»-Musik als Film-«Musik». Bei ihm fällt auf, dass er die einzelnen Musikszenen zusammenhängend durchkomponiert hat, der Filmmusik also ein symphonisches Gepräge gibt. Honegger ist vielleicht der bedeutendste unter den Schweizer Komponisten des 20. Jhd. Seine Symphonien und seine szenischen Oratorien sind weltbekannt. Schon früh habe ich mir Honegger durch die vorzüglichen Aufnahmen von Serge Baudo mit der Tschechischen Philharmonie zugänglich gemacht. Baudo hast Du persönlich, wie ich weiß, ja gekannt und mit ihm gearbeitet.


    Adriano: Der junge Honegger kam zur Filmmusik durch den berühmten Regisseur Abel Gance, als dieser 1922 einen Komponisten für die Begleitmusik seines 330-Minuten langen, stummen Napoléon-Epos suchte. Es war unmöglich für einen einzelnen Komponisten, innert kurzer Zeit so etwas zu realisieren, daher wirkten noch verschiedene Komponisten und Arrangeure mit. Honegger nahm seine Mitwirkung noch nicht sehr ernst, doch er fühlte sich immerhin geehrt, etwa 30 Minuten Originalmusik beisteuern ­zu dürfen. Ähnlich erging es ihm auch 1927, als er Musik für Gance‘s La Roue komponieren sollte, doch hier blieb es nur bei einer Ouvertüre. Als dann der Tonfilm kam, durfte er – allein bis 1934 – ein Dutzend Filme vertonen, und so ging es weiter bis 1941, um ein Total von 43 zu erreichen, darunter auch Partituren für Dokumentarfilme und einen Animationsfilm. Damals realisierte er, dass diese Musikgattung ihm mehr Geld einbrachte als Originalwerke für den Konzertaal – dazu kommt, dass er ohnehin ein passionierter (und hervorragender) Theatermensch war. Seine Tochter hat mir erzählt, dass er während Filmdrehs oft neugierig auftauchte, um sich bereits bevor Drehschluss inspirieren zu lassen.


    H.K.: Sehr bemerkenswert, was Du über den «Theatermenschen» Honegger sagst!


    Adriano: Seinen frühen Le Roi David (1922) nannte er «psaume symphonique», also weder Kantate noch Bühnenstück, doch er wurde ursprünglich für die Bühne konzipiert. Die ebenfalls szenisch konzipierte Judith, die zwei Jahre danach folgte, nannte sich zuerst «drame biblique», wurde nachfolgend in «opéra sérieux» und schlussendlich in «action musicale» umgewandelt. Jeanne d’Arc au Bûcher bekam den Titel «oratorio dramatique» und Nicolas de Flüe «légende dramatique». Eins von mir besonders geliebtes Honegger-Werk ist La Danse des Morts, die er «cantate sacrée» nannte. Honeggers erste, vollendete Oper ist Antigone (1927), mit dem Untertitel «tragédie musicale». Somit erkennt man, dass Honegger seine «musiktheatralischen» Kompositionen ständig versucht hatte, genauer zu definieren.


    Wenn man diese Vokal-Werke und seine sonstigen Orchesterwerke etwas genauer unter die Lupe nimmt, entdeckt man überall den typischen «Honegger-Stil» – oft auf barocke Musikformen basierend. Pacific 231, sein berühmtestes Orchesterstück (ein «mouvement symphonique», detailliert «programmatisch» eine Lokomotive beschreibend), ist nichts anderes als ein Choral zu Ehren Bachs – natürlich voller Dissonanzen. Viele Filmmusik-Sequenzen wurden ähnlich konzipiert. Nur wenige Honegger-Filmpartituren wurden für großes Symphonieorchester geschrieben. In der frühen Tonfilmära war die Audiotechnik noch nicht sehr fortgeschritten, also musste man eher kammermusikalisch orchestrieren. Gewisse Instrumente klangen unvorteilhaft. Weil sich z.B. das Alt-Saxophon bestens auf Tonspur verewigen ließ, verwendete es auch Honegger gerne immer wieder. Kontrabässe klangen miserabel; sie mussten oft durch ein Klavier verstärkt, oder ganz weggelassen werden…


    Durch Honeggers Tochter und dem Dirigenten Serge Baudo durfte ich auch einiges über Honegger erfahren, was nicht in Biographien steht. Und sogar Harry Halbreich kennenlernen, den Autor einer umfangreichen, maßgebenden Honegger-Biographie. Als er damals erfuhr, dass ich an den Filmmusiken arbeitete, kam er mich überstürzt in Zürich besuchen; die genaue Liste der Filmmusiken seines dicken Honegger-Werkkatalogs redigierten wir zusammen. Manuskript-Fotokopien von Honeggers Partituren (gottseidank hatte er praktisch alle aufbewahrt!) bekam ich von Honeggers Tochter. Von einigen seiner Filmmusiken, wie z. B. Mermoz, Les Misérables und Regain hatte der Komponist symphonische Suiten für den Konzertsaal extrahiert. Wichtig zu erfahren war auch noch, dass er (vor allem als er manchmal unter Zeitdruck stand), den Komponisten Arthur Hoérée als Mitarbeiter herbeizog. So gibt es Filme (wie z.B. Rapt), worin Sequenzen beider Komponisten vorkommen. Mit Hoérée habe ich während einiger Jahren von seinem Tod noch korrespondiert, er war von meiner Arbeit begeistert.


