Mahler-Skizzen (I) Die Kindertotenlieder

  • Nun will die Sonn’ so hell aufgeh’n

    Als sei kein Unglück die Nacht gescheh’n!

    Das Unglück geschah nur mir allein!

    Die Sonne, sie scheinet allgemein!

    Du mußt nicht die Nacht in dir verschränken,

    Mußt sie ins ew’ge Licht versenken!

    Ein Lämplein verlosch in meinem Zelt

    Heil sei dem Freudenlicht der Welt!


    Kaum eine andere Musik kann so erschüttern wie Mahlers Kindertotenlieder. Ich jedenfalls kann diese so abgründig traurige und tief berührende Musik nicht einfach „durchhören“. Für mich geht sie an die Schwelle von dem, was ich verkrafte und verkraften kann. Ich kenne kein anderes Musikstück, das mir als Hörer so „an die Nieren“ geht. Gestern hörte ich das erste Lied in zwei großartigen Interpretationen – Waltraud Meier mit Daniel Barenboim und Janet Baker mit Sir John Barbirolli – und es war genug. Deshalb werde ich meine Skizze zu den Kindertotenliedern in mehrere aufsplitten und mich zunächst auf das erste Lied beschränken.


    Die erschütternde Wirkung dieses ersten Liedes geht im Wesentlichen von Mahlers Musik aus und nicht dem wahrlich auch sehr anrührenden Text. Und das nicht ohne Grund. Mahlers Vertonung hat nämlich Rückerts Aussage radikalisiert – die Musik verdoppelt nicht einfach rhetorisch den Sinn dieser Dichtung, sondern fügt eine eigene Aussage hinzu, dekonstruiert ihn gleichsam, enthüllt seine unausgesprochene Wahrheit, die darin liegt, über die christliche Botschaft und das christliche Weltbild hinauszugehen. Der christliche Glaube will Trost spenden. Aber dies ist eigentlich nur der ganz und gar hilflose Versuch, über das im Prinzip Untröstliche der Abgründigkeit der Erfahrung des Kindstodes hinwegtrösten zu wollen.


    Rückerts Gedicht ist in seiner Aussage ambivalent. Einerseits eröffnet sich hier – sehr modern auf der Höhe der Philosophie und Theologie des 19. Jhd. – eine bis dahin unbekannte Dimension in der poetischen Behandlung der Erfahrung des Todes. Andererseits geht sie aber auch wieder gleichsam einen Schritt zurück, als sie diesem radikal Neuen seinen Stachel nimmt, indem sie beruhigend und beschwichtigend das christlich-religiöse Weltbild als Kraft der Tröstung beschwörend herbeiruft. Die ganze Ambivalenz Rückerts zeigt sich in der Zeile:


    Das Unglück geschah nur mir allein!

    Die Sonne, sie scheinet allgemein!


    Neu bei Rückert ist diese Gegenüberstellung des Einzelnen und des Allgemeinen. Die Sonne scheint nicht mehr in die Nacht des Todes, sie kann sie in keiner Weise irgendwie aufhellen. Der Tod wird damit als eine radikale Erfahrung der „Vereinzelung“ begriffen, wie dies die auf Sören Kierkegaard zurückgehende moderne Existenzphilosophie so bezeichnet hat. Die existenzielle „Vereinzelung“ hat den Sinn, den Einzelnen ganz auf sich allein zurückzuwerfen, indem alle allgemeinen Weltdeutungen und Welterklärungen schlicht bedeutungslos werden. Mit Martin Heideggers Sein und Zeit gesprochen hört die gleichgültige und unverbindliche Rede, dass „man“ schließlich einmal stirbt oder jeder Mensch, sobald er geboren wird, dazu bestimmt ist, zu sterben, ganz einfach auf, wenn man selbst vom Tod und der Todeserfahrung betroffen ist, die man mit Nichts und Niemandem teilen kann, sie vielmehr ganz für sich alleine hat und folglich auch ganz alleine – ohne Gott, die Menschheit und die Welt – verkraften muss.


    Der Abgrund von isolierender Vereinzelung und vertröstender Sinngebung durch das Allgemeine, der sich in Rückerts Kindertotenlied auftut, kommt am prägnantesten in der Antwort von Sören Kierkegaard auf G.W.F. Hegel zum Ausdruck. Hegels Begriffs-Philosophie hat das Denken nur im Medium des Allgemeinen zum Absoluten erhoben. Bei Hegel findet sich so auch der fast schon zynische Satz: „Die Wahrheit des Individuums ist sein Tod!“ Darauf antwortet der Hegel-Kritiker Kierkegaard, Hegel umkehrend: „Der Einzelne ist das Wahre, nicht das Allgemeine.“ Das ist die Geburtsstunde der Existenzphilosophie. Rückert – das zeigt sich in diesem Gedicht – steht nun gleichsam zwischen Hegel und Kierkegaard.


    Das Bild der Sonne des Allgemeinen – da darf man bei dem so ungemein gebildeten Friedrich Rückert voraussetzen, dass er es sehr bewusst verwendet – hat eine lange philosophisch-theologische Geschichte. Der Entdecker des Allgemeinen ist der griechische Philosoph Platon. Das Allgemeine – das sind bei Platon die „Ideen“. In Platons Dialog Politeia gibt es das berühmte Sonnengleichnis. Dort wird die höchste Idee, die Idee des Guten, die über allen anderen Ideen steht (griech. epekeina tes ousias), mit der Sonne verglichen, deren Licht zugleich alle Erkenntnis und alles Leben ermöglicht. Der Neuplatonismus (Plotin) hat dann diese Sonne der Idee des Guten als das göttliche „Eine“ (griech. hen) gedeutet als Urquell allen Seins. Über die Kirchenväter ist diese neuplatonische Lichtmetaphysik dann ins Christentum gekommen als Grundlage vor allem für die mystische Theologie. Auch im Pietismus ist diese Tradition lebendig. In Mahlers Vertonung ist die pietistische Auffassung des Todes, wonach er ein Lichtmoment der Stille ist, sehr gut erkennbar. Das tieftraurige Sinnen über den Kindstod ist bei Mahler still und vor allem ist es derselbe Ton aufgehellter Stille mit den mystischen Glockentönen, die zu der Zeile „Als sei kein Unglück die Nacht gescheh’n!“ erklingt wie auch zu „Die Sonne, sie scheinet allgemein!“ Mahlers Sicht des Kindstodes ähnelt hier dem von Goethe sehr geschätzten Danziger Kupferstecher Daniel Chodowiecki. Während andere Illustratoren Werthers Selbstmord als gewaltsamen, hässlichen Tod zeigen – Werther liegt wild ausgestreckt auf dem Boden, die Pistole aus der Hand gefallen in seiner Blutlache – verfrachtet Chodowiecki den sterbenden Werther ins Bett, zeigt seinen Tod in pietistischer Tradition als stillen Tod im mystischen Lichtschein.


