Nun will die Sonn’ so hell aufgeh’n
Als sei kein Unglück die Nacht gescheh’n!
Das Unglück geschah nur mir allein!
Die Sonne, sie scheinet allgemein!
Du mußt nicht die Nacht in dir verschränken,
Mußt sie ins ew’ge Licht versenken!
Ein Lämplein verlosch in meinem Zelt
Heil sei dem Freudenlicht der Welt!
Kaum eine andere Musik kann so erschüttern wie Mahlers Kindertotenlieder. Ich jedenfalls kann diese so abgründig traurige und tief berührende Musik nicht einfach „durchhören“. Für mich geht sie an die Schwelle von dem, was ich verkrafte und verkraften kann. Ich kenne kein anderes Musikstück, das mir als Hörer so „an die Nieren“ geht. Gestern hörte ich das erste Lied in zwei großartigen Interpretationen – Waltraud Meier mit Daniel Barenboim und Janet Baker mit Sir John Barbirolli – und es war genug. Deshalb werde ich meine Skizze zu den Kindertotenliedern in mehrere aufsplitten und mich zunächst auf das erste Lied beschränken.
Die erschütternde Wirkung dieses ersten Liedes geht im Wesentlichen von Mahlers Musik aus und nicht dem wahrlich auch sehr anrührenden Text. Und das nicht ohne Grund. Mahlers Vertonung hat nämlich Rückerts Aussage radikalisiert – die Musik verdoppelt nicht einfach rhetorisch den Sinn dieser Dichtung, sondern fügt eine eigene Aussage hinzu, dekonstruiert ihn gleichsam, enthüllt seine unausgesprochene Wahrheit, die darin liegt, über die christliche Botschaft und das christliche Weltbild hinauszugehen. Der christliche Glaube will Trost spenden. Aber dies ist eigentlich nur der ganz und gar hilflose Versuch, über das im Prinzip Untröstliche der Abgründigkeit der Erfahrung des Kindstodes hinwegtrösten zu wollen.
Rückerts Gedicht ist in seiner Aussage ambivalent. Einerseits eröffnet sich hier – sehr modern auf der Höhe der Philosophie und Theologie des 19. Jhd. – eine bis dahin unbekannte Dimension in der poetischen Behandlung der Erfahrung des Todes. Andererseits geht sie aber auch wieder gleichsam einen Schritt zurück, als sie diesem radikal Neuen seinen Stachel nimmt, indem sie beruhigend und beschwichtigend das christlich-religiöse Weltbild als Kraft der Tröstung beschwörend herbeiruft. Die ganze Ambivalenz Rückerts zeigt sich in der Zeile:
Das Unglück geschah nur mir allein!
Die Sonne, sie scheinet allgemein!
Neu bei Rückert ist diese Gegenüberstellung des Einzelnen und des Allgemeinen. Die Sonne scheint nicht mehr in die Nacht des Todes, sie kann sie in keiner Weise irgendwie aufhellen. Der Tod wird damit als eine radikale Erfahrung der „Vereinzelung“ begriffen, wie dies die auf Sören Kierkegaard zurückgehende moderne Existenzphilosophie so bezeichnet hat. Die existenzielle „Vereinzelung“ hat den Sinn, den Einzelnen ganz auf sich allein zurückzuwerfen, indem alle allgemeinen Weltdeutungen und Welterklärungen schlicht bedeutungslos werden. Mit Martin Heideggers Sein und Zeit gesprochen hört die gleichgültige und unverbindliche Rede, dass „man“ schließlich einmal stirbt oder jeder Mensch, sobald er geboren wird, dazu bestimmt ist, zu sterben, ganz einfach auf, wenn man selbst vom Tod und der Todeserfahrung betroffen ist, die man mit Nichts und Niemandem teilen kann, sie vielmehr ganz für sich alleine hat und folglich auch ganz alleine – ohne Gott, die Menschheit und die Welt – verkraften muss.