    Übrigens war es Honegger, der anfangs der 1930er Jahre einem verzweifelt auf Auftragssuche jungen Miklós Rózsa empfahl, Filmmusik zu komponieren – und ihm Kontakte in England vermittelte. Die beiden hatten sich in Paris, beim Komponieren von Film-Wochenschau-Begleitmusiken für Pathé-Journal, kennengelernt.


    Pacific 231 als Filmmusik: 1949 visualisierte Jean Mitry Honeggers Tondichtung durch eindrucksvolle (virtuos edierte) Sequenzen in einem «künstlerischen Dokumentarfilm», der am Cannes-Festival prämiert wurde. Und 1962 dienten Auszüge dieser Musik als psychologisch-dramaturgische Introduktions- und Schlussmusik einer BBC-TV-Fassung von Anna Karenina – mit Claire Bloom und Sean Connery in den Titelpartien.


    f910c4e150f916fb9a1748061e327653.jpg



    H.K. In diesem französischen Kulturkreis befindet sich auch Georges Auric, die wie Jacques Ibert zur „Groupe de Six“ gehörte, und eine ganze Reihe von ideenreichen Filmmusiken schrieb. „La Belle et la Bête“ von Jean Cocteau ist ein bedeutender Film (deutsche Fassung „Es war einmal“) den ich leider nicht kenne und mir gerne anschauen würde. Von Cocteau berühmt in Bezug auf die Musik ist sein Urteil über Maurice Ravel, wonach dieser den Impressionismus „geläutert“ habe: „Musik ohne Sauce!“ Aurics „impressionistische“ Musik finde ich von großem Farbenreichtum und einer enormen Vielschichtigkeit, die aber trotzdem – im Geiste von Cocteau – nie opulent oder wässrig effekthascherisch ist. Mich hat sie sehr beeindruckt!


    Adriano: Zwischen 1930 und 1975 hat Auric 130 Filmscores, ein Dutzend Ballette (u.a. auch für Diaghilev) und ein weiteres Dutzend Bühnenmusiken – dafür nur 5 kürzere Orchesterwerke für den Konzertsaal – geschrieben! Wie Honegger war auch Auric, war ein Theatermensch und seine Ballette waren sehr erfolgreich. Während über 20 Jahren war er Präsident der französischen Urheberrechte-Gesellschaft, als Rezensent und als Musikwettbewerb-Jurymitglied tätig. Auch weil er mit einer vermögenden Kunstmalerin verheiratet war, hatte er nie Geldsorgen. Sein Motto war es «Musik für jeden Tag» doch auch «Immer was Neues» zu komponieren. Seine zweite Gattin (die wesentlich jünger ist als er) hat mir damals erwähnt, dass es sich alleine von den Tantiemen des Walzers aus dem «Moulin-Rouge»-Film (und dessen zahlreichen Bearbeitungen) ganz gut leben lässt.


    Die von mir 1994 komplett eingespielte Musik zu La Belle et la Bête (Die Schöne und das Biest) ist ein Meisterwerk. Die Mitwirkung eines wortlosen Chores macht sie noch esoterischer, märchenhafter; teilweise erinnert sie an Ravels Daphnis et Chloé. Sie ist nicht immer an die Filmhandlung gebunden, wirkt aber umso mehr enorm atmosphärisch. Von meinen vier Auric-CDs sind zwei Jean Cocteau-Filmen gewidmet. Die CD mit der Filmmusik zu «Lola Montez» verkaufte sich bestens.


    Eine Sequenz aus der Musik zu La Belle et la Bête wurde übrigens als Untermalung einer (Homosexuellen-) Liebeszene in Mike Nichols‘ Zweiteiler Angels in America verwendet. Im Abspann wird nur das Orchester ohne den Dirigenten erwähnt, wobei die anderen vorkommenden Stücke von/mit Berühmtheiten wie Henri Mancini dann doch namentlich erwähnt wurden. Nebst Thomas Newmans Originalsoundtrack hört man in diesem Film auch Stücke anderer Komponisten. Péter Eötvös’s Oper Angels in America ist übrigens ein Meisterwerk!


    Es gibt zwei schöne, klanglich hervorragend realisierte, von Rumon Gamba dirigierte Auric-Filmmusik-CDs von 1997 und 1999, die vor allem die humoristische Seite des Komponisten zeigen.


    (Fortsetzung s.u.!)

  • christopher-columbus-1949-film-be4450af-edce-45be-9ad5-334e34795cd-resize-750.jpg



    H.K.: Christopher Columbus von David MacDonald ist ganz anders als der Cocteau Film so etwas wie ein “Historienschinken“, beste Kinounterhaltung ohne höheren Anspruch.


    Adriano: Stimmt: Der Komponist selbst äußerte sich in ähnlichem Ton in seinen Interviews. Von meiner CD finde ich die drei kurzen, temperamentvollen Stücke aus der Musik zu Seven Waves Away (ein Rettungsbot-Drama wie Hitchcocks Lifeboat) die besten; die sollten doch mal im Konzertsaal erklingen! Im Film erklingen sie leider nur bruchteilhaft. Was das Mini-Klavierkonzert Baraza (aus der Musik zu Men of two Worlds) betrifft, hat der Producer/Aufnahmetechniker in Bratislava eine ziemlich katastrophale Klangbalance auf die Beine gestellt; ich durfte nicht intervenieren… Wie Addinsells Warsaw Concerto und andere solche «Filmmusik-Klavierkonzerte» wurde Baraza damals separat auf Schellackplatte veröffentlicht.