    (Eine Abbildung im Netz habe ich leider bislang nicht gefunden.)


    „Das Unglück geschah nur mir allein!/ Die Sonne, sie scheinet allgemein!“ – in der ersten Hälfte der Betonung der Vereinzelung ist Rückert ganz Kierkegaard, indem er damit alle traditionellen Versuche, der Verlusterfahrung des Todes durch einen wie auch immer auf ein höheres Allgemeines zurückgreifenden Rechtfertigungsversuch seine Untröstlichkeit zu nehmen, abweist. Im Medium des Allgemeinen lässt sich für das Sterben leicht ein Sinn finden – wie es in der Geschichte auch immer wieder geschehen ist und bis heute geschieht: Man verweist auf die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Natur, wonach Geburt und Tod notwendig zusammengehören oder man rechtfertigt den Tod religiös, dass Gott ihn so gewollt habe, er also zu der von Gott eingerichteten Weltordnung gehört mit dem wiederum ganz allgemeinen Versprechen, dass mit dem Tod nicht alles zu Ende ist, der Mensch vielmehr die Misere irdischen Lebens für ein besseres himmlisches Leben eintauschen kann. Im Rahmen der Gesellschaft wird der Tod zum gerechtfertigten Opfer: Das Individuum gibt sein Leben für die Erreichung höherer Ziele der Allgemeinheit, wie die Freiheit zu erkämpfen, im glorreichen Kampf für Volk und Vaterland zu sterben und dadurch Ruhm und Ehre zu erlangen usw.


    Doch dann kommt die entscheidende Wende:


    Du mußt nicht die Nacht in dir verschränken,

    Mußt sie ins ew’ge Licht versenken!


    Was hier gefordert wird ist nicht weniger als die Aufhebung der Vereinzelung: Der Trauernde soll begreifen, dass er nicht auf sich selber zurückgeworfen ist, sondern die Sonne des Allgemeinen wiederfinden muss. Hier ist Rückert ganz Hegel: „Die Wahrheit des Individuums ist sein Tod!“ Das „ewige“ Licht mit seiner göttlichen Kraft erreicht schließlich auch die Nacht des Todes, indem der Einzelne, also das Individuum, als unendlich schwaches, kleines Licht vom großen und starken Licht der göttlichen Sinne gleichsam überblendet wird und so als einzelnes Lichtlein in diesem alles durchscheinenden Sonnenlicht vollkommen verschwindet. Die mystische Theologie bietet damit als Trost des Untröstlichen ganz einfach die Selbstauslöschung des Individuums und des individuellen Bewusstseins an, womit dann auch das verschwindet, woran das individuelle Bewusstsein untröstlich leidet: die Verlusterfahrung des Kindstodes.


    Allerdings gibt es auch bei Rückert keine naive Glaubensgewissheit mehr. Das macht der Vergleich mit dem Wunderhornlied Urlicht deutlich, das eine zentrale Rolle in Mahlers Zweiter Symphonie spielt. Auch dort kommt das Lichtmotiv vor – und zwar als finaler Ausdruck naiver Glaubensgewissheit:


    Der liebe Gott wird mir ein Lichtchen geben

    Wird leuchten mir bis in das ewig selig Leben!


    Dieses naive Gottvertrauen ist bei Rückert verschwunden: Der Dichter weiß um die Unaufhebbarkeit der Vereinzelung, die in der Untröstlichkeit der Verlusterfahrung des Kindstodes liegt. Um mit dem Höhlengleichnis Platons zu sprechen: Aus der Höhle, der dunklen Nacht des Kindstodes, führt von sich her kein Weg heraus zur Sonne des Allgemeinen, dem ewigen Licht der lebensspendenden Idee des Guten – gerade auch durch das naive Gottvertrauen nicht. An dieser entscheidenden Stelle wird Rückerts Dichtung deshalb heroisch. „Du musst...“ – es wird an den Willen appelliert, eine fast schon un- und übermenschliche Kraft- und Willensanstrengung eingefordert, damit die Tröstung des christlichen Glaubens überhaupt noch wirken kann. Doch genau dieser Appell an den bloßen Willen ist letztlich hohl. Es ist diese innere Unwahrhaftigkeit der Vertröstung des Untröstlichen durch die Mystik bei Rückert, die Mahlers Vertonung sozusagen bloßstellt.


    Rückerts Gedicht ist zweiteilig, von zwei gegensätzlichen Stimmungen geprägt: Auf das Dunkel der Trauer über den Kindstod folgt die alles überstrahlende Sonnenhelle des tröstenden ewigen Lichts. Hätte Mahler Rückerts Gedicht im traditionellen Stil der musikalischen Rhetorik vertont, dann hätte die Musik den Affekt verstärkend das „Du musst...“ durch einen Wechsel der Stimmung unterstrichen, dass also das Licht ewigen Lebens über das Dunkel des Todes letztendlich triumphiert. Mahlers Musik ist jedoch durchgehend ganz und gar unheroisch und überspielt diese Zäsur eines per aspera ad astra, die in der Formanlage von Rückerts Gedicht erkennbar ist, macht sie unkenntlich. Gerade das schlechthinnige Fehlen von Dramatik und Heroismus in Mahlers Vertonung ist es nun, wodurch die Musik die Aussage des Gedichtes so „wahr“ und absolut glaubwürdig macht. Mahler sagt mit Kierkegaard gegen Hegel und Rückert: Das Einzelne ist das Wahre, nicht das Allgemeine – die Nacht des Untröstlichen ist durch kein Sonnenlicht der Vertröstung aufzuhellen, auch durch die Beschwörung des christlichen Glaubens nicht.