Der Abgrund von isolierender Vereinzelung und vertröstender Sinngebung durch das Allgemeine, der sich in Rückerts Kindertotenlied auftut, kommt am prägnantesten in der Antwort von Sören Kierkegaard auf G.W.F. Hegel zum Ausdruck. Hegels Begriffs-Philosophie hat das Denken nur im Medium des Allgemeinen zum Absoluten erhoben. Bei Hegel findet sich so auch der fast schon zynische Satz: „Die Wahrheit des Individuums ist sein Tod!“ Darauf antwortet der Hegel-Kritiker Kierkegaard, Hegel umkehrend: „Der Einzelne ist das Wahre, nicht das Allgemeine.“ Das ist die Geburtsstunde der Existenzphilosophie. Rückert – das zeigt sich in diesem Gedicht – steht nun gleichsam zwischen Hegel und Kierkegaard.
Das Bild der Sonne des Allgemeinen – da darf man bei dem so ungemein gebildeten Friedrich Rückert voraussetzen, dass er es sehr bewusst verwendet – hat eine lange philosophisch-theologische Geschichte. Der Entdecker des Allgemeinen ist der griechische Philosoph Platon. Das Allgemeine – das sind bei Platon die „Ideen“. In Platons Dialog Politeia gibt es das berühmte Sonnengleichnis. Dort wird die höchste Idee, die Idee des Guten, die über allen anderen Ideen steht (griech. epekeina tes ousias), mit der Sonne verglichen, deren Licht zugleich alle Erkenntnis und alles Leben ermöglicht. Der Neuplatonismus (Plotin) hat dann diese Sonne der Idee des Guten als das göttliche „Eine“ (griech. hen) gedeutet als Urquell allen Seins. Über die Kirchenväter ist diese neuplatonische Lichtmetaphysik dann ins Christentum gekommen als Grundlage vor allem für die mystische Theologie. Auch im Pietismus ist diese Tradition lebendig. In Mahlers Vertonung ist die pietistische Auffassung des Todes, wonach er ein Lichtmoment der Stille ist, sehr gut erkennbar. Das tieftraurige Sinnen über den Kindstod ist bei Mahler still und vor allem ist es derselbe Ton aufgehellter Stille mit den mystischen Glockentönen, die zu der Zeile „Als sei kein Unglück die Nacht gescheh’n!“ erklingt wie auch zu „Die Sonne, sie scheinet allgemein!“ Mahlers Sicht des Kindstodes ähnelt hier dem von Goethe sehr geschätzten Danziger Kupferstecher Daniel Chodowiecki. Während andere Illustratoren Werthers Selbstmord als gewaltsamen, hässlichen Tod zeigen – Werther liegt wild ausgestreckt auf dem Boden, die Pistole aus der Hand gefallen in seiner Blutlache – verfrachtet Chodowiecki den sterbenden Werther ins Bett, zeigt seinen Tod in pietistischer Tradition als stillen Tod im mystischen Lichtschein.
(Eine Abbildung im Netz habe ich leider bislang nicht gefunden.)
„Das Unglück geschah nur mir allein!/ Die Sonne, sie scheinet allgemein!“ – in der ersten Hälfte der Betonung der Vereinzelung ist Rückert ganz Kierkegaard, indem er damit alle traditionellen Versuche, der Verlusterfahrung des Todes durch einen wie auch immer auf ein höheres Allgemeines zurückgreifenden Rechtfertigungsversuch seine Untröstlichkeit zu nehmen, abweist. Im Medium des Allgemeinen lässt sich für das Sterben leicht ein Sinn finden – wie es in der Geschichte auch immer wieder geschehen ist und bis heute geschieht: Man verweist auf die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Natur, wonach Geburt und Tod notwendig zusammengehören oder man rechtfertigt den Tod religiös, dass Gott ihn so gewollt habe, er also zu der von Gott eingerichteten Weltordnung gehört mit dem wiederum ganz allgemeinen Versprechen, dass mit dem Tod nicht alles zu Ende ist, der Mensch vielmehr die Misere irdischen Lebens für ein besseres himmlisches Leben eintauschen kann. Im Rahmen der Gesellschaft wird der Tod zum gerechtfertigten Opfer: Das Individuum gibt sein Leben für die Erreichung höherer Ziele der Allgemeinheit, wie die Freiheit zu erkämpfen, im glorreichen Kampf für Volk und Vaterland zu sterben und dadurch Ruhm und Ehre zu erlangen usw.
Doch dann kommt die entscheidende Wende:
Du mußt nicht die Nacht in dir verschränken,
Mußt sie ins ew’ge Licht versenken!
Was hier gefordert wird ist nicht weniger als die Aufhebung der Vereinzelung: Der Trauernde soll begreifen, dass er nicht auf sich selber zurückgeworfen ist, sondern die Sonne des Allgemeinen wiederfinden muss. Hier ist Rückert ganz Hegel: „Die Wahrheit des Individuums ist sein Tod!“ Das „ewige“ Licht mit seiner göttlichen Kraft erreicht schließlich auch die Nacht des Todes, indem der Einzelne, also das Individuum, als unendlich schwaches, kleines Licht vom großen und starken Licht der göttlichen Sinne gleichsam überblendet wird und so als einzelnes Lichtlein in diesem alles durchscheinenden Sonnenlicht vollkommen verschwindet. Die mystische Theologie bietet damit als Trost des Untröstlichen ganz einfach die Selbstauslöschung des Individuums und des individuellen Bewusstseins an, womit dann auch das verschwindet, woran das individuelle Bewusstsein untröstlich leidet: die Verlusterfahrung des Kindstodes.
Allerdings gibt es auch bei Rückert keine naive Glaubensgewissheit mehr. Das macht der Vergleich mit dem Wunderhornlied Urlicht deutlich, das eine zentrale Rolle in Mahlers Zweiter Symphonie spielt. Auch dort kommt das Lichtmotiv vor – und zwar als finaler Ausdruck naiver Glaubensgewissheit:
Der liebe Gott wird mir ein Lichtchen geben
Wird leuchten mir bis in das ewig selig Leben!
Dieses naive Gottvertrauen ist bei Rückert verschwunden: Der Dichter weiß um die Unaufhebbarkeit der Vereinzelung, die in der Untröstlichkeit der Verlusterfahrung des Kindstodes liegt. Um mit dem Höhlengleichnis Platons zu sprechen: Aus der Höhle, der dunklen Nacht des Kindstodes, führt von sich her kein Weg heraus zur Sonne des Allgemeinen, dem ewigen Licht der lebensspendenden Idee des Guten – gerade auch durch das naive Gottvertrauen nicht. An dieser entscheidenden Stelle wird Rückerts Dichtung deshalb heroisch. „Du musst...“ – es wird an den Willen appelliert, eine fast schon un- und übermenschliche Kraft- und Willensanstrengung eingefordert, damit die Tröstung des christlichen Glaubens überhaupt noch wirken kann. Doch genau dieser Appell an den bloßen Willen ist letztlich hohl. Es ist diese innere Unwahrhaftigkeit der Vertröstung des Untröstlichen durch die Mystik bei Rückert, die Mahlers Vertonung sozusagen bloßstellt.
Rückerts Gedicht ist zweiteilig, von zwei gegensätzlichen Stimmungen geprägt: Auf das Dunkel der Trauer über den Kindstod folgt die alles überstrahlende Sonnenhelle des tröstenden ewigen Lichts. Hätte Mahler Rückerts Gedicht im traditionellen Stil der musikalischen Rhetorik vertont, dann hätte die Musik den Affekt verstärkend das „Du musst...“ durch einen Wechsel der Stimmung unterstrichen, dass also das Licht ewigen Lebens über das Dunkel des Todes letztendlich triumphiert. Mahlers Musik ist jedoch durchgehend ganz und gar unheroisch und überspielt diese Zäsur eines per aspera ad astra, die in der Formanlage von Rückerts Gedicht erkennbar ist, macht sie unkenntlich. Gerade das schlechthinnige Fehlen von Dramatik und Heroismus in Mahlers Vertonung ist es nun, wodurch die Musik die Aussage des Gedichtes so „wahr“ und absolut glaubwürdig macht. Mahler sagt mit Kierkegaard gegen Hegel und Rückert: Das Einzelne ist das Wahre, nicht das Allgemeine – die Nacht des Untröstlichen ist durch kein Sonnenlicht der Vertröstung aufzuhellen, auch durch die Beschwörung des christlichen Glaubens nicht.
