Jani Christou: Magier, Alchemist, Erkunder des Unbewussten

  • Jani Christou (1926 - 1970) ist eines der großen Geheimnisse in der abendländischen Musik.


    Ein Komponist, der eine Musik schuf, die oft eher wie die Begleitung eines magischen Rituals anmutet, mit einer Athmosphäre wie aus einem Horrorfilm und mit musikalischen Mitteln, gegenüber denen die Musik Alexander Skrjabins wie ein Bratschenkonzert von Dittersdorf anmutet. Selten werden diese Werke gespielt. Es gab in den frühen 1990er Jahren im Rahmen des Hamburger Musikfestes einige Aufführungen, 1998 im Eclat-Festival in Stuttgart, und nach der Jahrtausendwende erschien der Name des Komponisten gelegentlich in den Programmen von Wien modern. In Metropolen wie Paris oder New York sind seine Werke offensichtlich über Jahrzehnte nicht zu hören. Die Website des Athener Jani Christou Archive nimmt Abstand davon, Konzertdaten überhaupt zu nennen. Der Präsident dieser Gesellschaft ist übrigens Rupert Huber, der Chefdirigent des WDR-Rundfunkchores, eine Musikerpersönlichkeit also, die in jeder Hinsicht über die Ressourcen verfügt, diese Werke aufführen zu können. Was hat es nun mit dem Phänomen Jani Christou auf sich?


    Zunächst einige biografische Daten:


    Jani Christou wurde am 8. Januar 1926 in Heliopolis (Kairo) als zweiter Sohn der Cypriotin Lilika Tavernari und des griechischen Schokoladenfabrikanten Eleutherios Christou geboren. Heliopolis war im alten Ägypten ein wichtiges religiöses und politisches Zentrum mit dem berühmten Tempel des Sonnengottes Re. Christou kann vor dem Hintergrund seiner Herkunft gleichermaßen als Grieche und als Ägypter gesehen werden. Somit sind die Themen seiner Oratorien Gilgamesch und Mysterion naheliegend. Sein Interesse gilt eher der orientalischen als der klassischen, attischen Antike und wird durch den starken Einfluß von seiner Mutter unterstützt, die sich für Alchemie, Spiritismus, Okkultismus und Magie interessierte. Aufgewachsen ist Christou in Alexandria, einer Schnittstelle zwischen Europa, Afrika und dem Orient. Seit 1850 hatten sich dort neben Tausenden von Griechen und Armeniern zahlreiche Franzosen, Engländer und Italiener niedergelassen. Die schillernde, kosmopolitische Enklave, die Alexandria zu jener Zeit war, vermittelte Christou eine „reiche, gebildete, raffinierte und frivole Athmosphäre“.
    (Angermann 1993, S. 10)


    Christou besuchte bis 1944 das Victoria College in Alexandria, bekam Klavierunterricht bei dem russisch-griechischen Emigranten Alexander Plotnikoff und der österreichisch-griechischen Pianistin Gina Bachauer. Er besuchte dann das Kings College in Cambridge, studierte Philosophie bei Ludwig Wittgenstein und Bertrand Russel, schloss mit dem B.A. ab, studierte Musik in Letchworth bei dem Alban-Berg-Schüler Hans Ferdinand Redlich. 1949 besuchte er einen Sommerkurs in Siena und beschloß seine Studien an der Accademia Musicale. Während sein Bruder Evis 1951 – 54 bei C.G. Jung in Zürich studierte, befasste sich auch Jani Christou mit Jungs Philosophie. 1951 oder 1953 ging er nach Ägypten zurück. 1956 heiratete er Theresia Heremi, mit der er seit seiner Kindheit befreundet war. Bis 1960 lebte Christou teils in Alexandria, teils auf Chios, danach teils auf Chios, teils in Athen. Kurz vor seinem Tod plante er die Erbauung eines touristischen Komplexes auf der Insel, als eine Art Feriendorf mit einem Open-Air-Theater, im dem er ein Festival mit moderner Musik veranstalten wollte. Ein Plan wie dieser zeigt, dass Christou trotz oder vielleicht auch wegen aller esoterischen Ansätze in seinem Musiktheater dieses nicht für wenige Experten schuf, sondern für ein Massenpublikum.


