Hannover, Staatsoper – Bizet: Carmen – 26.04.2008

  • Zitat

    Mit Carmen von Georges Bizet steht eine der populärsten Opern auf dem Spielplan der Staatsoper, und die Titelheldin glauben alle zu kennen. Doch wer ist sie eigentlich? Eine Femme fatale? Eine Anarchistin? Was macht sie so anziehend? Ist es ihre Sinnlichkeit, ihre Kompromisslosigkeit, ihr grenzenloser Freiheitsdrang? Oder ist sie nicht vielleicht selbst eine Unfreie, eine Getriebene, die letztendlich nur eines sucht: den Tod? Die Inszenierung der niederländischen Regisseurin Monique Wagemakers spürt diesen Fragen nach.


    So bewirbt die Staatsoper Hannover ihre neue Carmen-Produktion, die gestern abend Premiere hatte. Um das Fazit vorwegzunehmen: Die Regisseurin hat viele Ideen zu diesem Stück gehabt, aber sich letztlich bei der Frage, wer Carmen eigentlich ist, nicht eindeutig festgelegt.


    Das ist passiert:


    I.


    Als sich der Vorhang nach dem Vorspiel hebt, sieht man eine durch mehrere hohe Gitterzäune geteilte Bühne. Es kann sich sowohl um einen Lager- wie um einen Grenzzaun handeln. Sergeant Morales lässt seine Soldaten auf der vorderen Seite des Zauns akkurat in Linie antreten. Es ist ein rüder Haufen in Khaki-Uniformen, der sich an Postern mit Pin-up-Girls delektiert. Abschätzig beobachten sie die bunt und billig gekleideten Menschen, die mit Koffern auf der anderen Seite des Zauns passieren.


    Micaela, ein Teenager im Schulmädchenlook, erscheint auf der Suche nach ihrem Verlobten José. Sie macht mit einer Kamera Fotos der Szenerie – das ist sonst nicht ihre Welt. Die Soldaten begrabschen Micaela, so dass diese bald wieder verschwindet.


    Don José wird im ersten Akt als außerordentlich schwacher Charakter gezeichnet. Er trägt seine Unsicherheit in seinen Bewegungen offen zur Schau und knetet ständig an seiner Mütze herum. Der Kinderchor merkt das und nimmt José gnadenlos aufs Korn. Die Kinder verspotten ihn und nehmen ihm eine Mappe weg, in der er private Gegenstände aufbewahrt. Er nimmt das weitgehend klaglos hin.


    Die Arbeiterinnen aus der Zigarrenfabrik treffen ein, entgegen der Erwartung ist Carmen nicht unter ihnen. Die Überraschung ist groß, als sie sich als eine der Soldaten zu erkennen gibt. Während sie ihre Habanera singt, tauscht sie die Uniform gegen ein kurzes schwarzes Kleid, die Militärstiefel gegen rote Pumps. Als Micaela zurückkehrt, um endlich mit José zu sprechen, beobachtet Carmen die beiden argwöhnisch. José weiß offensichtlich nicht, wie er sich gegenüber Micaela verhalten soll. Der „baiser de la mère“ wird José von Micaela ziemlich gewaltsam aufgedrückt.


    Als José Carmen verhaften soll und sich ihr zaghaft nähert, lacht sie ihn lauthals aus. Eine Respektsperson sieht anders aus. Mit Handschellen kettet José Carmen an sich. Wer aber letztlich wen abführt / abschleppt, ist nicht ganz deutlich. José ist dann manipulierbar genug, um sich auf Carmens Verheißungen von der großen Freiheit einzulassen und lässt sie laufen.



    II.


    Im zweiten Akt findet zunächst ein Gelage von spärlich bekleideten Menschen statt, bei dem sich Carmen um Leutnant Zuniga kümmert. Bodyguards begleiten den Torero Escamillo herein, der mit aufgesetztem Gehabe, schmalziger Stirnlocke und engem lila Lederoutfit auftritt – er ist ohne Zweifel der „King“ im Ring. An die aufgeregt kreischende Menge verteilt er Autogrammkarten.