    Mahlers Vertonung hält sich an die in ihrer Stimmung kontrastierenden Zweizeiler, die sie strophisch zusammenfassend wiederholt. Der ersten Zeile als Ausdruck stiller Trauer korrespondiert jeweils die sanfte Aufhellung mystischen Lichts in der zweiten. Das passt zum Charakter der Trauerarbeit: Die Musik „betet“ gleichsam wie in einer Litanei das Immergleiche herunter, was die Untröstlichkeit dieser Verlusterfahrung deshalb auch so ergreifend – weil durchgängig – zum Ausdruck bringt. Dazu kommt die eigenständige Bedeutung des Orchesters, was den Liedgesang reflektiert und kommentiert. Dem Orchester kommt eine entscheidende Rolle zu, das im Gedicht Ungesagte und Unausgedachte zu sagen und auszudenken. Nachdem sich die Singstimme in der Zeile Mußt sie ins ew’ge Licht versenken! in die Höhe geradezu quält, um dann kraftlos wieder in die Tiefe abzufallen, kommt ein leidenschaftlicher, von großer Verzweiflung zeugender Ausbruch des Orchesters solus ipse, der diese christlich-metaphysische Tröstung als unmöglich entlarvt.


    Mahler dekonstruiert Rückert an der alles entscheidenden Stelle, indem er die Unmöglichkeit des Tröstungsversuchs durch die Beschwörung der christlichen Glaubensgewissheit aufzeigt: Aus dem Versuch, das Unmögliche möglich zu machen, das Untröstliche zu trösten durch den Glauben, wird der musikalisch vermittelte Beleg, dass diese scheinbar Mögliche in Wahrheit ganz und gar unmöglich ist: Es gibt keine mögliche Vertröstung für das schlechterdings Untröstliche, auch der christliche Glaube vermag das nicht. Die Musik antwortet auf die Beschwörung einer christlichen Vertröstung im Text, indem sie in all dem die ausweglose Trostlosigkeit aufzeigt.


    Was durch Mahlers Vertonung aus der Verbergung herausgeholt wird, ist nicht mehr und nicht weniger als das Absurde in dem Versuch, das Untröstliche trösten zu wollen. Darauf beruht letztlich die abgründige Traurigkeit und das beklemmend Erschütternde von Mahlers Vertonung dieses ersten der Kindertotenlieder. Der Entdecker des Absurden war wiederum Sören Kierkegaard. In seiner wohl rätselhaftesten Schrift über die Wiederholung besteht die Absurdität darin, dass die Wiederholung als eine Möglichkeit im Grunde der Versuch ist, ein Unmögliches möglich machen zu wollen. Kierkegaards Beispiele sind Hiob und der Versuch, eine verlorene Liebe wiederzugewinnen. Der christliche Glaube war für Kierkegaard Ausdruck des Absurden, eine Absurdität, welche sich nur dem Einzelnen und nicht der Sonne des Allgemeinen erschließt. Rückerts Versuch, mit einer Kraftanstrengung des Willens sich des Trostes für das Untröstliche zu versichern, kann man deshalb mit Kierkegaard als Ausdruck der Absurdität des christlichen Glaubens deuten. Nur kehrt Mahlers Vertonung hier die Aussage um: Die absurde Kraft des Glaubens reicht nicht hin, das Untröstliche zu trösten, der christliche Tröstungsversuch als solcher wird zum Absurden. Das ist die Dekonstruktion des Textes durch die Musik.

  • (2. Skizze) Der Tod und der Sinn des Lebens und Leidens


    „In meiner geistigen Welt nimmt die Todesproblematik einen großen Raum ein. Ich setzte mich oft mit der Aporie des Todes auseinander, Todesgedanken verfolgen mich seit meiner Jugend. Man versteht dies besser, wenn man bedenkt, daß Trauerfälle in meiner Familie erschreckend häufig waren. Von meinen dreizehn Geschwistern überlebten nur fünf das Kindesalter. Deswegen habe ich oft Todesvisionen, und der Tod ist ein oft wiederkehrendes Sujet in meiner Musik.“


    „Von wo kommen wir? Wohin führt unser Weg? Habe ich wirklich, wie Schopenhauer meint, dies Leben gewollt, bevor ich noch gezeugt war? Warum glaube ich frei zu sein und bin doch in meinen Charakter gezwängt wie in ein Gefängnis? Was ist der Zweck der Mühe und des Leides? Wie verstehe ich die Grausamkeit und Bosheit in der Schöpfung eines gütigen Gottes? Wird der Sinn des Lebens durch den Tod endlich enthüllt werden? Das "Wozu" bleibt die quälende Grundfrage meiner Seele. Aus ihr entsprangen die stärksten seelischen Impulse zu meinem Schaffen, jedes meiner Werke ist ein neuer Versuch zu einer Antwort.“


    (Gustav Mahler, Hamburg Dezember 1894)


    „Wir stehen am Sarge eines geliebten Menschen, unserem Helden aus der Ersten Symphonie. Sein Leben, Kämpfen, Leiden und Wollen, das titanenhafte Ringen eines in der Welt noch befangenen kolossalen Menschen mit dem Geschick, dem er immer wieder unterliegt, zieht noch einmal, zum letzten Male, an unserem geistigen Auge vorüber. – Und nun in diesem ernsten und im Tiefsten erschütternden Augenblicke, wo wir alles Verwirrende und Herabziehende des Alltags wie eine Decke abstreifen, greift eine furchtbar ernste Stimme an unser Herz, die wir im betäubenden Treiben des Tages stets überhören: Was nun? Was ist dieses Leben – und dieser Tod, dieses Beil des Nichts? Gibt es für uns eine Fortdauer?