    Bliss’s erfolgreichste und beste Filmmusik ist diejenige zum Science-Fiction Film Things to Come. Von deren Suite gibt es auch hervorragende Einspielungen, dirigiert vom Komponisten (Decca), von Sir Charles Groves (EMI) und von Rumon Gamba (Chandos).


    alfred_hitchcock_rebecca_poster_shop_new.jpg



    H.K.: Franz Waxmans Filmmusik zu Hitchcocks «Rebecca» war für die Filmmusik in Hollywood wohl stilprägend. Hier habe ich das Gefühl, dass man, um Waxmans Kunst der differenzierten Untermalung zu verstehen, dann doch die Bilder braucht, obwohl auch diese Musik so eigenständig ist, dass man sie sich «symphonisch» gerne anhört.


    Adriano: Meine Aufnahme von Rebecca wurde von einigen USA-Kreisen kritisiert. Die hatten nicht verstanden, dass ich (wie mit all meinen Filmmusik-CDs) kein «archäologisches» Stereo-Remake der Partituren, sondern eine eigene Interpretation machen wollte – jedoch immer mit hohem Respekt fürs Original. Ich wage es zu behaupten, gewisse Aspekte dieser Werke manchmal etwas besser hervorgehoben zu haben, dies auch, weil bei einer Soundtrack-Aufnahme im Studio viele Konzessionen gemacht werden mussten, um sich vor allem ans Timing der Bildsequenzen zu halten. Und dazu konnte man in älteren Filmen die Musik nicht immer klar wahrnehmen (schlechte Montage, ungeschickte Ausblendungen usw.). Sogar ein Bernard Herrmann meinte, dass im Konzertsaal oder auf Platte die Tempi seiner Filmmusiken anders sein dürften als diejenige bei der Synchronisation im Studio. So entsprachen auch meine Tempi und Klangbalance nicht immer denjenigen des Originals. Und ich wollte auch zeigen, dass hinter dieser Musik oft viel mehr steckt. Da gibt es z. B. die längere Kern-Sequenz (Rebecca’s Room), wo Mrs. Danwers Rebecca (der «zweiten Mrs. De Winter») das Schafzimmer der verstorbenen «ersten» zeigt, ihre immer noch aufbewahrten Kleider und Unterwäsche streichelt – und sogar ahnen lässt, dass sie diese auf lesbische Art verehrt hatte. Durch Hitchcocks Kamera wirkt diese Atmosphäre zugleich beklemmend, erotisch und mystisch-surreal. Dieses Stück Waxmans klingt sogar Skrjabin-inspiriert – und so habe ich es auch darbieten wollen.


    Nicht alle dieser von mir ausgewählten Rebecca-Sequenzen kann man vereinzelt als «symphonisch» empfinden. Doch im Kontext – wenn man die ganze CD durchspielt – funktioniert es ganz gut. Es geht also um eine «Extended Symphonic Suite», keine Ansammlung von «Excerpts». Natürlich hätte ich lieber diese von mir sehr geliebten Rebecca-Partitur komplett aufgenommen – wie ich es im Fall von Jane Eyre und Les Misérables durfte. Dafür hätte es aber zwei CDs gebraucht.


    Auch diese CD-Produktion war mit Schwierigkeiten verbunden: Die von John Waxman erhaltenen Orchestermaterial-Fotokopien wurden nicht mir, sondern direkt nach Bratislava geschickt, ohne dass ich alles vorher genauer kontrollieren konnte. Ich drehte fast durch: nachts und während Mittagspausen musste ich diese (auf A4 oder noch stärker verkleinerte, handgeschriebene) Studio-Orchesterstimmen durchchecken. Die Kopie von Waxmans Partitur-Autograph war dafür auf enorm großen Blättern, doch dabei nicht scharf genug fotokopiert worden. Die Orchestermusiker zeigten viel Verständnis und Geduld, sie mochten mich – und natürlich auch diese Musik. John Waxman (der Sohn des Komponisten) wollte noch, dass ich eine von Steven R. Bernstein orchestrierte, verloren gegangene Sequenz als Partitur edierte.


    Dass mir John zwar nicht so ganz traute, war mir von Anfang an klar: Wer war ich schon – und dann auch noch aus Sweden=Switzerland stammend. Dann bekam ich eine E-Mail von Klaus Heymann, dass sich bei ihm Tony Thomas beworben hatte, um mich bei meiner Aufnahme zu «supervisen». Thomas war wohl ein Filmmusik-Experte, doch Noten lesen konnte er nicht. Ich antwortete, es nicht zu mögen, wenn man mir bei einer Aufnahme über die Schultern guckte, besonders wenn ich einen Score besser kennen würde als Tony Thomas. Der hätte sicher meine Tempi kritisiert und eine «archäologische» Neueinspielung angestrebt. Immerhin gab mir Klaus Heymann recht – vor allem weil Tony Thomas für sein «Supervising» ein mehrfach höheres Honorar als meine sehr bescheidene Dirigiergage verlangt hatte. (Carl Davis, der 1998 für das Label Colosseum Elizabeth and Essex von Korngold aufnehmen durfte, erzählte mir, dass sich auch bei ihm Tony Thomas als «Superviser» beworben hatte. Er willigte ein. Es dauerte jedoch nicht lange, bis Tony aus dem Studio rauskomplimentiert wurde, weil er ständig unterbrach und alles immer besser wissen wollte.)


    Elf Jahre nach meiner Rebecca-CD erschien eine weitere Einspielung auf dem Label Varèse Sarabande, mit dem Royal Scottish National Orchestra, hervorragend dirigiert von Joel McNeely. Da wurden die sogenannten Filmmusik-Puristen von schlaflosen Nächten befreit: Alle Tempi waren korrekt. Am meisten mochte man nicht, dass ich die beiden Salon-Walzer dieser Partitur derart ausgedehnt-sinnlich zelebrierte. Rezensenten schätzten immerhin an meiner Aufnahme, dass sie 18 Minuten mehr Rebecca enthielt als diejenige McNeelys…


    Erstaunlich, wie oft Musikliebhaber oder Rezensenten immer alles besser wissen wollen, und dies ohne eine Partitur vor Augen zu haben. In ihren Kommentaren schreiben sie aber nie «das ist meine persönliche Meinung», sondern schmettern ihre Verdikte ex cathedra heraus. Am schlimmsten sind jene, die eine Interpretation nicht gut finden, weil sie die Musik – oder sogar ihren Interpreten persönlich – nicht mögen. Damals war die Welt gottseidank noch nicht von Social Media übersät – wo sich jeder über jeden kleinsten Furz öffentlich äußern darf. Da blieb mir sicher einiges erspart… Ich bin übrigens nach wie vor ein verbissener Social-Media-Gegner!


    a03f16a466ffcb4c7196b5d79983e74a.jpg




    H.K.: Deine Aufnahme von Bernard Herrmanns «Jane Eyre» hat mich auch sehr beeindruckt – dabei ist die Musik ganz anders als bei Ibert oder Honegger. Man spürt auch ohne den Film die szenische Bindung. Es dominieren die Streicher und ich finde sie in ihrer die Gefühle und Stimmungen ausmalenden Art sehr einfühlsam, sehr subtil und nie kitschig.


    Adriano: Die dramaturgische Situation von Rebecca und Jane Eyre ist ähnlich: Eine junge, vielleicht etwas zu hypersensible Frau zieht in ein Haus ein, mit dessen früherer Bewohnerin etwas nicht ganz in Ordnung war. Die eine war verschwunden um Selbstmord zu begehen, die andere war irre geworden und wird (in demselben Haus!) heimlich eingesperrt gehalten. Das Benehmen ihres ehemaligen Gatten ist daher merkwürdig – und die Atmosphäre des Hauses, wo sich die Handlung abspielt, wird durch Verschwiegenheit und Missverständnisse dementsprechend beeinflusst. Es geht um verdrängte Vergangenheit. Beide junge Hauptprotagonistinnen, die zweite Mrs. de Winter und Jane, sind in den Hausherrn verliebt – der eine wird am Anfang, der andere erst am Ende geheiratet. Was aber in beiden Filmen wichtig ist, ist deren innere und äußere «gotische» Atmosphäre, wie sie von diesen Frauen allmählich wahrgenommen und zum Krisenfaktor wird, denn die Wahrheit kommt erst ganz am Ende ans Licht. Es sind dies ideale Voraussetzungen für gute Filmkomponisten: beide, Waxman und Herrmann, haben dies perfekt verstanden und umgesetzt.


    Die Autographen-Partitur von Jane Eyre, die mir damals zugestellt wurde, bestand aus A4-Mikrofilm-Printouts, die alles andere als leicht lesbar waren. Da arbeitete ich noch mit der primitiveren Notations-Software «Notator», die auf einem winzigen Macintosh-Rechner funktionierte und deren Partituren im Tintenstrahlverfahren ausgedruckt werden konnten. Damit habe ich einige Honegger-Partituren und Aurics La Belle et la Bête – inklusive Orchestermaterial – hergestellt. Ich stieg erst 1994 auf den «Sibelius»-Scorewriter um, der anfänglich weder Windows- noch auf Macintosh-, sondern nur ACORN-Computer-tauglich war. Endlich gab es ein Programm, womit man Noten perfekt schreiben konnte! Mit «Notator» mussten z.B. alle Vorschläge noch «rhythmisch spielbar» umgeschrieben werden, sie ließen sich noch nicht durch kleine Extra-Noten symbolisieren.


    Für mich besitzt diese geniale Jane Eyre-Musik einen enormen Reichtum an Ideen und Farben. Sie ist zutiefst sensibel und höchst atmosphärisch konzipiert. Man spürt, dass sich der Komponist ernsthaft mit ihr auseinandergesetzt hat. So etwas kommt manchmal in seiner späteren Post-Vertigo-Ära, aber nicht immer wieder vor (hartgesottene Herrmann-Fans werden mir diese hier Behauptung nicht verzeihen…). Es entstanden, meiner Meinung nach, leider auch einige thematisch weniger substantielle und oft allzu repetitive Filmscores, wo der Komponist seine «Signatur-Modulation» endlos wiederholen und immer wieder anders zu transponieren pflegte, und wo ich oft denke, so etwas könnte sogar von einer «Herrmann Factory» oder – neuerdings – von künstlicher Intelligenz hergestellt werden.


    In dieser hochoriginellen Jane Eyre werden ­durch eine ausgeklügelte, minutiöse Orchestrierung faszinierende, atemberaubende Stimmungen kreiert, gleich ob sie Gefühle, eine dramatische Landschaft oder Handlung beschreiben.


    Für meine Aufnahme wollte ich übrigens alle Streicher durchweg ohne Vibrato spielen hören. Herrmann mochte Vibrato nicht besonders!