    Remendado und Dancairo erscheinen, zwei Kleinganoven, jeder mit einem Koffer in der Hand. Einer ist ein Akten- oder Geldkoffer, der aber nicht geöffnet wird. Der andere enthält Kleider für die Zigeunerinnen Frasquita und Mercédès. Für Carmen haben die Schmuggler ein traditionelles Flamenco-Kleid dabei, das Carmen aber eher spöttisch beäugt und nicht anzieht.


    Als sich José hinter der Bühne mit seinem Lied vom Dragoner ankündigt, muss sich Carmen noch schnell umziehen. Sie will wieder so aussehen wie an dem Tag, als sie José das erste Mal verführt hat, und setzt auch eine Perücke auf.


    Schon kurz nach Josés Eintreffen wird der Zapfenstreich geblasen, José muss eigentlich zurück. Er läuft zunächst etwas kopflos und unentschlossen hin und her. Seinen ersten aktiven Moment an diesem Abend hat José, als Carmen ihm vorwirft, er liebe sie nicht. Carmen wirkt dabei wenig ironisch, eher ein wenig traurig. Sie wirft ihm die Perücke und den blauen Überzieher, den sie sich nur für ihn angezogen hat, vor die Füße. Sie scheint schon zu diesem Zeitpunkt das Interesse verloren zu haben. Josés Blumenarie hat darauf einen ziemlich trotzigen Gestus. Carmen nimmt das kaum zur Kenntnis.


    Auch gegenüber Leutnant Zuniga erweist sich José, wenn man sein Verhalten im ersten Akt betrachtet, als überraschend leicht reizbar. Es kommt zu einer Schlägerei zwischen den beiden Soldaten, die von den Zigeunern auf der anderen Zaunseite lautstark begleitet wird. Schließlich gehen die Schmuggler dazwischen und bringen Zuniga auf die andere Seite des Zauns, wo die Zigeuner die Gelegenheit nutzen, Zuniga ihrerseits noch einmal aufzumischen.



    III.


    Im dritten Akt bilden die Gitter nach hinten die äußere Begrenzung der Bühne, im Vordergrund ein Gebilde mit einem halb abgerissenen Netz. Es könnte sich um den eingezäunten Bolzplatz einer tristen Vorstadtsiedlung handeln.


    José tigert vor dem Zaun herum, den Blick starr auf Carmen gerichtet – nicht umsonst ist im Programmheft Rilkes Gedicht „Der Panther“ abgedruckt. In der Kartenszene sind es Mobiltelefone, die Frasquita und Mercédès Glück und Liebe verheißen, Carmen muss allerdings weder Karten noch Handy konsultieren, um zu wissen, dass das Schicksal für sie den Tod vorgesehen hat.


    Micaela tritt auf. Sie hat mitbekommen, dass sie im Begriff ist, José an Carmen zu verlieren. Während ihrer Arie wechselt sie ihre flachen Schuhe gegen rote hochhackige von der Art, wie auch Carmen sie trägt. Micaela ist bereit, den Kampf aufzunehmen. Zuerst muss sich José aber mit Escamillo auseinandersetzen. Er geht mit einem Messer auf den Torero los, der lässt den blindwütig anrennenden José aber immer wieder ins Leere laufen.


    Als Carmen José auffordert, er möge doch mit Micaela zurück zur Mutti gehen, hat José plötzlich eine Pistole in der Hand. Warum er kurz vorher gegen Escamillo trotzdem nur mit einem Messer angetreten ist, hat sich mir nicht erschlossen. Micaela will sich nun ebenfalls Carmen vorknöpfen, José geht dazwischen, aus seiner Pistole löst sich ein Schuss. Micaela sinkt getroffen zu Boden. José begreift, dass er nun endgültig nicht mehr zurück kann in die heile Welt von damals und bricht verzweifelt zusammen.



    IV.


    Zu Beginn des letzten Bildes drückt das Volk den Gitterzaun an den vorderen Rand der Bühne. Die Menschen drängen sich dicht an der Absperrung mit direktem Blick ins Publikum, sind im wahrsten Wortsinn Zaungäste eines imaginären Spektakels. Einige Menschen klettern am Zaun hoch, während sie die unsichtbare Parade der Toreros besingen. Allein José befindet sich noch vor dem Zaun, wo er am Ende des vorigen Bildes liegen geblieben war. Durch das Gitter ist er ausgegrenzt von der Menge.