    Ist dies alles nur ein wüster Traum, oder haben dieses Leben und dieser Tod einen Sinn? – Diese Frage müssen wir beantworten, wenn wir weiter leben sollen. – “


    (Gustav Mahler über den 1. Satz seiner 2. Symphonie, Hamburg Dezember 1894)



    Warum hat Mahler die „Kindertotenlieder“ geschrieben? Alma Mahlers Unverständnis verwundert, wenn man Mahlers Äußerungen liest, die von einem Menschen zeugen, den der Tod und das Sterben seit seiner Kindheit geradezu verfolgt hat. Alle biographischen Bezüge und Erklärungsversuche können allerdings die Frage nur sehr bedingt beantworten, was der Tod und die beständige Beschäftigung mit dem Tod für den Komponisten Mahler bedeutet. Mahler, der ein leidenschaftlicher „Leser“ war und nicht zufällig zu den Lesern eines Buches gehört, das eine Modelektüre seiner Zeit war, Arthur Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung, wird Zeit seines Lebens umgetrieben von der Frage nach dem Sinn des Lebens und vor allem des Leidens. Das Programm zu seiner 2. Symphonie zeigt, was der Tod für Mahler bedeutet: Durch die alles erschütternde radikalste Verlusterfahrung, die der Tod des anderen Menschen für ihn bedeutet, wird der Mensch gezwungen, die Frage nach dem Sinn des Lebens überhaupt zu stellen. Anders als im Idealismus Beethovens, wo die Symphonie eine allgemeine „Idee“ zum Ausdruck bringt wie im Finale der Neunten die Idee der Menschheit, geht es bei Mahler nicht um das Allgemeine, sondern um den Einzelnen, das Individuum und seine Suche nach Sinn. Mahlers Symphonien sind demnach so etwas wie eine Lebens- und Existenzphilosophie in Tönen, wie es von diesem und anderen so gar nicht „literarischen“ Programmen und Programmentwürfen Mahlers immer wieder deutlich wird. In Mahlers Drang, die existenzielle Sinnfrage nach Leben und Tod immer wieder neu stellen und dann auch jeweils anders zu beantworten, bedeuten die Kindertotenlieder einen Einschnitt. Alle naiv-weltorientierten „Lösungen“ der Sinnfrage des Lebens versagen angesichts des Kindstodes – so die Finallösung der Ersten, die Wiederherstellung der Naturnaivität, aber ganz besonders der von Mahler so bezeichnete „humoristisch-ironische Kunststil“, der mit der Welt von „überlegener Warte“ aus fertig zu werden versucht, den die Vierte Symphonie verkörpert.


    Mahlers Sicht auf die Welt, die geprägt ist von Leiden, Not und Tod, bringt jenes Wunderhornlied zum Ausdruck, das er bezeichnend den symbolischen Titel Das irdische Leben gegeben hat. Das Erste der Kindertotenlieder mit seinem Versagen des Trostes knüpft hier an: Das hungernde Kind bittet immer wieder um Brot und wird von der Mutter jedes Mal vertröstet. Der Kindstod am Ende zeigt auf fatale Weise die Vergeblichkeit jeglicher Vertröstung. Der Trost als Geste der Ermutigung ist nur ein hilfloser Appell zum Aushalten und Durchhalten angesichts drängender Not und quälendem Leiden, der gegen den Tod letztlich nichts ausrichtet: „Und als das Brot gebacken war,/ Lag das Kind auf der Totenbahr.“


    Mit Das irdische Leben korrespondiert bei Mahler das Wunderhornlied Das himmlische Leben, das humoristische Finale der Vierten Symphonie. Mahler selbst erläutert seinen Sinn:


    „Es ist die Heiterkeit einer höheren, uns fremden Welt darin (in den ersten drei Sätzen der 4. Symphonie, H.K.), die für uns etwas schauerlich Grauenvolles hat. Im letzten Satz (im „Himmlischen Leben“, H.K.) erklärt das Kind, welches im Puppenstand doch dieser höheren Welt schon angehört, wie alles gemeint sei.“


    (Gustav Mahler, NBL 12.10.1901)


    Das Orchester leitet – wie schon den ersten Satz der Vierten – mit einer Narrenschelle ein. Nach Jean Paul ist der Humor „überwundenes Leiden an der Welt“ und der höchste Humor derjenige, wo der Himmel auf die Erde kommt. „Kein’ Musik ist ja nicht auf Erden/ Die unsrer verglichen kann werden“ – mit ihrem ungenierten Eigenlob zeigt die Musik ihre „Leistung“ an, das Höchste zu vollbringen: Im „Puppenstand des Bewusstseins“, also in der kindlichen Naivität, die Not und Tod ganz einfach nicht kennt, holt die Musik die Freuden des Himmels auf die Erde im Kindertraum vom himmlischen Leben, wo es Lust und Genuss im Überfluss gibt und in Nichts aber auch gar Nichts irgendein Mangel herrscht. Worauf diese Fähigkeit der Musik beruht, im Humor den Himmel von seiner erhabenen Höhe auf die Niederungen der Erde herunterholen zu können, zeigt die humoristische Verkehrung des Verhältnisses der Kausalität zu Beginn:


    Wir genießen die himmlischen Freuden

    D’rum tun wir das Irdische meiden!


    Nicht weil das Irdische gemieden wird, wie unser Realitätsbewusstsein meint, können wir der paradiesischen Genüsse teilhaftig werden, sondern umgekehrt. In dieser humoristischen Verdrehung liegt das, was Friedrich Nietzsche die „Kraft des Vergessens“ genannt hat: Der kindliche Traum vom himmlischen Leben ist es, dem als solchen die Kraft eignet, alle Nöte und Sorgen irdischen Lebens vergessen zu machen.


    Genau das versagt in den Kindertotenliedern. Das Irdische, die Erfahrung von selbsterlebter Not und selbsterlebtem Tod, sie ist durch nichts zu verdrängen und vergessen zu machen und der Himmel kommt auch nicht mehr humoristisch auf die Erde. Die Musik kann den „Puppenstand“ des Bewusstseins nicht mehr einnehmen, also eine kindliche Perspektive der Weltbetrachtung, die von Not und Tod verschont bleibt. Die Leiderfahrung des Kindstodes ist bei Rückert individualisiert: „Das Unglück geschah nur mir allein!/ Die Sonne, sie scheinet allgemein!“ Dass Kinder ganz allgemein den Hungertod sterben, das weiß die Welt, wie es das Wunderhornlied Das irdische Leben sagt mit der Kraft des Symbolisch-Allgemeinen. Aber wenn die Musik nicht mehr nur mit Kierkegaard gesprochen in der Gleichgültigkeit des Allgemeinen vom Kindstod redet, sondern von der existenziellen „Jemeinigkeit“ (Martin Heidegger) unsäglichen Leids, das der Tod des eigenen Kindes exklusiv bedeutet, dann vergeht ganz einfach jeglicher Humor. Nicht „das Kind“ – also allgemein ein Kind einer Mutter als eins von vielen, wie es im Elend der Welt viel zu viele sind – liegt „auf der Totenbahr“ bei Rückert, sondern es sind seine Kinder.


