Der heutige Sonntag trägt den Namen Estomihi, was lateinisch ist und aus dem Eingangsvers des Gottesdienstes (Psalm 31,3 "Sei mir ein starker Fels") stammt. Es ist der letzte Sonntag vor Beginn der Passionszeit am Aschermittwoch, der immer in der Woche nach Estomihi liegt und zugleich der siebte Sonntag vor Ostern. Ein weiterer Name dieses Sonntags ist Quinquagesimae, wohl auch in Ergänzung zu den beiden vorangehenden Sonntagen Septuagesimae und Sexagesimae. Der Name bedeutet, dass es von heute an noch (ungefähr) 50 Tage bis Ostern sind. Ich habe gerade nochmal nachgezählt - es sind noch 49 Tage, das kommt also ungefähr tatsächlich hin!
Im protestantischen Bereich ist heute die Bezeichnung Estomihi üblich, während zu Bachs Zeiten beide Namen für den heutigen Sonntag verwendet wurden.
BWV 127: Herr Jesu Christ, wahr’ Mensch und Gott
Kantate zum Sonntag Estomihi (Leipzig, 11. Februar 1725)
Lesungen:
Epistel: 1. Kor. 13,1-13 (Das „Hohelied der Liebe“)
Evangelium: Luk. 18,31-43 (Jesus und die Zwölf gehen nach Jerusalem; Heilung eines Blinden)
Fünf Sätze, Aufführungsdauer: ca. 21 Minuten
Textdichter: unbekannt; inspiriert aber vom titelgebendem Choral aus dem Jahr 1562
Choral (Nr. 1 und 5, sowie in Nr. 4): Paul Eber (1511-1569)
Besetzung:
Soli: Sopran, Tenor, Bass; Coro: SATB; Blockflöte I +II, Oboe I + II, Trompete, Violino I/II, Viola, Continuo
1. Choral SATB, Blockflöte I + II, Oboe I + II, (Trompete), Streicher, Continuo
Herr Jesu Christ, wahr’ Mensch und Gott,
Der du littst Marter, Angst und Spott,
Für mich am Kreuz auch endlich starbst
Und mir dein’s Vaters Huld erwarbst,
Ich bitt’ durch’s bitt’re Leiden dein:
Du wollst mir Sünder gnädig sein.
2. Recitativo Tenor, Continuo
Wenn alles sich zur letzten Zeit entsetzet,
Und wenn ein kalter Todesschweiß
Die schon erstarrten Glieder netzet,
Wenn meine Zunge nichts, als nur durch Seufzer spricht
Und dieses Herze bricht:
Genung, dass da der Glaube weiß,
Dass Jesus bei mir steht,
Der mit Geduld zu seinem Leiden geht
Und diesen schweren Weg auch mich geleitet
Und mir die Ruhe zubereitet.
3. Aria Sopran, Blockflöte I + II, Oboe I, Streicher, Continuo
Die Seele ruht in Jesu Händen,
Wenn Erde diesen Leib bedeckt.
Ach ruft mich bald, ihr Sterbeglocken,
Ich bin zum Sterben unerschrocken,
Weil mich mein Jesus wieder weckt.
4. Recitativo + Aria Bass, Trompete, Streicher, Continuo
Wenn einstens die Posaunen schallen,
Und wenn der Bau der Welt
Nebst denen Himmelsfesten
Zerschmettert wird zerfallen,
So denke mein, mein Gott, im besten;
Wenn sich dein Knecht einst vor’s Gerichte stellt,
Da die Gedanken sich verklagen,
So wollest du allein,
O Jesu, mein Fürsprecher sein
Und meiner Seele tröstlich sagen:
Fürwahr, fürwahr, euch sage ich:
Wenn Himmel und Erde im Feuer vergehen,
So soll doch ein Gläubiger ewig bestehen.
Er wird nicht kommen ins Gericht
Und den Tod ewig schmecken nicht.
Nur halte dich,
Mein Kind, an mich:
Ich breche mit starker und helfender Hand
Des Todes gewaltig geschlossenes Band.
5. Choral SATB, Blockflöte I + II, Oboe I + II, (Trompete), Streicher, Continuo
Ach, Herr, vergib all’ unser Schuld;
Hilf, dass wir warten mit Geduld,
Bis unser Stündlein kömmt herbei,
Auch unser Glaub’ stets wacker sei,
Dein’m Wort zu trauen festiglich,
Bis wir einschlafen seliglich.
Aufgrund des Sonntagsevangeliums, in dem zum einen Jesus seinen bevorstehenden Tod (und seine Auferstehung) ankündigt, zum anderen der blinde Mann aufgrund seines Glaubens geheilt wird, ist die Dichtung dieser Kantate bereits stark auf die kommende Passionszeit bezogen.
Die Wahl des Chorals von Paul Eber ist so gesehen dann auch nur folgerichtig, handelt es sich dabei doch eigentlich um ein Sterbelied.
Die Choralbearbeitung, mit der Bach diese Kantate einleitet, enthält daher auch, ähnlich wie im 2. Satz der Kantate BWV 23 schon praktiziert, den Choral "Christe, du Lamm Gottes" in langen Notenwerten in den Instrumentenstimmen erklingend - ein weiterer Hinweis auf die anstehende Passionszeit.
Ich habe keinen eindeutigen Hinweis finden können, ob die in Nr. 4 eingesetzte Trompete bereits im Eingangschor (und dann auch im Schlusschoral) mitspielt, z. B. als Verstärkung der Sopranstimme. Vermutlich trifft hier jeder Interpret seine eigene Besetzungs-Entscheidung?
Besonders raffiniert finde ich die Arie Nr. 3, wo eine Oboenstimme zusammen mit den beiden Blockflöten eine besondere Atmosphäre erzeugt, die dann noch beim Erwähnen der "Sterbeglocken" im B-Teil der Arie durch pizzicato spielende Streicher intensiviert wird - eine originelle Glockenimitation an dieser Stelle!
Im Rezitativ und Arie Nr. 4 erschallt dann die Trompete (anstelle der im Text erwähnten Posaunen...) und Bach ignoriert wieder einmal sämtliche barocken Formvorschriften und lässt das Rezitativ unmittelbar und unerwartet in die Arie übergehen - der Text ergibt eben einen solchen Übergang und es spricht wieder einmal sehr für Bach, dass er hier nicht in reinen Formalismen denkt, sondern sich individuell aus der musikalisch-dramatischen Situation heraus zu einer solchen Vorgehensweise entschließt!