    Erst nachdem sie von Frasquita und Mercédès vor Don José gewarnt worden ist, begibt sich Carmen auf die andere Seite des Zauns zu José. Deutlich spürt man ihre Angst. Sie klammert sich an den Zaun, als wollte sie sich so den Rücken freihalten. Diese Carmen ist nur wenig stolz, es scheint eher so, als wolle sie endlich das Ende. Das todbringende Messer hat zuerst sie in der Hand, bevor es in die Hände von José gelangt. Carmen führt José dann auch die Hand, mit der er ihr den Tod gibt.



    ---


    Mit ihrer Inszenierung löst sich Monique Wagemakers vom idyllischen Postkarten-Sevilla. Das Geschehen wird in einer undefinierten hässlichen Lageratmosphäre angesiedelt. Die Vorstellung zeigt vor allem, dass sich der Traum von der Freiheit auch schnell ins Gegenteil verkehren kann, insbesondere für José, aber auch für die ärmlichen durch den Chor verkörperten Gestalten, die sich in einer Art Auffanglager hinter Gitterzäunen wieder finden. Die Deutung als Anti-Freiheitsoper ist konsequent umgesetzt worden. Auch sonst war auf der Bühne immer einiges zu sehen. Die Regisseurin hatte viele, zum Teil recht eigenwillige Ideen, die man jedoch nicht unbedingt mittragen muss. Langweilig war es allerdings nicht gestern abend.


    Alles hat mir nicht gefallen. In der Kartenszene fehlten spürbar die Ideen, diese Schlüsselszene hat mich nicht überzeugt. Dass Micaela von der Regie gekillt wurde, verpuffte weitgehend unbeachtet – Kollateralschaden, der so nebensächlich inszeniert wurde, dass er nur wenig betroffen machte. Auch bin ich mir nicht ganz sicher, ob Wagemakers nicht alte Klischees durch neue Klischees ausgetauscht hat. Die Zigeuner muss man nicht bloß als ein bunt gekleidetes Häufchen inszenieren, das ständig von außen gegen den Zaun schlägt. Die Rolle des Escamillo wurde mit der vordergründigen Elvis-Imitation ziemlich verschenkt. Der Charakter blieb absolut oberflächlich – aber vielleicht ist er das ja auch. Aber auch andere Nebenrollen, insbesondere die beiden Schmuggler sowie Frasquita und Mercédès, haben von der Regie praktisch kein Profil erhalten.


    Auch Carmen selbst bleibt indes eine Spur rätselhaft. In der Lesart der Hannoveraner Inszenierung weiß sie um ihre Attraktivität und nutzt diese auch, wirkt dabei aber nicht sehr selbstbewusst. Sie zieht sich mehrfach um – je nachdem, wem sie gerade gefallen will. Sie vagabundiert als einzige regelmäßig zwischen den Seiten der Grenzen hin und her, während José mit seiner persönlichen Grenzüberschreitung nicht klar kommt. Für Carmen gibt es keine Grenzen – ein Zustand, mit dem sie allerdings nicht sehr glücklich zu sein scheint. Wer ist Carmen nun? Die Aufführung lässt eher mehr Fragen als Antworten zurück.



    Auf der musikalischen Seite ist mir diesmal zuerst das von Jahbom Koo geleitete Niedersächsische Staatsorchester ein Sonderlob wert. Wenn der junge koreanische Dirigent nach der Aufführung die Bühne betritt, wirkt er immer leicht linkisch - ganz anders aber im Graben, wo er engagiert und präzise schlägt. Auch gestern abend bewies er deutliche Zeichengebung und ausgefeilte Agogik, der das Orchester – diesmal – weitgehend folgte. Das hat mir gut gefallen.


    Bei den Sänger gab es durchgängig anständiges Hannoveraner Niveau. Khatuna Mikaberidze in der Titelrolle trug das Regiekonzept voll mit, ihr Gesang geriet vielleicht stellenweise eine Spur zu guttural. Pedro Velázquez Díaz legte sich mit seinem lyrischen Tenor als Don José ordentlich ins Zeug. Er spielte seine Rolle gut, allzu viele Farben besitzt seine Stimme aber nicht. Arantxa Armentia hat mir im ersten Akt als Micaela weniger gefallen. Die Stimme waberte, wirkte wenig fokussiert, was in dieser Rolle ziemlich fatal ist. Die Arie im dritten Akt war dann allerdings sehr intensiv gestaltet. Nicht ganz ideal besetzt als Escamillo war Brian Davis, ein eher hoher eleganter Bariton, dem im Torerolied etwas die tiefen Töne und der notwendige Machismo fehlte. In den kleineren Rollen gab es solide Ensembleleistungen.