    Das dritte der Kindertotenlieder ergreift mit seiner einfühlsamen Wärme, dem subtil einfühlsamen Blick auf die Mutter, die ihr Kind verloren hat:


    Wenn dein Mütterlein tritt zur Tür herein,

    Und den Kopf ich drehe, ihr entgegen sehe,

    Fällt auf ihr Gesicht erst der Blick mir nicht,

    Sondern auf die Stelle, näher nach der Schwelle,

    Dort, wo würde dein lieb Gesichten sein,

    Wenn du freudenhelle trätest mit herein,

    Wie sonst, mein Töchterlein.


    Dem imaginären Betrachter fällt der erste Blick aber bezeichnend gar nicht auf das von tiefer Trauer ergriffene Gesicht der Mutter, sondern auf die Türschwelle, wo das Kind immer gestanden hat und nun nicht mehr steht. Bei Jean-Paul Sarte gibt es den leeren Stuhl als ursprüngliche Erfahrung des Nichts: Jemand, mit dem ich verabredet war und der da sein sollte, ist nicht da. Ich sehe nun nicht einfach einen Stuhl, sondern den leeren Stuhl. Die „Leere“ des Nicht-Daseienden wird zur leidvollen Erfahrung einer Nichtung. Im Kindertotenlied spricht aus diesem Sehen des Nicht-Daseienden die Unmöglichkeit, vergessen zu können: Das Abwesende, das tote Kind, wird zu beherrschenden Erfahrung, weil es schlicht keine „Kraft des Vergessens“ vermag, das Geschehene aus der Erinnerung zu löschen.


    Im vierten Lied Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen zeigt sich die Huldigung des „Freudenlichts der Welt“ aus dem ersten als eine zwiespältige, so wie es die nicht mehr hellen, sondern zwielichtig dunklen Flammen der Sterne aus dem zweiten sind. Diese Phase der Trauerarbeit prägt die Hilflosigkeit und Flucht in die Wunschvorstellung, die Kinder seien „nur ausgegangen“, also darin, die Unmöglichkeit ihrer Wiederkehr als möglich vorzustellen. Der „schöne Tag“ wird beschworen in einer Tröstung in Form der Selbstermutigung („o sei nicht bang!), so, als gäbe es die Nacht des Todes nicht:


    Oft denk’ ich, sie sind nur ausgegangen!

    Bald werden sie wieder nach Hause gelangen!

    Der Tag ist schön! O sei nicht bang!

    Sie machen nur einen weiten Gang!


    Jawohl, sie sind nur ausgegangen

    Und werden jetzt nach Hause gelangen!

    O, sei nicht bang, der Tag is schön!

    Sie machen nur den Gang zu jenen Höh’n!


    Sie sind uns nur vorausgegangen

    Und werden nicht wieder nach Hause gelangen!

    Wir holen sie ein auf jenen Höh’n

    Im Sonnenschein!

    Der Tag is schön auf jenen Höh’n!


    Bei Mahler wird der schöne Tageswelt bereits in den Liedern eines fahrenden Gesellen besungen, im Lied Ging heut´ Morgen übers Feld, was dann auch das Hauptthema des Kopfsatzes der Ersten Symphonie bildet.


    Ging heut morgen übers Feld,

    Tau noch auf den Gräsern hing;

    Sprach zu mir der lust'ge Fink:

    "Ei du! Gelt? Guten Morgen! Ei gelt?

    Du! Wird's nicht eine schöne Welt?

    Zink! Zink! Schön und flink!

    Wie mir doch die Welt gefällt!"


    Im Kindertotenlied kommt jedoch der Frohsinn des Lebens in den schönen Tag hinein gar nicht erst auf. Denn alles dreht sich mit der dritten Strophe um, in dem Gedanken, dass das „Aus“-Gehen der Kinder nur ein „Voraus“-Gehen ist. Wie die verstorbenen Kinder gehen auch die Eltern in den Tod, wie es das Menschenschicksal will. Nach dieser Wende ist der Tag nur noch schön „auf jenen Höh´n“. Das Sonnenlicht, es scheint im Vorausgehen zum Leben nach dem Tod im Himmel lediglich noch auf den Höhen der Berge, ist also gar kein wirkliches „Freudenlicht der Welt“ mehr, das im ersten Kindertotenlied als tröstendes Ziel der Sinnsuche beschworen wird. Der „schöne Tag“ hat sich gleichsam auf die Berghöhe der Himmelsnähe, die zugleich die Erdenferne ist, zurückgezogen. Seine Sonne scheint nicht mehr in die Niederungen des Lebens mit seinen schattenhaften Tälern des Todes. Das trösten wollende „Heil sei dem Freudenlicht der Welt“ erweist sich auf dieser späteren Stufe der Trauerarbeit als ein trügerischer Optimismus, ein verfrühter und verfehlter Lobpreis: Der Himmel und sein strahlendes Sonnenlicht bleibt der Erde fern und kommt nicht mehr auf die Erde herab. In der Sechsten Symphonie sind es die Herdenglocken auf der Almwiese, welche symbolisieren, dass die Himmelsferne nicht mehr humoristisch in die Himmelsnähe zusammenrücken kann.


    „Wir holen sie ein auf jenen Höh’n/ Im Sonnenschein!“ – der verlorene Himmel und das verlorene Sonnenlicht kindlicher Naivität lassen sich für das irdische Leben nicht mehr zurückholen, die Wiederbegegnung ist nur noch im Tod möglich. Die Bewegung des Humors, den Abstand von Himmel und Erde zum Nichts zu verkleinern, sie kehrt sich damit um zu der des „Abschieds“ von der Welt, welche den Abstand beibehält und die Erde als einen Planeten im Himmel wiederfindet – Mahlers Kindertotenlied weist hier auf das Lied von der Erde voraus.

