Die Bachkantate (016): BWV152: Tritt auf die Glaubensbahn

  • BWV 152: Tritt auf die Glaubensbahn
    Kantate zum Sonntag nach Weihnachten (Weimar, 30.12.1714)




    Lesungen:
    Epistel: Gal. 4,1-7 (Durch Christus sind wir mündig und frei vom Gesetz)
    Evangelium: Luk. 2,33-40 (Die Worte des greisen Simeon und der Hanna zu Maria)



    Sechs Sätze; Aufführungsdauer: ca. 21 Minuten


    Textdichter: Salomon Franck (1659-1725), aus dessen „Evangelischem Andachts-Opffer“ von 1714/15


    Besetzung:
    Soli: Sopran, Bass; Blockflöte, Oboe, Viola d’amore, Viola da gamba, Continuo


    1. Sinfonia in e-moll Blockflöte, Oboe, Viola d’amore, Viola da gamba, Continuo


    2. Aria Bass, Oboe, Continuo
    Tritt auf die Glaubensbahn!
    Gott hat den Stein geleget,
    Der Zion hält und träget,
    Mensch! stoße dich nicht dran!
    Tritt auf die Glaubensbahn!


    3. Recitativo Bass, Continuo
    Der Heiland ist gesetzt
    In Israel zum Fall und Auferstehen!
    Der edle Stein ist sonder Schuld,
    Wenn sich die böse Welt so hart an ihm verletzt,
    Ja, über ihn zur Höllen fällt,
    Weil sie boshaftig an ihn rennet
    Und Gottes Huld und Gnade nicht erkennet!
    Doch selig ist
    Ein auserwählter Christ,
    Der seinen Glaubensgrund auf diesen Eckstein leget,
    Weil er dadurch Heil und Erlösung findet.


    4. Aria Sopran, Blockflöte, Viola d’amore, Continuo
    Stein, der über alle Schätze,
    Hilf, dass ich zu aller Zeit
    Durch den Glauben auf dich setze
    Meinen Grund der Seligkeit
    Und mich nicht an dir verletze,
    Stein, der über alle Schätze!


    5. Recitativo Bass, Continuo
    Es ärgre sich die kluge Welt,
    Dass Gottes Sohn
    Verlässt den hohen Ehrenthron,
    Dass er in Fleisch und Blut sich kleidet
    Und in der Menschheit leidet.
    Die größte Weisheit dieser Erden
    Muss vor des Höchsten Rat
    Zur größten Torheit werden!
    Was Gott beschlossen hat,
    Kann die Vernunft doch nicht ergründen;
    Die blinde Leiterin verführt die geistlich Blinden.


    6. Duetto Sopran, Bass, Instrumente in unisono, Continuo
    Seele
    Wie soll ich dich, Liebster der Seelen, umfassen?
    Jesus
    Du musst dich verleugnen und alles verlassen!
    Seele
    Wie soll ich erkennen das ewige Licht?
    Jesus
    Erkenne mich gläubig und ärgre dich nicht!
    Seele
    Komm! lehre mich, Heiland, die Erde verschmähen!
    Jesus
    Komm, Seele! durch Leiden zur Freude zu gehen.
    Seele
    Ach, ziehe mich, Liebster, so folg ich dir nach!
    Jesus
    Dir schenk ich die Krone nach Trübsal und Schmach!





    Eine in jeder Hinsicht sehr ungewöhnliche Kantate aus Bachs Weimarer Zeit eröffnet den Reigen der Kantaten zum Sonntag nach Weihnachten:


    Es gibt keinen Chor - folglich auch keinen Eingangschor und keine Choralstrophe(n).
    Nur zwei Solisten sind - in einer Form der damals so beliebten Dialoge zwischen der gläubigen Seele und Jesus - an der Kantate beteiligt, dazu ein begleitendes Kammermusikensemble, das auf den sonst üblichen Streichersatz (meist bestehend aus 1. und 2. Violinstimme und Viola) verzichtet. Die ganze Kantate ist also äußerst "sparsam" dimensioniert und hat dadurch einen wunderbar intimen Charakter.


    Gerade diese Abweichung von den für eine Bach-Kantate sonst eigentlich üblichen Grundelementen macht die Kantate BWV 152 wie die anderen "Abweichler" (es gibt noch ein paar mehr Kantaten, die besetzungstechnisch oder textlich aus dem Rahmen fallen) so besonders interessant.
    Gerade die einleitende Sinfonia (eine Solo-Blockflöte findet hier Verwendung, was den kammermusikalischen Charakter der Kantate nochmals unterstreicht) ist auffällig an die Form einer französischen Ouvertüre angelehnt. Hier ist die Parallele zum Einleitungschor von BWV 61 interessant, der ebenfalls in dieser zur damaligen Zeit so beliebten französischen Ouvertürenform komponiert wurde. Die Kantate BWV 61 entstand ebenfalls in Weimar und wurde einen Monat vor der hier besprochenen (nämlich am 1. Adventssonntag 1714) uraufgeführt.


    Im Kantatentext ist auffällig häufig vom sprichwörtlichen "Stein des Anstoßes" die Rede. Textautor Franck bezieht sich auf mehrere Bibelstellen (die die frommen Leipziger damals evtl. etwas besser "drauf hatten", als wir heutzutage?), in der Jesus (bzw. der Messias) mit einem Stein verglichen wird, an dem sich zwar viele stoßen werden, der aber mit seiner Geburt gleichzeitig auch zu einer Art "Grundstein" des neuen Bundes zwischen Gott und den Menschen geworden ist.
    Mit diesem Wissen im Hinterkopf versteht sich der andeutungsreiche Text sicher etwas besser.

    "Es ist mit dem Witz wie mit der Musick, je mehr man hört, desto feinere Verhältnisse verlangt man."
    (Georg Christoph Lichtenberg, 1773)