Mahlers Vertonung hält sich an die in ihrer Stimmung kontrastierenden Zweizeiler, die sie strophisch zusammenfassend wiederholt. Der ersten Zeile als Ausdruck stiller Trauer korrespondiert jeweils die sanfte Aufhellung mystischen Lichts in der zweiten. Das passt zum Charakter der Trauerarbeit: Die Musik „betet“ gleichsam wie in einer Litanei das Immergleiche herunter, was die Untröstlichkeit dieser Verlusterfahrung deshalb auch so ergreifend – weil durchgängig – zum Ausdruck bringt. Dazu kommt die eigenständige Bedeutung des Orchesters, was den Liedgesang reflektiert und kommentiert. Dem Orchester kommt eine entscheidende Rolle zu, das im Gedicht Ungesagte und Unausgedachte zu sagen und auszudenken. Nachdem sich die Singstimme in der Zeile Mußt sie ins ew’ge Licht versenken! in die Höhe geradezu quält, um dann kraftlos wieder in die Tiefe abzufallen, kommt ein leidenschaftlicher, von großer Verzweiflung zeugender Ausbruch des Orchesters solus ipse, der diese christlich-metaphysische Tröstung als unmöglich entlarvt.
Mahler dekonstruiert Rückert an der alles entscheidenden Stelle, indem er die Unmöglichkeit des Tröstungsversuchs durch die Beschwörung der christlichen Glaubensgewissheit aufzeigt: Aus dem Versuch, das Unmögliche möglich zu machen, das Untröstliche zu trösten durch den Glauben, wird der musikalisch vermittelte Beleg, dass diese scheinbar Mögliche in Wahrheit ganz und gar unmöglich ist: Es gibt keine mögliche Vertröstung für das schlechterdings Untröstliche, auch der christliche Glaube vermag das nicht. Die Musik antwortet auf die Beschwörung einer christlichen Vertröstung im Text, indem sie in all dem die ausweglose Trostlosigkeit aufzeigt.
Was durch Mahlers Vertonung aus der Verbergung herausgeholt wird, ist nicht mehr und nicht weniger als das Absurde in dem Versuch, das Untröstliche trösten zu wollen. Darauf beruht letztlich die abgründige Traurigkeit und das beklemmend Erschütternde von Mahlers Vertonung dieses ersten der Kindertotenlieder. Der Entdecker des Absurden war wiederum Sören Kierkegaard. In seiner wohl rätselhaftesten Schrift über die Wiederholung besteht die Absurdität darin, dass die Wiederholung als eine Möglichkeit im Grunde der Versuch ist, ein Unmögliches möglich machen zu wollen. Kierkegaards Beispiele sind Hiob und der Versuch, eine verlorene Liebe wiederzugewinnen. Der christliche Glaube war für Kierkegaard Ausdruck des Absurden, eine Absurdität, welche sich nur dem Einzelnen und nicht der Sonne des Allgemeinen erschließt. Rückerts Versuch, mit einer Kraftanstrengung des Willens sich des Trostes für das Untröstliche zu versichern, kann man deshalb mit Kierkegaard als Ausdruck der Absurdität des christlichen Glaubens deuten. Nur kehrt Mahlers Vertonung hier die Aussage um: Die absurde Kraft des Glaubens reicht nicht hin, das Untröstliche zu trösten, der christliche Tröstungsversuch als solcher wird zum Absurden. Das ist die Dekonstruktion des Textes durch die Musik.