  • (3. Skizze) Die Finallösung des metaphysischen Trostes


    Mahlers Symphonien sind, wie Paul Bekker entdeckte, als „Finalsymphonien“ komponiert. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass sich das Drama vom Kopfsatz der Symphonie – dem Sonatenallegro – auf das Finale verschiebt, wie in der Ersten Symphonie, wo es im Kopfsatz gar keinen dramatischen Kontrast im herkömmlichen Sinne mehr gibt. Es spricht doch einiges dafür, dass Mahler die Kindertotenlieder als einen symphonischen Zyklus angelegt hat. Ein Zeichen dafür ist der in der Liedvertonung des fünften und letzten Kindertotenliedes formal noch einmal zugespitzte dramatisch scharfe Kontrast zwischen dem hoch bewegten ersten und dem stillen und ruhigen letzten Teil:


    In diesem Wetter, in diesem Braus,

    Nie hätt’ ich gesendet die Kinder hinaus;

    Man hat sie getragen hinaus,

    Ich durfte nichts dazu sagen!


    In diesem Wetter, in diesem Saus,

    Nie hätt’ ich gelassen die Kinder hinaus,

    Ich fürchtete sie erkranken;

    Das sind nun eitle Gedanken.


    In diesem Wetter, in diesem Graus,

    Nie hätt’ ich gelassen die Kinder hinaus;

    Ich sorgte, sie stürben morgen,

    Das ist nun nicht zu besorgen.


    In diesem Wetter, in diesem Saus, in diesem Braus,

    Sie ruh’n als wie in der Mutter Haus,

    Von keinem Sturm erschrecket,

    Von Gottes Hand bedecket.


    Die Stimmung des dramatischen ersten Teils ist wohl nicht zufällig verwandt mit dem des Erlkönigs, der durch „Nacht und Wind“ mit dem sterbenden Kind auf dem Arm reitet, das ihm der Tod dann entreißt. Die Bilder werden in ihrem Sinn gegen sich selbst gekehrt: Der Schutz des Hauses soll die Kinder vor der Schutzlosigkeit des tobenden „Weltgetümmels“ schützen. Doch gerade im schützenden Haus finden sie den Tod. Der Selbstvorwurf, die Kinder im Sturm nie nach draußen gelassen zu haben, wo sie den Tod finden können und schließlich doch nichts dagegen getan zu haben, wenn es schließlich geschieht, ist Ausdruck der Vergeblichkeit menschlicher Sorge und Anstrengung, das Leben wirklich schützen und bewahren zu können. (Das „besorgen“ ist hier nicht im Sinne des uneigentlichen Besorgens von Dingen und Geschäften wie in Heideggers Sein und Zeit zu verstehen, sondern wie das Deutsche Wörterbuch Auskunft gibt meint es ein „für etwas Sorge tragen“.) Zum Schluss kehrt sich das Bild in seinem Sinn um: Gerade in den stürmischen Wettern, die weltlich betrachtet Schutzlosigkeit bedeuten, finden die hinausgetragenen toten Kinder ihr schützendes Haus: das des Himmels. Dort herrscht genau das, was das „irdische Leben“ nicht findet: die Ruhe vollkommener Beunruhigungslosgkeit, die Ataraxie, unter Gottes Hand: „Von keinem Sturm erschrecket,/ Von Gottes Hand bedecket.“


    Mahlers Finalkonzeption des fünften Liedes kommt man auf die Spur, wenn man die Parallele insbesondere zum Finale der Dritten Symphonie sieht. Bei Natalie Bauer-Lechner findet sich die Aufzeichnung vom 4. Juli 1896:


    „Auf dem heutigen Spaziergang sagte Mahler zu mir: „Im Adagio ist alles aufgelöst in Ruhe und Sein; das Ixionsrad der Erscheinung ist endlich zum Stillstand gebracht. In den schnellen Sätzen dagegen, im Menuett und Allegro (ja, selbst im Andante meiner Zweiten) ist jegliches im Fluß, Bewegung, Werden. So schließe ich meine Zweite und Dritte wider den Usus – ohne daß ich mir damals des Grundes bewußt gewesen wäre – mit Adagios, als mit der höheren gegen eine niedere Form.“


    Der Gegensatz von Bewegung – Ruhe wie auch der einer „höheren gegen eine niedere Form“ lässt sich im letzten Lied der Kindertotenlieder erkennen. Mahler hat nämlich die Verzahnung der Strophen aufgehoben: Rückerts Gedicht wiederholt litaneiartig die Anfangszeile „In diesem Wetter, in diesem Saus, in diesem Braus,“ in jeder, auch der letzten Strophe. Mahlers Vertonung wiederholt nun nach dieser ersten Zeile der Schlussstrophe die komplette erste Strophe. Damit löst sich die letzte und ihr Ausdruck von himmlischer Ruhe vollkommen ab von der Gesamtheit der vorherigen Strophen mit ihrer stürmischen Bewegtheit. Die Schlussstrophe wird so zur geschlossenen und eigenständigen „höheren Form“, welche ein Bild des Himmels musikalisch im Zusammenspiel mit dem Text schildert, dramatisch kontrastierend mit der durch die Wiederholung ebenso geschlossenen „niederen Form“, welche das lebensbedrohliche, höchst bewegte Sausen und Brausen irdischen Lebens zum Ausdruck bringt.


    Diese finale Lösung, welche die letzte Erfüllung in der Ruhe jenseits aller ruhelosen Lebensbewegtheit sucht, ist metaphysisch und auch metaphysisch zu denken – was darin zum Ausdruck kommt, dass Mahler den metaphysischen Gegensatz von „Sein“ und „Erscheinung“ bemüht: Das ewig rollende „Ixionsrad“ ist das „Ixionsrad der Erscheinung“. Der ruhelosen Bewegtheit der Erscheinungswelt – und d.h. unserer menschlich-irdischen Erfahrungswelt – wird die metaphysische Transzendenz, die Ruhe immerwährenden Seins als das ganz Andere, das Jenseits des weltlich Erscheinenden, gegenübergestellt: das Ixionsrad ist stillgestellt. Mahlers metaphysische Sprache ist nun kein Zufall, denn bei dem Bild des stillgestellten Ixionsrades handelt es sich schlicht um ein Schopenhauer-Zitat:


    „So liegt das Subjekt des Wollens beständig auf dem drehenden Rade des Ixion, schöpft immer im Siebe der Danaiden, ist der ewig schmachtende Tantalos.


    Wenn aber äußerer Anlass, oder innere Stimmung, uns plötzlich aus dem endlosen Strome des Wollens heraushebt, die Erkenntnis dem Sklavendienste des Willens entreißt, die Aufmerksamkeit nicht mehr auf die Motive des Wollens gerichtet ist, sondern die Dinge frei von ihrer Beziehung auf den Willen erfasst, also ohne Interesse, ohne Subjektivität, rein objektiv sie betrachtet, ihnen ganz hingegeben, insofern sie bloß Vorstellungen, nicht sofern sie Motive sind: dann ist die auf jenem ersten Wege des Wollens immer gesuchte, aber immer entfliehende Ruhe mit einem Male von selbst eingetreten, und uns ist völlig wohl. Es ist der schmerzenslose Zustand, den Epikuros als das höchste Gut und als den Zustand der Götter pries: denn wir sind, für jenen Augenblick, des schnöden Willensdranges entledigt, wir feiern den Sabbath der Zuchthausarbeit des Wollens, das Rad des Ixion steht still.“


    (Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Drittes Buch. Welt als Vorstellung. Die platonische Idee: Das Objekt der Kunst, § 38.)


    Mit diesem Gedanken Schopenhauers einer Vorstellung und Erkenntnis, welche die Dinge losgelöst betrachtet von ihrer Beziehung auf den Willen, interesselos und sich befreiend von aller Subjektivität, die Tantalusqualen leidet wegen der Unerfüllbarkeit ihres Wünschens und Sehnens, Ruhe zu finden, lässt sich nun sehr gut auch die Finallösung der Kindertotenlieder deuten und verstehen: Die Vorstellung, dass die Kinder von Gott beschützt im Himmel ruhen, kann überhaupt erst durch die Befreiung und Erlösung vom subjektiven Willen ihre Kraft der Tröstung entfalten. Erlöst von allem Streben und Begehren, wodurch sich der epikurische „schmerzlose Zustand“ einer Vorstellung und Erkenntnis einstellen kann, wird der unendliche Schmerz, wie sie der unerträgliche und untröstliche Verlust, der Kindstod, letztlich verwunden. In den Stufen der Trauerarbeit ist dieses Sein- und Loslassen der Schlusspunkt, der sich von allen verzweifelten Wunschvorstellungen befreit wie dem Wünschen und Begehren im Zweiten der Kindertotenlieder, die verstorbenen Kinder in ihrer Unerreichbarkeit von Sternen am Nachthimmel des Todes mögen wenigstens nahe bleiben, wenn sie denn nicht wiederkommen:


    Ihr wolltet mir mit eurem Leuchten sagen:

    Wir möchten nah dir bleiben gerne!

    Doch ist uns das vom Schicksal abgeschlagen.

    Sieh’ uns nur an, denn bald sind wir dir ferne!

    Was dir nur Augen sind in diesen Tagen:

    In künft’gen Nächten sind es dir nur Sterne.


    Mahler hat in seiner Deutung des Finales der Dritten die Liebe ins Spiel gebracht, wenn er sagt, dass die Sätze der Symphonie „so mannigfaltig wie die Welt selbst“ „gipfeln und finden die befreiende Lösung in der <Liebe>.“ (NBL 4. Juli 1896) Die „Liebe“, um die es bei Mahler geht, ist die befreiend-loslassende und nur so vom Leiden erlösende, also gerade nicht das willentliche, leidenschaftliche Begehren, mit Schopenhauer gedacht ein „Aushängen des Willens“ und Aufgeben jeglichen Strebens und Sehnens, das in seiner Nichterfüllung nur Leiden bedeuten kann: Mahlers Liebe ist ein Seinlassen des Anderen, frei vom Egoismus des Begehrens.


    Das finale Bild der Kindertotenlieder, in dem die Kinder im Haus des Seins ruhen, gibt die Antwort auf das erste Lied, den Trost-Appell „Du mußt nicht die Nacht in dir verschränken,/ Mußt sie ins ew’ge Licht versenken!“ wodurch sich der symphonische Kreis schließt, indem der metaphysische Trost im Loslassen vom Willen letztendlich zur tröstenden Gewissheit wird.


    Aber ist dieser Trost und damit diese Finallösung des Problems von Leben und Tod durch die Musik wirklich überzeugend? Bei Mahler geht es schließlich nicht um irgendeinen Trost, sondern den metaphysischen Trost, dass das Leben mit dem Tod nicht zuende ist, sondern das irdische Leben sich fortsetzt im ewigen Leben. Diese Trostvorstellung speist sich jedoch durch den Schauder und die Angst vor dem eigenen Tod. Liegt der eigene Tod in der Regel in einer unbestimmten Zukunft und bleibt damit unheimlich ungreifbar, so ist der Tod des Anderen ein greifbarer wirklicher Tod, eine alles erschütternde Verlusterfahrung im Hier und Jetzt. Der metaphysische Trost durch das ewige Leben bleibt jedoch angesichts des Todes des Anderen zweifelhaft. Ob die toten Kinder nun für immer gestorben sind oder im Himmel ruhen, sie sind in beiden Fällen der irdischen Erfahrung unendlich fern. Die Verlusterfahrung bleibt in beiden Fällen ganz einfach ein Verlust, solange das irdische Leben dauert. Die christlich-metaphysische Vorstellung, nach dem eigenen Tod das Leben wiedergeschenkt zu bekommen, tröstet über das Unfassbare und Unheimliche des Todes hinweg, nimmt ihm den Schrecken eines absoluten Endes. Für diesen metaphysischen Trost des zu erwartenden eigenen Todes gibt es aber keine Entsprechung im Falle des tatsächlichen Todes des anderen Menschen. Die Verlusterfahrung des Kindstodes lässt sich durch keine Vorstellung, dass die verlorenen Kinder ein Leben nach dem Tod im Himmel geschenkt bekommen, aufhebend vertrösten, denn für den Verlust bekommt der an dem Verlust leidende Mensch auf der Erde nichts wiedergeschenkt.