    Alles in allem ein interessanter Abend in der Staatsoper Hannover, den das Publikum hinsichtlich der musikalischen Leistungen positiv, im Hinblick auf die Regie überraschend neutral und wenig emotional bewertete.

  • Lieber Zauberton,


    vielen Dank für Deinen anschaulichen Bericht von der "Carmen"-Premiere am Niedersächsischen Staatstheater, auch der nicht anwesende Opernfreund gewinnt einen Eindruck von der szenischen und musikalischen Realisation durch Wagemakers und Koo.


    Von Monique Wagemakers habe ich bislang keine Inszenierung gesehen, "Butterfly" (das hat sie in Stuttgart gemacht) reizt mich nicht so stark, wie bsplsw. "Turandot" oder "Fanciulla" des gleichen Komponisten und auch "Carmen" gehört nicht zu den Opern, die ich absolut gerne auf der Bühne sehe.


    Interessant aber, hier mal ein wenig den Stil der Regisseurin vorgestellt zu bekommen. Das, was Du über die Gestaltung der Carmen-Figur mitgeteilt hast, gefällt mir auf den ersten Blick recht gut, bei José scheint die Entwicklung an die Musik angepasst zu sein: im ersten Akt der mehr lyrische Tenor, der sich dann im Laufe des abends stärker zur jugendlich-heldischen Partie hin entwickelt.


    Ich habs gerne gelesen - und hoffe, dass Du auch über "Calisto" berichten wirst.


    Kleine Anmerkung zu Deinen Spielplanhinweisen: meines Wissens gibt es am 23.01.09 in Hannover noch die Urfassung von "Aci & Galatea", nämlich "Aci, Galatea & Polifemo" von Händel. Ansonsten finde ich das Programm in Hannover allemal spannender, als das in Hamburg - und mit "Bassariden" steht ein Stück am Beginn der Spielzeit, das alle Kräfte am Haus deutlich herausfordern dürfte.


    Gruss nach Hannover


    :hello:

  • Lieber Alviano,


    wenn Du die Aufführung anhand meiner Zeilen etwas nachvollziehen konntest, freut mich das sehr. Ich habe beim Schreiben des Berichts gemerkt, wieviel Arbeit es macht, wenn man versucht, eine ganze Aufführung in wesentlichen Zügen nachzuerzählen. Deine regelmäßigen ausführlichen Berichte weiß ich jetzt noch mehr zu schätzen. Andererseits führt ein solcher Bericht aber auch dazu, dass man noch einmal gezwungen ist, sich auf die Sichtweise der Regie einzulassen. Ich denke, die Auseinandersetzung mit Werk und Interpretation im Zuge der "Nachbereitung" dieser Carmen war auch für mich ein Gewinn.


    Einen Bericht über "La Calisto" will ich jetzt noch nicht zusagen. Ich werde hingehen, bislang kenne ich die Oper aber noch nicht. Alte Musik ist bei mir ein blinder Fleck - das hat mich nie sonderlich interessiert. Aber vielleicht wir es ja trotzdem schön.


    Die neue Saison in Hamburg interessiert mich auch nicht besonders. Allenfalls auf die Walküre werde ich mich noch einlassen. Hannover finde ich auch etwas verheißungsvoller und die Bassariden sind ein ungewöhnlicher Start in die Spielzeit. Ich bin im Winter längere Zeit nicht in Hannover; deshalb fallen wohl zwei oder drei Premieren für mich aus. Die Händel-Oper "Aci, Galatea & Polifemo" gehört dazu. Sie wird aber auch nicht in der Staatsoper gespielt sondern im Ballhof, genauso wie "Sigurd, der Drachentöter" (Kinderoper von Andy Pape), deshalb hatte ich sie erst nicht erwähnt. Aber Du hast schon recht, der Vollständigkeit halber gehören beide eigentlich herein.


    :hello: