Lieblingspassagen aus literarischen Werken

  • Die Revolution


    Erster Aufzug


    Wirtshaus in Krähwinkel.


    Siebenter Auftritt



    Ultra tritt während dem Ritornell des folgenden Liedes ein.


    Lied.


    1
    Unumschränkt haben s' regiert,
    Und kein Mensch hat sich g'rührt,
    Denn hätt's einer g'wagt
    Und ein freies Wort g'sagt,
    Den hätt' d' Festung belohnt,
    Das war man schon g'wohnt.
    Ausspioniert haben s' alles glei,
    Für das war d' Polizei.
    Der G'scheite ist verstummt,
    Kurz 's war alles verdummt
    Diese Zeit war bequem
    Für das Zopfensystem.


    2
    Auf einmal geht's los
    In Paris ganz kurios,
    Dort sind s' fuchtig worn,
    Und haben in ihrem Zorn,
    Weil s' d' Knechtschaft nicht lieben,
    Den Louis Philipp vertrieb'n.
    Das Beispiel war bös,
    So was macht a Getös,
    Und völlig über Nacht
    Ist ganz Deutschland erwacht,
    Das war sehr unangenehm
    Für das Zopfensystem.


    3
    Da fing z' denken an
    Der gedrückte Untertan:
    Zum Teuxel hinein,
    Muß ich denn ein Sklav sein?
    Ein Fürst ist zwar ein Herr,
    Aber ich bin Mensch wie er;
    Und kostet's den Hals –
    Rechenschaft soll für all's
    Gefordert jetzt wer'n
    Von die großmächtigen Herrn.
    Da waren s' sehr in der Klemm
    Mit'n Zopfensystem.


    4
    Das wär' wieder verflog'n,
    's Wetter hätt' sich verzog'n,
    Wenn nicht etwas g'schehn wär',
    Was Großartig's auf Ehr'.
    Auf einen Wink wie von oben,
    Hatt' sich Österreich erhoben.
    Dieser merkwürdige Schlag
    Hat g'steckt in ein Tag
    Den Ministern ihr Ziel,
    's war verraten ihr Spiel.
    Jetzt sind s' alle Groß-Schlemm
    Mit'n Zopfensystem.


    Aus dem glorreichen freiheitstrahlenden Österreich führt mich mein finsteres Schicksal nach Krähwinkel her. Nach Krähwinkel, wo s' noch mit die physischen Zöpf paradieren, folglich von der Abschneidungsnotwendigkeit der moralischen keine Ahnung haben. Nach Krähwinkel, wo man von Recht und Freiheit als wie von chimärisch blitzblaue Spatzen redt. Is uns aber auch nit viel besser gangen, und zwar aus dem nämlichen Grund; Recht und Freiheit sind ein paar bedeutungsvolle Worte, aber nur in der einfachen Zahl unendlich groß, drum hat man sie uns auch immer nur in der wertlosen vielfachen Zahl gegeben. Das klingt wie ein mathematischer Unsinn, und is doch die evidenteste Wahrheit. Es is grad wie manche Frau, die sehr viele Tugenden hat. Sie hat einen freundlichen Humor, und brummt nicht, wenn der Mann ausgeht, – das is eine Tugend – sie ist geistreich – das is eine Tugend, – sie hat ein gutes Herz, das ist eine Tugend, sie bringt die fünfte Schale Kaffee schon schwer hinunter, das is auch eine Tugend, und trotz so vielen ihr innewohnenden Tugenden, is doch Tugend bei ihr nicht zu Haus; grad so is's uns mit Freiheit und Recht ergangen. Was für eine Menge Rechte haben wir g'habt, diese Rechte der Geburt, die Rechte und Vorrechte des Standes, dann das höchste unter allen Rechten, das Bergrecht, dann das niedrigste unter allen Rechten, das Recht, daß man selbst bei erwiesener Zahlungsunfähigkeit und Armut einen einsperren lassen kann. Wir haben ferner das Recht g'habt, nach erlangter Bewilligung Diplome von gelehrten Gesellschaften anzunehmen. Sogar mit hoher Genehmigung das Recht, ausländische Courtoisie- Orden zu tragen. Und trotz all diesen unschätzbaren Rechten, haben wir doch kein Recht g'habt, weil wir Sklaven waren. Was haben wir ferner alles für Freiheiten g'habt. Überall auf'n Land und in den Städten zu gewissen Zeiten Marktfreiheit. Auch in der Residenz war Freiheit, in die Redoutensäle nämlich, die Maskenfreiheit, noch mehr Freiheit in die Kaffeehäuser, wenn sich ein Nichtsverzehrender ang'lehnt und die Pyramidler geniert hat, hat der Markör laut und öffentlich g'schrien: Billardfreiheit. Wir haben sogar Gedankenfreiheit g'habt, insofern wir die Gedanken bei uns behalten haben. Es war nämlich für die Gedanken eine Art Hundsverordnung. Man hat s' haben dürfen, aber am Schnürl führen, wie man s' loslassen hat, haben s' einem s' erschlagen. Mit einem Wort, wir haben eine Menge Freiheiten gehabt, aber von Freiheit keine Spur. Na, das is anders geworden, und wird auch in Krähwinkel anders werden. Wahrscheinlich werden dann von die Krähwinkler viele so engherzig sein und nach Zersprengung ihrer Ketten, ohne gerade Reaktionär' zu sein, dennoch kleinmütig zum raunzen anfangen: O mein Gott, früher is es halt doch besser gewesen, – und schon das ganze Leben jetzt – und diese Sachen alle – aber das macht nichts, man hat ja selbst in Wien ähnliche Räsonnements gehört. Und sonderbar, gerade die, die es am schwersten betrifft, verhalten sich am ruhigsten dabei. Das sind die Hebammen und die Dichter; für die Hebammen kann das gewiß nicht angenehm sein, daß jetzt die Geburt nix mehr gilt, und die Dichter haben ihre beliebteste Ausred eingebüßt. Es war halt eine schöne Sach', wenn einem nichts eing'fallen is, und man hat zu die Leut sagen können: Ach Gott! es is schrecklich, sie verbieten einem ja alles. Das fallt jetzt weg, und aus dem Grund, und aus vielen andern Gründen, – ah mein Prinzipal –