    In der Nacht des 8. Januar 1970 starb er bei einem Verkehrsunfall während der Rückkehr von seiner Geburtstagsfeier. Seine Frau starb 10 Tage später an den Folgen des gleichen Unfalls. Sie ließen 3 Kinder zurück. (Zur Biografie siehe Angermann 1993, S. 10 und Lucciano, S. XV)


    Die musikalischen Grundlagen Christous können wie folgt beschrieben werden:


    1. Erweiterung der Ausdruckmöglichkeiten durch freie Atonalität (vergleichbar mit einer Weiterentwicklung Alban Bergs).


    2. Das Phoenix-Prinzip: Erstmals in seinem „Opus 1“, der Phoenix Music für Orchester. Hans Ferdinand Redlich beschreibt das Prinzip sehr korrekt. Das Phoenix-Prinzip meint ein „pittoreskes Symbol des allgemeinen Charakters von einem zyklischen Prinzip“, das aus dem Nichts eine Steigerung aufbaut, die ihre Klimax erreicht und dann sehr schnell zum Aufgangspunkt zurückkehrt.
    (Lucciano, S. 4)


    3. Der Lunar Pattern ist mit dem Phoenix-Prinzip verwandt. Mit Hinweisen auf die leicht asymmetrische Form des Halbmondes sowie auf die Bedeutung des Mondes in alten Kulturen fordert Christou von der Kunst eine Freisetzung konstruktiver Kräfte via Rückbeziehung auf archaische Rituale.


    4. Praxis und Metapraxis. Dies sind Begriffe, die analog zu Physik und Metaphysik gesehen werden können. Die Metapraxis meint den Übergang von der normalen Aufführungspraxis in einen Zustand des Ausser-sich-Geratens. Dieser wird in den Partituren angezeigt, wobei suggestive Piktogramme als Chiffren für bestimmte seelische Zustände dienen, denen sich die Musiker annähern sollen. (Angermann 1994, S. 65, S. 95 f.)


    5. Die Verbindung zwischen griechischem Drama und Tiefenpsychologie könnte als fünftes Leitmotiv von Christous Ästhetik genannt werden. Sie kann eindrucksvoll an der Vertonung der Orestie des Ayschilos beobachtet werden.


    Dieses Werk wäre im Falle einer Fertigstellung Christous Hauptwerk geworden. Er fixierte es in umfangreichen Anweisungen, die sich wie ein Computerprogramm aufeinander beziehen. Der Komponist probte mit 50 Musikern in Griechenland. Es sollte Aufführungen in verschiedenen Weltstädten geben. Die Proben hatten bereits begonnen. Dann ereignete sich der Autounfall. Tatsächlich sah sich niemand imstande, die weiteren Proben zu leiten.


    Das Hauptwerk: Mysterion


    Mysterion allerdings wurde aufgeführt. Misterion vertont Texte des Totenbuches aus dem alten Ägypten. Es wirkt trotz der kurzen Aufführungsdauer von weniger als 30 Minuten absolut monumental und in gewisser Weise abendfüllend. Das Werk für 3 Chöre, Soli, Orchester und Tonbandeinspielungen beginnt mit einem Sprechertext, der die Situation umklammert, und dem die Tonbandeinspielungen gegenüberstehen. Das Orchester sitzt in der Mitte. Die drei Chöre sind links, hinter und rechts des Orchestern in einer höheren Ebene postiert, und noch höher sitzen die Solisten. Alle tragen Masken. Christou schrieb zum Konzept des Werkes am 19. Oktober 1965 (Lucciano, S. 93-96, eigene Übersetzung):


    Die Aktion spielt in der Unterwelt “Tuat”. Die Unterwelt ist ein Platz der Furcht. Ein enormes kreisförmiges Tal, das von Bergen umgeben ist. An den Enden von Tuat gibt es einen Platz, der weder dunkel noch hell ist, am westlichen Ende teilweise von der untergehenden Sonne und am östlichen Ende teilweise von der aufgehenden Sonne beleuchtet....


    Die Unterwelt besteht aus 12 Abteilungen, die der Sonnengott jede Nacht bereist, wobei er in seinem “Boot der Millionen Jahre” reist. Die Bedürfnisse und Wünsche der Einwohner des Totenreiches werden von den “Wörtern der Macht” unterstützt.


    Die "Story Line" im Entwurf Christous liest sich wie folgt:


    THE SHIPS HEARTBEAT Stationen:
    1= Verwirrung, als Ra sich der Grenze nähert
    2= artikuliert er die Wörter der Macht und gebraucht sie wie Waffen.
    3= THE NIGHTMARE PULSE Als er die verborgenen Kreise betritt, herrscht Stille.
    4= Ra erweckt die Toten.
    5= “Wie das Summen vieler Bienen, der Klang von Stieren und anderen männlichen Tieren, von schreienden Katern, von Toten, von Klagenden...”
    6=”...von denen, die in der Schlacht fielen, Vogelzwitschern, das verwirrte Murmeln der Lebenden...” Dies stellt den Bezug zu unserer Welt her, deren Licht Dunkelheit ist, und deren Klang verwirrt ist.
    7=Ra reist weiter...
    8= Triumph Ras...
    9= Das Tor schließt, und alles wird dunkel, kalt, die Kammer der Vernichtung...