    Diese Aporie des metaphysischen Trostes lässt sich existenzial durch die Unterscheidung von „Sein“ und „Mitsein“ erläutern. Das Leben der Eltern mit ihren Kindern ist eine Form des Daseins als Mitsein, das auf der existentiellen Nähe beruht, dass man sein Leben und Dasein mit dem anderen Menschen auch tatsächlich teilt und teilen kann. Die Vorstellung, dass Gottes Hand die toten Kinder schützt, kann deshalb für dieses Mitsein nicht wirklich tröstend sein und bleibt somit ein befremdender Trost. Tröstend könnte nur die Erfüllung des Wunsches sein, dass die Nähe zu den fernen Kindern wiederhergestellt wird, sie also in die Gemeinschaft mit ihren sich um sie sorgenden Eltern zurückkehren, denn nur dann wird ihnen das Leben und Sein auch als ein Mitsein wiedergeschenkt. Der metaphysische Trost kann hier das Unmögliche nicht als möglich erscheinen lassen, denn der Wunsch und die Wunscherfüllung nach Nähe und Miteinandersein auch mit den toten Kindern, die sich in der unendlichen Himmelsferne aufhalten, bleibt unerfüllt: Gottes Hand ist vom Mitsein her gedacht eine fremde Hand und nicht die eigene schützende Hand der leiblichen Eltern, die sie nach der irdischen Wunsch- und Glücksvorstellung schützen sollte.


    Schopenhauers Gedanke der Erlösung vom Willen löst nun diese Aporie des metaphysischen Trostes und befähigt Mahlers Kindertotenlieder zu einer wirklichen „Final“-Lösung der Trauerarbeit: Wenn die „innere Stimmung“, sagt Schopenhauer, die Vorstellungen und Dinge „frei von ihrer Beziehung auf den Willen erfasst“, dann ist der Vorstellende „ihnen ganz hingegeben“. Gemeint damit ist das gleichsam selbstvergessene Sich-Versenken in den Inhalt der Vorstellung. Durch diese Versenkung wird letztlich die Nähe und Unmittelbarkeit zu dem Bild der im Himmel ruhenden Kinder hergestellt, eine erhabene Höhe, die für das Wollen und Wünschen eine unendliche Ferne bleiben muss, in der Befreiung davon der tröstenden Vorstellung nun die Evidenz verschafft. Indem alles Wünschen und Wollen ausgelöscht ist in dieser Versenkung in das tröstende Bild, erscheint letztlich die Distanz von Himmel und Erde aufgehoben und auf das absolute Minimum minimiert – ganz so, wie es der Humor in der Vierten Symphonie auf seine Weise vermochte. Die Vorstellung wird der Ruhe und dem Frieden ihres Vorgestellten voll und ganz teilhaftig.


    Der Musik kommt dabei die entscheidende Bedeutung zu, dieser Vorstellung und „Erkenntnis“ die Evidenz der Veranschaulichung zu verschaffen und damit zu wirklicher Erlebnisqualität zu verhelfen. Schopenhauer erläutert antiklassizistisch den Sinn der ästhetischen Anschauung am Beispiel der Betrachtung einer Landschaft. Es geht demnach gerade nicht darum, die Distanz zum angeschauten Objekt zu wahren, sondern mit ihm zu verschmelzen, indem sich der Blick in dieser angeschauten Landschaft gleichsam verliert. Mahlers Musik macht Rückerts Bild von den im Himmel ruhenden Kindern intensivierend zum tröstenden Erlebnis, zum tatsächlich wirkenden Trost: Der Gesang ist ganz eingenommen von dem, was er singt und genau darauf beruht seine rührend-berührende Wirkung. Mahlers Musik führt so selbst, ja entführt den Hörenden und Lauschenden in den Himmel – der nun wunschlos nicht mehr Leidende ist den toten Kindern wirklich nah, so, als wolle die Musik noch einmal, jetzt allerdings nicht mehr im Humor, sondern ganz im Ernst, sagen: „Kein’ Musik ist ja nicht auf Erden/ Die unsrer verglichen kann werden…“


    Mahlers Musik ist aber – so wie bei seinen Symphonien auch – bei dieser Finallösung nicht stehen geblieben. Wie auch die Erlösung und der Humor der Dritten und Vierten Symphonie ist die metaphysische Wunschlosigkeit als letzter Trost, wie sie die Kindertotenlieder bedeuten, eine artifizielle Lösung, ein „Kunstgefühl“ und eine „Artistenmetaphysik“ im Sinne Nietzsches. Die Versöhnung mit dem Tod, sie will sich aber vielleicht in der wirklichen Welt, die vom Glücksstreben als einem Wünschen nicht lassen kann, vielleicht dann doch nicht einstellen. Denn das Bild von den Kindern, von Gott beschützt im Himmel ruhend, ist lediglich eine tröstende Vorstellung eines vorstellenden Willens, der sich allem irdischen Glücksstreben entsagt hat. Auf diesen Einspruch des nach dem Glück suchenden Menschen gibt das Lied von der Erde schließlich die Antwort: den „Abschied“ von der Welt, wenn das Wollen und Wünschen versagt hat, der Mensch seiner selbst und seiner irdischen Existenz damit fremd geworden ist:


    Er stieg vom Pferd und reichte ihm den Trunk

    Des Abschieds dar. Er fragte ihn, wohin

    Er führe und auch warum es müßte sein.

    Er sprach, seine Stimme war umflort: Du, mein Freund,

    Mir war auf dieser Welt das Glück nicht hold!

    Wohin ich geh? Ich geh, ich wandre in die Berge.

    Ich suche Ruhe für mein einsam Herz.

    Ich wandle nach der Heimat, meiner Stätte.

    Ich werde niemals in die Ferne schweifen.

    Still ist mein Herz und harret seiner Stunde!


    Die liebe Erde allüberall blüht auf im Lenz und grünt

    Aufs neu! Allüberall und ewig blauen licht die Fernen!

    Ewig ... ewig ...