    Achter Auftritt



    Voriger. Pfiffspitz.


    PFIFFSPITZ zur Mitte eintretend. Da haben wir's, im Wirtshaus muß ich meinen Herrn Mitarbeiter suchen, da ist's freilich angenehmer als im Redaktionsbüro.
    ULTRA. Ich bin überall gerne, wo man mir Vertrauen schenkt, und jedes Seidl, was man mir hier einschenkt, ist verkörpertes Vertrauen.
    PFIFFSPITZ. Ich bin nicht so glücklich. – Hier im Bock borgt man mir nicht für fünf Groschen.
    ULTRA. Ja, warum haben Sie die Fünf Krügeln g'lobt, g'schieht Ihnen schon recht.
    PFIFFSPITZ. Was will ich denn tun, wenn mir der Wirt einen Eimer Wein aufdringt?
    ULTRA. Das allein war nicht die Ursache, machen Sie sich nicht schmutziger als Sie sind. Die scheußliche Zensur, welche Ihnen jeden vernünftigen Aufsatz streicht, hat Ihnen, da Sie einmal die Verpflichtung haben, Ihren Abonnenten kein weißes Papier zu verkaufen, keine andere Ressource gelassen, als heute dieses und morgen jenes Beisel auf Kosten der übrigen herauszustreichen. Wien ist gewiß viel größer als Krähwinkel, und hat gewiß viel gescheitere Journalisten als Sie sind – PFIFFSPITZ gekränkt. Herr Mitarbeiter! –
    ULTRA. Auch gescheitere als ich bin, brauche ich nur noch hinzuzusetzen. Wiens Journalisten haben in den ersten 8 Tagen der Freiheit die fabelhafte Auszeichnung errungen, daß die österreichischen Blätter im Auslande verboten worden sind, und blättern Sie einige Monate zurück in diesen österreichischen Blättern, so werden Sie, außer ein bisserl Theaterpolemik, nichts anders finden als: Neueröffnete Gasthauslokalität, abermaliger Zierdezuwachs der Residenz, prachtvolle Dekorierung, gediegener Geschmack des Herrn Pritschelberger. Prompte Bedienung durch höfliche Kellner, zum Schlusse ein serviler Appendix über das gemütliche Glück in Wien. Ja, so tief hat eine niederträchtig hohe Behörde die öffentlichen Organe erniedrigt, also brauchen Sie sich, als Ausfüller der Krähwinkler Spalten, keine Extraskrupeln zu machen.
    PFIFFSPITZ. Ja, wenn Sie nur ausgefüllt wären, aber da sehen Sie her.