    Der altägyptische Sprechertext des Prologes von Misterion lautet auf Deutsch etwa:


    Er betritt die Stadt des verborgenen Kreises.
    Er ruft denen zu, die in dem Kreis eingeschlossen sind, und die Stimmen derer werden gehört, die in dem Kreis eingeschlossen sind,
    die wie das Summen von vielen Bienen sind, wenn ihre Seelen zu Ra rufen,
    und wie der Klang der Eingehüllten, und wie der Klang von Menschen, welche trauern,
    und wie der Klang von Stieren und anderen männlichen Tieren,
    und wie der Klang des Flehens, dessen Gewalt groß ist, wenn ihre Seelen dem Ra zurufen.
    Er ruft denen zu, die in dem Kreis eingeschlossen sind, und die Stimmen derer werden gehört, die in dem Kreis eingeschlossen sind,
    die wie die Stimmen von Katern sind, wenn sie aufschreien,
    und ihre Seelen dem Ra zurufen,
    und wie der Klang des verworrenen Gemurmels der Lebenden,
    und wie der Klang der Stimmen derer, die zum Schlachtfeld hinuntergehen, und wie der Klang der göttlichen Falken des Horus,
    und wie der Klang des Zwitscherns aller Vögel eines Nests des Wasservogels, wenn sie dem Ra zurufen.
    (Angermann 1993, S. 10)


    Eine Beschreibung wie diese lässt bereits ahnen, dass der Eindruck eines solchen Werkes an der Grenze dessen liegt, was wir uns vorstellen können. Es handelt sich um ein musikalisches Drama eigener Art, mit eigenen Mitteln, die den Hörer zum Zeugen eines archaischen, magischen Rituals machen.


    Vielleicht ergibt sich in diesem Thread die Möglichkeit, Höreindrücke der Werke Jani Christous zu beschreiben. Ich möchte von Zeit zu Zeit einzelne Stücke vorstellen und freue mich über jeden, der mitmacht. Insbesondere bin ich neugierig darauf, ob es hier auch Forianer gibt, die einmal ein Werk Jani Christous live erlebt haben. Bei mir ist dies leider nicht der Fall. In jedem Fall wünsche ich mir interessierte Leser und Schreiber an dieser Stelle.


    Übrigens: Der besondere Charakter dieser Musik lässt es fraglich erscheinen, ob die Aufnahmen der Stücke als Weihnachtsgeschenke geeignet sind. Dies nur so ganz nebenbei.


    Ich habe folgende Texte benutzt:


    Angermann, Klaus (1994): Jani Christou. Im Dunkeln singen. Symposionsbericht des Musikfestes Hamburg. Horheim, Wolke-Verlag, 1994.


    Angermann, Klaus (Hg.) (1993): Programmbuch Jani Christou. Musikfest Hamburg, August 1993.


    Lucciano, Anna (2000): Jani Christou. The Works and Temperament lf a Greek Composer. Amsterdam, Harwood academic publishers, 2000.


    Nicht zu vergessen die Website des Athener "Jani Christou Archive",
    janichristou.org

  • Es gibt von der SIRIUS RECORD AND MUSIC EDITIONS COMPANY Athen folgende Aufnahmen (bei jpc mit einer falschen Abbildung bei Vol 1. Die Links scheinen allerdings alle richtig zu sein, jedenfalls passen die Hörbeispiele).


    Vol. 1:
    Phoenix Music für Orchester (1948-49),


    Six T.S. Eliot Songs für Mezzosopran und Klavier (1955),


    The Strychnine Lady for solo viola (female), five actors, instrumental ensemble, tapes, various sound objects and a red cloth (1966-67),


    Enantiodromia for orchestra (1965-68 )




    Vol. 2:
    Symphony No. 1 for mezzo soprano and orchestra in three continuous mouvements (1949-50),


    Tongues of fire, A Pentecost Oratorio für mezzo-soprano, baritone, tenor, mixed choir and orchestra (1964),


    Anaparastasis I für baritone, viola and instrumental ensemble (1968 ),


    Epicycle (Tape) (1969)




    Vol. 3:
    Patterns and Permutations for orchestra (1960),


    Mysterion, Scenic oratorio on ancient Egyptian sacred texts for narrator, three mixed choirs, orchestra, tapes and actors (1965-66) (Copenhagen Radio Chorus and Orchestra, Miltiadis Karydis),


    Anaparastasis III (The Pianist) for an actor, instrumental ensemble and tapes (1968 )


    Vol. 3 ohne Abbildung



    Vol. 4:
    Six T.S. Eliot Songs for mezzo-soprano and orchestra (1957),


    Praxis for 12 for 11 chord instruments and a conductor-pianist (1966),


    Epicycle Happening for a modifiable vocal and instrumental ensemble, actors, tapes, visual projections and free participation of the public (1968 )