    Ich bin glücklich, dass diese 78 Minuten dauernde, komplette Jane Eyre auf einer CD Platz finden konnte – meinen Dank an Mr. Heymann und vor allem dem fabelhaften Radioorchester Bratislava. Es wird behauptet, dies sei Bernard Herrmanns längster und «romantischster» Filmscore – dies genauer nachzuforschen überlasse ich den Spezialisten.


    Auch hier bringt es weniger, sich einzelne Stücke ohne Bild anzuhören – außer man analysiert rein musikwissenschaftlich... Wenn man sich aber die ganze CD chronologisch anhört, gerät man allmählich in einen unwiderstehlichen Sog.


    Herrmann dirigiert auf seiner «DECCA Phase Four»-Aufnahme von 1970 eine 13-minütige «Selection» aus Jane Eyre.


    1993 verfügte ich nur über eine VHS-Kassette des Films als zusätzliche Referenz (DVDs kamen erst 1997). Eine kommerzielle (technisch aufgebesserte) CD des «Complete Original (Mono-) Soundtracks» erschien erst 2011.


    Zum Schluss noch ein kleines Ratespiel für Herrmann-Fans: In welcher Sequenz von Jane Eyre hört man vier aufsteigende Horn-Glissandi, die vielleicht die Mordszene von Psycho vorankündigen?


    16029.jpg



    H.K.: Die Bergman-Suiten von Erik Nordgren mit ihrer Form von Variationen deuten an, dass es sich hier um symphonische Musik als Reflex gleichsam von Filmmusik handelt – oder liege ich da völlig falsch? Klanglich sehr originell finde ich die «Harfendialoge» in «Das Lächeln einer Sommernacht». Hier zeigt sich, dass der Film die Komponisten zu sehr originellen musikalischen Inspirationen verhelfen kann.


    Adriano: Von Erik Nordgren sind keine Konzertsaal-Orchesterwerke bekannt. Angeblich war er auch nicht so erpicht darauf, sich in dieser Branche zu profilieren. Er hatte viel am Schwedischen Rundfunk zu tun (wo er eine Zeit lang auch als Dirigent tätig war) und komponierte auch elektronische Musik. Er wird oft mit dem finnischen Komponisten Pehr Henrick Nordgren verwechselt. Als ich ihm 1991 schrieb, um mich zu erkundigen, ob er Filmmusik-Partituren aufbewahrt hätte, antwortete er mir, dass er sich gerade von einem Herzinfarkt erholen und sich behindert fühlen würde, vorläufig «nichts Ernsthaftes» unternehmen könne und dass er sich für mein Interesse bedanken würde. Ich war also bereit, dieses Projekt beiseitelegen zu müssen. Fast zwei Jahre später bekam ich ein schweres Paket aus Schweden, voller Fotokopien von Nordgren Filmmusik-Autographen! In einem Brief teilte mir Constanze Nordgren mit, dass ihr Gatte 1992 verstorben war und dass er für mich all diese Kopien hätte anfertigen lassen – ob ich überhaupt noch Interesse hätte. Jedenfalls sei er damals sehr erstaunt gewesen, dass sich jemand (und dies aus der Schweiz!) für seine Filmmusik interessieren würde. Und so entstand diese CD, welche, angeblich, die erste mit Musik Nordgrens überhaupt ist und in Schweden recht erfolgreich wurde. Ausschnitte daraus wurden 2017 von Margarethe von Trottas in ihrem Film Auf der Suche nach Ingmar Bergman als Soundtrack verwendet.


    Nordgrens lyrisch und stimmungsvolle Filmmusik liebe ich sehr (so wie ich Bergmans Filme liebe). Sie ist meistens sparsam, doch sehr geschickt instrumentiert. Es sind Stücke, die perfekt die betreffenden Szenen auf der Leinwand kommentieren. Darunter befinden sich auch einige, humorvolle Sequenzen. Die eingespielten Suiten habe ich selbst extrahiert und ediert. Ich glaube, hiermit ist eine sehr schöne Nordgren-Anthologie entstanden.


    (Fortsetzung s.u.!)

  • p11779968_p_v8_aa.jpg



    H.K.: Und wie steht es mit Deiner Aufnahme von Schostakowitschs kompletter Filmmusik «Der Fall von Berlin»?


    Im Dezember 1994 befand ich mich zum ersten Mal in Moskau. Dort hatte ich eine sehr unangenehme Erfahrung: Während einer Pause unserer Aufnahmen von Aurics La Belle et la Bête wollte mich Dirigent Sergej Skripka unbedingt kennenlernen – er hatte sich in die Technikkabine eingeschlichen. Anfänglich konnte ich nicht verstehen, warum er mir auf solch überschwängliche Art Komplimente machte, doch dann ging mir ein Licht auf: Er flüsterte mir nämlich ins Ohr, dass ich, statt mit dem Moskauer Symphonieorchester, doch mit seinem Orchester (des Russischen Staatskinos) zusammenarbeiten sollte, einem viel besseren Ensemble! Ich teilte ihm mit, dass ich für ein Label arbeitete, welches halt einen Vertrag mit diesem und nicht mit seinem Orchester abgeschlossen hätte. Daraufhin verließ er pikiert das Studio. Am nächsten Tag, nachdem ich die Orchesterbibliothekarin gefragt hatte, ob sie mir ein Schostakowitsch-Manuskript aus der Filmbibliothek (die sich ebenfalls im Mosfilm-Komplex befindet) fotokopieren könnte, meinte sie, dass sie mir die paar Seiten, die ich suchte, zuerst zeigen möchte, ohne dass ich ins Museum gehen müsse – und so bekam ich sie zur Ansicht. Spät in der Nacht, in meinem Hotelzimmer, erhielt ich dann einen sehr beunruhigenden Anruf von Skripka (der das Museum kontrollierte). Er schrie mich hysterisch an, beschuldigte mich, mit kriminellen Absichten versucht zu haben, Manuskripte zu stehlen und drohte mir, die Polizei zu rufen. Am nächsten Tag hatten die Orchestermanagerinnen alle Hände voll zu tun, um Skripka (übrigens ein enger Freund Putins) zu beruhigen. Mir wurde jedoch mitgeteilt, dass ich von nun an auf der schwarzen Liste des Moskauer Filmmuseums stehen würde. Fast ein Wunder, dass ich nicht hinter Gitter kam?


    H.K.: Es ist natürlich interessant zu erfahren, wie damals dieses Projekt mit seiner historisch-«ideologischen» Vorbelastung bei den Beteiligten – also vor allem den Musikern in Moskau – aufgenommen wurde und wie Du damit umgegangen bist. Dazu fand ich im Rondo-Magazin 2007 eine Rezension Deiner Aufnahme von Guido Fischer, woraus ich zitieren möchte:


    «Für diese ganz auf den Personenkult Stalins zugeschnittenen Propaganda-Filme fand Schostakowitsch natürlich den rechten Jubel-Ton, mit bombastischen Chören, Bläsern, Schlagwerkern und Streicher-Süffigkeit. Was aber nur die eine Seite ist, die Adriano mit bester Breitwand-Brillanz erfasst. In den Passagen, in denen Einzelschicksale zum Symbol einer ganzen Bewegung werden, beweist Schostakowitsch seine ganze musikdramatische Handschrift. Mit lyrischer Intensität begleitet er die Liebesgeschichten, lässt er mit drängenden Rhythmen eine verstörende Dunkelheit aufziehen. Das sind dann Momente, die sich jedem Gebrauchswert entziehen. Und mit denen die reine Oberflächlichkeit dieser Werke schließlich aufgerissen wird.»


    Würdest Du dem zustimmen?


    Adriano: Gute Rezensionen bereiten immer Freude... Ich hatte überhaupt kein Problem, einen früheren propagandistischen Filmscore einzuspielen, denn dieser Film zeigt Stalin nur von seiner Hitler-feindlichen Seite. Niemand im Orchester kannte den Film; ich erwähnte also auch, dass man in der Schlussszene Stalin am Berliner Flughafen ankommen sieht, wie er von einer triumphalen Menge bejubelt wird – was ja nicht der Wirklichkeit entsprach. Und bevor der Chor Slava Stalinu für mich singen durfte, fragte ich in einem diplomatischen Ton, ob jemand mit diesem Text ein Problem hätte. Der Chorleiter meinte «no problem, maestro». Die Schlagwerk-Partie eines dieser beiden bombastischen Schlusschöre stammt übrigens von mir, im Autograph erscheint sie nur spärlich skizziert – und ich wollte mich nicht auf die offizielle Suite stützen, weil dort beide Chor-Schlussszenen in eine einzige, kürzere «fusioniert» worden waren.


    Da ich von dieser Musik nur die (nicht vom Komponisten arrangierte) Konzertsuite kannte, besorgte ich mir aus dem Glinka-Museum eine Fotokopie von Schostakowitschs 1949ger-Autograph. (Wie ich dazu kommen durfte ist eine Geschichte für sich: Da hätte man mich als Anstifter zur Korruption eines hohen Beamten verurteilen können, eines Beamten, der plötzlich 200 US$ in seiner Jackentasche vorfand – nachdem er den Orchestermanagerinnen immer nur «njet» gesagt hatte, als diese ihn um Fotokopien gebeten hatten.) Als dann Schostakowitschs Witwe erfuhr, ich hätte Fotokopien von Padenije Berlina bekommen, teilte sie uns empört mit, dass ihr diese Kopien immer verweigert worden waren. Nach der Fertigstellung meiner «Edition» bekam sie sie natürlich von mir – und musste sich nicht einmal dafür bedanken…


    Mit dieser Musik hatten bereits vor mir Plattenlabels keine Probleme gehabt: Die Suite aus Der Fall von Berlin war bereits von «westlichen» Labels aufgenommen worden, dirigiert von José Serebrier (1990) und Michail Jurowski (1991),­ beide mit dem Slava Stalinu-Chor am Ende. Ich wollte eine Komplettfassung dieser Filmmusik einspielen, weil diese Partitur weitere wertvolle Stücke enthielt und die in der Suite vorkommenden Stücke manchmal unschön gekürzt daherkamen. Dass diese Musik hervorragend ist, ist indiskutabel. Fünf kurze Fragmente waren übrigens 1986 im Band 42 der Schostakowitsch- (nicht Gesamt-) Ausgabe publiziert worden. Sie ignorierte natürlich die (von Levon Atovmyan hergestellten) Konzertsuiten.


    In Padenije Berlina kommt noch eine sehr schöne A-cappella Chor-Vokalise vor, die der Komponist separat veröffentlicht hatte. Im Film erklingt sie währenddem Stalin in seinem Garten Rosen betrachtet! Meine Idee, die zweite Strophe mit halboffenem Mund, statt, wie in der ersten Strophe geschlossenem Mund singen zu lassen, kam sehr gut an.


    In anderen Worten: Ich hatte mir Materialien aus vier verschiedenen Quellen besorgen und sieben Stücke neu als Partitur mit Orchestermaterial edieren müssen. Der Film (der übrigens hervorragend realisiert wurde und mit ähnlichen Technicolor-Hollywood-Produktionen durchaus konkurrieren könnte) war damals noch nicht restauriert worden – ich durfte nur mangelhafte Schwarzweiß-Videokopien dieses Filmes bekommen. Daher schrieb ich unwissend in meiner ersten CD-Textbeilage, dass es eine Schwarzweiß-Produktion war, wurde aber von einem Rezensenten prompt zurechtgewiesen. 2006 erschien eine restaurierte Filmfassung mit englischen Untertiteln beim DVD-Label IHF; in Russland gab es sie bereits seit 2004. Eine deutsche Synchronfassung gibt es, glaube ich, bis heute noch nicht. Interessant ist auch noch, dass das Thema «Hitler in seinem Bunker» hier ziemlich ausführlich – vielleicht zum ersten Mal in einem Film – inszeniert wird. G. W. Pabsts Der letzte Akt wurde nämlich erst 1955 produziert.


    Auf meiner CD spielte ich auch die von Avtomyan extrahierte Suite aus Das unvergessliche Jahr 1919 ein, plus das zum selben Film gehörende Mini-Klavierkonzert im Hollywood-Stil Die Eroberung des Roten Hügels – welches 1983 auf einer EMI-CD mit Schostakowitschs Klavierkonzerten eingespielt worden war. Davon musste ich einen Klavierauszug herstellen, denn dieser war nicht auffindbar. Auch diese Filmmusik ist absolut hervorragend – und teils echt anspruchsvoll fürs Orchester! Ich glaube, meine Aufnahme war die erste komplette Einspielung der Suite überhaupt: In der alten Melodiya-Aufnahme von 1952 mit Alexander Gauk fehlt nämlich das 5-minütige Intermezzo. Die herrliche, aber sehr schwierige, rasante Tarantella (Scherzo) mussten wird nach einer Durchlaufprobe nur zweimal ohne Unterbrechung aufnehmen – und das Material war voll brauchbar.



    H.K.: Auch zu Deiner Khatchaturian-CD von 1993, mit der Musik zu «Die Schlacht von Stalingrad» gibt es eine Rezension, diesmal von Rob Barnett. Er findet Deine Aufnahme «trotz ihres 25jährigen Jahrgangs extrem gut.» Dem kann ich nur zustimmen – auch für alle anderen Deiner Filmmusik-Aufnahmen, die ich gehört habe. Sie sind wahrlich «extrem gut», leidenschaftlich engagiert, man merkt, dass Du mit Herz bei der Sache bist, musikalisch immer ungemein sorgfältig und ehrlich wie uneitel-natürlich, dazu noch fantastisch aufgenommen von der Aufnahmetechnik her. Du lässt die Musik selbst sprechen auf bestmögliche Weise nach meinem Geschmack.


    Adriano: Na ja, mit der 1989er Technik von Schlacht von Stalingrad war ich ziemlich unzufrieden im Vergleich mit der auf derselben CD vorkommenden, drei Jahre später mit einem anderen Producer/Tonmeister aufgenommenen «Otello»-Filmmusik.


    Die Aufnahmetechnik des slowakischen Rundfunkstudios war damals eher bescheiden. Es gab wohl eine angemessene Anzahl Mikrophone, doch das, was da reinkam, wurde unmittelbar in ein unwiderrufliches 2-Kanal-Stereosignal umgewandelt, so war es unmöglich, einzelne Kanäle später nachzukorrigieren. Alle meine 30 Marco Polo/Naxos-CDs wurden mit diesem Equipment aufgenommen, mit vielen erstaunlich guten Resultaten. Allerdings musste zwischen dem einem oder anderen Take der Tonmeister manchmal herunterkommen, um einige Mikrophone anders zu platzieren, was beweist, dass das Equipment vor allem bei größeren Formationen unzureichend war. Dies merkt man z.B. in meiner CD mit den frühen Orchesterwerken Respighis, aber ich dufte ja nicht reklamieren oder Vorschläge machen – zum länger Auszuprobieren war ohnehin keine Zeit da. Respighis beide Opern wurden zum Albtraum: Es mussten beide Opern gleichzeitig aufgenommen werden, weil man die Sänger, die auf beiden CDs mitwirkten, so eingeteilt hatte, um sie möglichst zeit-ökonomisch zu beschäftigen. In allen Sitzungen musste ich (und aber auch der Tonmeister mit seinen Mikros) ständig zwischen Lucrezia und La bella dormente hin und her springen. Die Resultate waren schon OK, doch, als die beiden Masters fertig montiert worden waren, gab es ärgerliche, hörbare Lautstärke-Unterschiede zwischen mehreren Takes. Daher mussten diese kopiert und mit einem anderen Pegel neumontiert werden.


    Im 7. Track von Staligradskaya Bitva bekommen die vier Trompeten eine prominente Rolle; sie sollten vordergründig erklingen – ich wollte sie vor den Holzbläsern platziert sehen, und dazu noch stehend. Der Producer/Tonmeister meinte jedoch, er würde es problemlos schaffen, den gewünschten Effekt mit den Trompeten an ihrem üblichen Standort zu erreichen. Als wir in der Pause die Takes abhörten, war ich natürlich unzufrieden, aber der Producer fand, ihm sei dies hörbar genug. Ich wollte das Stück nochmals aufnehmen, doch es hieß, man sei ohnehin zeitlich im Rückstand, man müsse mit dieser Lösung leben, und keine kostbare Zeit mit Extrawünschen noch unerfahrener Dirigenten verschleudern. Ich würde mit dieser CD bestimmt zufrieden sein.


