Das Werk entstand 1779 und trägt im Hoboken-Verzeichnis die Nummer 9, es entstand also vor La vera costanza und nach La fedeltà premiata. Die Besonderheit liegt darin, dass es keine Secco-Rezitative (d.h. nur vom Cembalo begleitet) gibt, die Oper ist also durchkomponiert. Das Libretto stammt von Pietro Metastasio, einem der wichtigsten Librettisten der Opera seria. Diese Gattung ist eigentlich nicht so mein Fall, aber L’isola disabitata (wörtlich: „Die unbewohnte Insel“, deutscher Titel meist Die wüste Insel) kommt mir in zwei Punkten entgegen: Sie ist recht kurz (ca. 90 Minuten in der Dorati-Aufnahme) und sie hat einige sehr humorvolle Stellen.
Es spielen nur vier Personen:
Costanza (Sopran): Ungefähr 27 Jahre alt. Blieb vor 13 Jahren zusammen mit ihrer jüngeren Schwester Silvia auf einer unbewohnten Insel zurück. Ihr Mann Gernando, mit dem sie frisch verheiratet war, wurde - von ihr unbemerkt - von Piraten geraubt, sie glaubt aber, er habe sie aus Untreue im Stich gelassen.
Silvia (Sopran): Ungefähr 14 Jahre alt, Costanzas junge Schwester, konnte zum Zeitpunkt des Unglücks noch nicht sprechen.
Gernando (Tenor): Gatte von Costanza, wurde vor 13 Jahren von Piraten geraubt, seine Frau blieb auf einer unbewohnten Insel zurück. Er geriet in Gefangenschaft und konnte sich erst vor kurzem befreien. Er kehrte sofort zusammen mit seinem Freund Enrico zu der Insel zurück, in der Hoffnung, etwas über den Verbleib von Costanza zu erfahren.
Enrico (Bass): Freund von Gernando, verdankt diesem seine Freiheit.
Die Oper beginnt mit dem Tag, an dem Gernando und Enrico auf die Insel zurückkommen.
Erster Teil
Die Ouvertüre (g-Moll) ist dreiteilig:
- Langsame Einleitung, „schmerzvoll“
- Hauptteil in Sonatenhauptsatzform, dramatisch
- Langsamer Satz, schreitender Rhythmus, menuettartig
- Wiederholung des Hauptteils
Costanza hat mit ihrem Leben abgeschlossen. Sie ist dabei, mit dem zerbrochenen Degen von Gernando eine Inschrift an einem Felsen anzubringen:
Dal traditor Gernando Costanza abbandonata, i giorni suoi in questo terminò lido straniero. Amico passeggiero, se una tigre non sei, o vendica o compiangi ... i casi miei.
„Costanza, vom Verräter Gernando verlassen, beendete ihre Tage an diesem fremden Strand. Lieber Reisender, wenn du kein [grausamer] Tiger bist, räche mich oder beweine ... mein Schicksal.“
Die Wiedergabe dieses Spruches wird vom Orchester mit einem Tremolo untermalt. Die letzten drei Wörter sind noch nicht eingemeißelt, es besteht also noch Hoffnung...
Silvia betritt mit einem hüpfenden Motiv die Szene. Das Motiv gehört zu ihrem Reh, ihr Spielkamerad. Sie glaubte das Reh verloren, aber gerade ist es überraschend zurückgekehrt. Costanza kommentiert schmerzvoll die naive Freude ihrer Schwester: Che felice innocenza! („Welch glückliche Unschuld!“)
Silvia findet das Leben auf der Insel sehr angenehm: Man hat alles, was man zum Leben braucht, man ist an keine Gesetze gebunden (hier zeigt sich die anarchistische Ader der Jugend, möglicherweise kann man es sogar feministisch deuten), und vor allem gibt es hier nicht diese grausamen Männer, von denen Costanza ihr ganz üble Dinge erzählt hat. Costanza bekräftigt die Grausamkeit der Männer einmal mehr, kann damit ihrer Schwester allerdings nicht erklären, warum sie dennoch gerne wieder in der Zivilisation wäre...
Arie Costanza (As-Dur) Se non piange un’infelice
Costanza beklagt ihr schlimmes Los, der innige Stil der Arie erinnert an manches von Mozart.
Silvia sieht ein Schiff über das Meer kommen. Sie weiß natürlich nicht, was das ist, erweist sich aber als fähige Analytikerin:
„Ein Felsen kann es nicht sein, der könnte nicht seinen Ort verändern. Und wie kann ein so großes Ungeheuer sich so leicht bewegen! Als ob es fliegen würde. Es hat Flügel auf dem Rücken und schwimmt und fliegt zugleich.“
Kurz darauf sieht sie Menschen und geht erst mal in Deckung. Es handelt sich um Gernando und Enrico, die auf der Suche nach Costanza oder zumindest ihren Überresten sind, wie aus dem Dialog (für Silvia nicht hörbar) zu erfahren ist.
Arie Enrico (B-Dur) Chi nel cammin d’onore stanca
Es geht darum, dass keine Anstrengung und kein Risiko zu groß sind, wenn man seinem Freund helfen will. Die Arie beginnt mit der typischen Haydn-Eleganz und strahlt Optimismus aus.
Silvia beweist weiterhin analytischen Scharfsinn, das muss ich im Original bringen:
Che fu mai quel ch’io vidi? Un uom non è: gli si vedrebbe in volto la ferocia dell’alma. Empii, crudeli gli uomini sono, e di ragione avranno impresso nel sembiante il cor tiranno. Una donna né pure: avvolto in gonna non è come noi siam. Qualunque ei sia, è un amabile oggetto.
„Was sah ich da? Ein Mann ist es nicht: Man würde ihm seine Wildheit im Gesicht ansehen. Ruchlos und grausam sind die Männer, und daher drückt sich ihr tyrannisches Herz in ihrem Gesicht aus. Eine Frau ist es auch nicht: Es hat nicht wie wir einen Rock an. Was immer es ist, es ist liebenswertes Geschöpf.“
Arie Silvia (C-Dur) Fra un dolce deliro
Silvia findet vorsichtig Gefallen an dem Neuankömmling. Die Arie ist im Haydn-Rokoko-Stil und wirkt zuversichtlich bzw. unbekümmert.
Zweiter Teil
Gernando liest die von Costanza angefertigte Inschrift auf dem Felsen und ist nun sicher, dass sie tot ist. Enrico weist den Freund darauf hin, dass die Inschrift noch nicht ganz fertig ist. Costanza sei vorher gestorben, meint Gernando, und er wolle jetzt auch hier auf der Insel sein Leben beenden.
Arie Gernando (Es-Dur) Non turbar quand’io mi lagno
Frei übersetzt: „Nerv nicht, wenn ich jammere.“ Am Anfang mit einer Wendung, die mir bekannt vorkommt, evtl. aus Orlando Paladino, aber nur 1-2 Takte.
Enrico bringt ihn nicht umgestimmt und weist daher die Bootsmannschaft an, Gernando mit Gewalt auf das Schiff zu bringen. Anschließend trifft er auf Silvia, die von der Flöte mit einem lieblichen Motiv gekennzeichnet wird, und es entwickelt sich folgender Dialog:
E: „Warum hast du Angst vor mir? Schließlich bin ich keine Schlange, keine wilde Bestie. Ein Mann dürfte dich nicht so verwirren.“
S: „Du bist also ein Mann?“
E: „Ein Mann.“
S: „Zu Hilfe!“ (rennt schreiend davon)
Nur mit Mühe gelingt es Enrico, Silvia klarzumachen, dass er kein Ungeheuer ist. Dabei erweist es sich als hilfreich, dass sich Silvia schon heimlich in ihn verliebt hat. Sie erzählt ihm, dass Costanza lebt. Jetzt sind nur noch wenige Hindernisse zu überwinden. Zunächst erklärt Enrico, dass sein Freund Gernando kein mitleidloses Monster ist, sondern seinerzeit von Piraten geraubt wurde und erst jetzt freikam. Enrico und Silvia verabreden, dass ersterer Gernando und letztere Costanza suchen und an einen vereinbarten Treffpunkt bringen werden.
Arie Silvia (G-Dur) Come il vapor s’ascende
Silvia bemerkt das beginnende Liebesgefühl („wie der Rauch emporsteigt“).
Arie Costanza (B-Dur) Ah, che in van per me pietoso
Costanza beklagt sich, dass Baumstämme und Felsen altern, ihr Leid aber mit der Zeit nicht abnimmt und auch der Tod keine Anstalten macht, sie von ihrem Leid zu befreien.
Sie führt ihre Arbeit fort (Meißeln der Inschrift), da kommt Gernando, zunächst ohne Costanza zu bemerken:
Arie Gernando (C-Dur) Giacché il pietoso amico
Der Text ist kurz:
Giacché il pietoso amico lungi ha rivolto il passo, quell’adorato sasso si torni a ribaciar.
„Da mein lieber Freund weggegangen ist, kehre ich zu dem angebeteten Felsen zurück, um ihn erneut zu küssen.“
Gemeint ist der Felsen mit der Inschrift, und da trifft er auch schon Costanza. Diese fällt vor Überraschung in Ohnmacht, nicht ohne ihn vorher noch als Verräter zu beschimpfen. Gernando eilt weg, um Wasser zu holen. Unterdessen kommt Enrico zurück, findet Costanza (er kennt sie nicht, aber sie muss es sein) und klärt sie über die letzten 13 Jahre auf. Costanza sieht ein, dass sie Gernando zu Unrecht als Verräter beschimpft hat.
Damit wäre alles geritzt, aber jetzt kommt Silvia zurück und berichtet aufgeregt, dass Gernando soeben von Fremden entführt wurde. Enrico erklärt, das seien seine Freunde, die auf sein Geheiß hin Gernando mit Gewalt aufs Schiff bringen sollten. Kurz danach sind endlich alle vereint. Es entsteht folgender Dialog:
Silvia (zu Enrico): „Gernando ist netter als du. Sieh mal, wie er mit Costanza redet, und du sagst nichts zu mir.“
Enrico: „Ich bin bereit, wenn du mich lieb hast, dir alles zu sagen, was du willst.“
Silvia: „Ob ich dich lieb habe? Mehr noch als mein Reh!“
Enrico betrachtet das als Heiratsantrag: „Also gut, gib mir die Hand: Du wirst meine Frau.“
Silvia lehnt erst mal ab: „Da wär ich ja bescheuert, ich würde auf irgendeiner Insel enden, um dort einsam den Rest meiner Tage zu verbringen.“ Costanza klärt sie auf, dass die Männer doch nicht so schlimm sind, wie sie dachte. Also gut, dann wird halt geheiratet.
Schlussquartett C-Dur Sono contenta appieno
Nach einem längeren Vorspiel schildert jeder seinen Gemütszustand. Costanza beginnt, von der Violine begleitet. Es folgt Gernando, mit Cello-Solo. Silvia wird natürlich von der Flöte unterstützt, und den Schluss macht Enrico mit dem Fagott.
Fazit:
Oh giorno fortunato, oh giorno di contento! Andiamo le vele al vento, andiamo a giubilar.
„Oh glücklicher Tag, oh Tag der Zufriedenheit! Setzen wir die Segel, lasst uns jubeln.“
Thomas Deck