    Die CD kam 1993 heraus – und diese vier Trompeten klangen noch weiter entfernt als im früher abgehörten Take! Track 5 von Schlacht von Stalingrad konnte ich mir nicht mehr anhören. Und kein Rezensent hatte es bemerkt… Was mich übrigens besonders ehrte: Ein Rezensent behauptete, meine Interpretation sei besser als diejenige historische unter der Leitung des Komponisten!


    Nach vielen Jahren Moskau kehrte ich 2013 wieder nach Bratislava zurück, um Aufnahmen für andere Labels einzuspielen. Im Korridor des Studios traf ich zufälligerweise auf den ersten Trompeter, mit dem ich damals Schlacht von Stalingrad aufgenommen hatte, also kam mir dieser unselige Track wieder in den Sinn. Kurz darauf erkundigte ich mich bei der technischen Abteilung von Naxos UK, ob sie Interesse hätte, diese vier Trompeten durch eine Playback-Montage neu überspielt zu haben, doch man meinte, so etwas sei völlig unmöglich. Also entschloss ich mich – dies natürlich auf eigene Kosten – es selbst zu riskieren. Die Montage fand ein halbes Jahr später in meiner Abwesenheit mit einem neueren Aufnahmeteam und besserem Equipment statt: Die Trompeter trugen Kopfhörer, spielten alles perfekt ein – und die Montage gelang. Die Wiederveröffentlichung meiner Khachaturian-Filmmusik-CD auf Naxos enthält also diese verbesserte Version von Track 5.


    H.K.: Was für eine abenteuerliche Geschichte! Diesen Track 5 werde ich mir nun ganz aufmerksam noch einmal anhören!


    Adriano: Bei Schlacht von Stalingrad geht es um spannungsreiche, emotionale Musik, die einmal mehr Khachaturian als großen Musikdramatiker und effekt- und fantasievollen Instrumentator zeigt. Darin sind besonders schöne Passagen für Alt-Saxophon und Bassklarinette. Im Studio wurden wir von diesen dramatischen Sequenzen zu guten Leistungen inspiriert, unangesehen dessen, ob sie nun für einen Propaganda-Film komponiert worden waren oder nicht.


    1978 stellte der ungarische Komponist Gabor Garai eine effektvolle Kantatenversion dieser Suite her, die von Hungaroton auf LPs veröffentlicht wurde. Und 1993 spielte der hervorragende Khachaturian-Dirigent Loris Tjeknavorian eine allerdings stark gekürzte Fassung der Stalingrad-Suite mit dem Armenischen Symphonieorchester ein – innerhalb seiner 9-CD-Edition des Labels ASV mit Werken Khachaturians. Von dieser Suite gibt es übrigens auch eine Bearbeitung für symphonisches Blasorchester…


    Das zweiteilige (Schwarzweiß-)Film-Epos Staligradskaya Bitva gibt es sowohl in einer kompletten deutschen Synchronfassung auf Icestorm-DVDs als auch in einer englisch und deutsch untertitelten, russisch gesprochenen Ausgabe auf IHF-DVDs. Beide Produktionen wurden 2008 veröffentlicht. Aber einmal mehr, mir standen solche Editionen damals noch nicht zur Verfügung!


    Othello finde ich Khachaturians beste, originellste und eine fabelhaft ausgearbeitete Filmmusik. Sie enthält natürlich mehr lyrische (und was für welch traumhaft schöne!), transparent orchestrierte Stücke als Schlacht von Stalingrad, darunter eine (separat mit Klavierbegleitung hergestellte) Vokalise Desdemonas für Sopran. Es gibt auch hier sehr schöne Saxophon- und Bassklarinetten-Soli. Im 10. und 11. Satz singt auch ein wortloser Chor, wobei am Ende des 10. ein Sänger in der Entfernung noch kurz ironisch rhythmisch grölen muss. Im Finale geht es um Othellos Begräbnis; es ist eine wundervolle chromatische Chorklage (un peu à la Spartacus), worin später, unter sanften Glockenklängen, das Violinsolo einsetzt, um das Liebesmotiv variierend zu zitieren, welches es im ersten Satz großzügig dargeboten hatte – und welches kurz zuvor sogar in der Piccoloflöte wiederauftrat.


    Meine ist die erste komplette Aufnahme der Othello-Suite. 1955 wurden vom Dirigenten Grigori Hamburg und Gennadi Katz fünf Auszüge für Melodiya-LPs eingespielt. Der Film (worin Sergei Yutkevich Regie führte und die Hauptrolle vom Sergey Bondartchuk gespielt wird) erschien in Russland 2008 in einer restaurierten Fassung auf DVD.


    H.K.: Wir könnten natürlich jetzt fortfahren, weitere Deiner Filmmusik-Aufnahmen im Einzelnen zu besprechen. Aber ich glaube, Du hast so eine Fülle von höchst interessanten Einblicken gegeben, dass es für den Leser glaube ich genug ist.


    Ich bedanke mich deshalb sehr herzlich für Deine sehr informativen und geistreichen Antworten und die viele Zeit und Mühe, die Du dafür investiert hast und würde mich sehr über eine Fortsetzung mit dem nächsten Thema, dass Du auswählst, freuen!