    Zeigt ihm ein Pack weißes Druckpapier.


    ULTRA. Das verdammte weiße Papier. Dieser Druck in Rücksicht des Druckes, ist etwas Drückendes für einen Menschen, der da lebt vom Druck.
    PFIFFSPITZ. Alle Ihre Aufsätze hat man mir gestrichen.
    ULTRA mit Selbstgefühl. Also hat mich meine Hoffnung nicht getäuscht, ich habe etwas Gutes geliefert.
    PFIFFSPITZ trostlos. Aber das weiße Papier? liebster Mitarbeiter.
    ULTRA. Lassen Sie das drucken, was Sie selbst aufgesetzt haben, das wird gewiß im Geiste der Behörde sein, Beiseite. das heißt: es wird gar keinen haben.
    PFIFFSPITZ. Wenn ich selbst schreiben wollte, für was bezahlte ich einen Mitarbeiter.
    ULTRA. Wo steht denn das g'schrieben, daß der Mitarbeiter der Alleinarbeiter sein soll? Aber trösten Sie sich, es muß anders werden.
    PFIFFSPITZ. Woher vermuten Sie das? –
    ULTRA. In dem klaren Gefühl, so kann's nicht bleiben, liegt eine Ahnungsgarantie, da steht immer schon die Zukunft als verschleierte Schönheit vor uns. Konstitution, Freiheit, junges Krähwinkel, das alles schwebt über unsern Häuptern, wir dürfen nur greifen darnach.
    PFIFFSPITZ. Revolution in Krähwinkel? dahin kommt es wohl nie.
    ULTRA. Wer sagt Ihnen das? Alle Revolutionselemente, alles Menschheitempörende, was sie woanders im großen haben, das haben wir hier im kleinen. Wir haben ein absolutes Regierungsformerl, wir haben ein unverantwortliches Ministeriumerl, ein Bürokratieerl, ein Zensurerl, Staatsschulderln, weit über unsere Kräfterln, also müssen wir auch ein Revolutionerl und durchs Revolutionerl ein Konstitutionerl und endlich a Freiheiterl krieg'n.
    PFIFFSPITZ. Was tu' ich aber bis dahin mit meinen 36 Abonnenten?
    ULTRA. Die Zeit ist näher als Sie glauben. Dumpf und gewitterschwanger rollt's am politischen Horizont. Horchend. Still, ich hör' wirklich was. Man hört rechts in der Ferne verworrene Stimmen. Da geht was vor!
    PFIFFSPITZ. Was denn? –


    Neunter Auftritt


    Vorige. Klaus.


    KLAUS in größter Eile aus der Türe rechts. Aufruhr! Aufruhr! Krawall! –
    PFIFFSPITZ, ULTRA zugleich. Was ist denn geschehen? –
    KLAUS. Sie haben mir den Haslinger zerbrochen, – und »fort Spitzl« das waren die frevelhaften Worte.
    PFIFFSPITZ. Ist's möglich? –
    KLAUS. Am Haslinger haben sie sich vergriffen.
    ULTRA. Haslingerverachtung, erster Morgenstrahl der Freiheitssonne.


    Man hört Lärm von innen rechts.


    KLAUS. Sie kommen! – Fort aufs Amt! Aufruhr! Krawall – Rennt zur Mitte ab.

  • Die Revolution


    Erster Aufzug


    Wirtshaus in Krähwinkel.


    Zehnter Auftritt


    Vorige. Pemperl. Schabenfellner. Bürger.
    Die Krähwinkler tumultarisch von rechts auftretend.


    DIE KRÄHWINKLER. Wo ist er? Her mit ihm!
    PFIFFSPITZ. Woher diese großartige Demonstration?
    DIE KRÄHWINKLER. Schläg' muß er auch noch krieg'n.
    PFIFFSPITZ. Gehen Sie nicht zu weit, meine Herren!
    DIE KRÄHWINKLER. Schläg' ohne Gnad'! –
    ULTRA. Sie haben ihm den Haslinger zerbrochen?
    DIE KRÄHWINKLER. Ja.
    ULTRA. Genügt Ihnen diese Errungenschaft, oder genügt sie Ihnen nicht? –
    DIE KRÄHWINKLER. Nein, just nicht, uns genügt gar nix mehr.
    ULTRA. Das ist der Moment zu einer begeisternden Rede. Steigt auf einen Stuhl. »Meine Herren!« –
    DIE KRÄHWINKLER. Vivat! –
    ULTRA. Erlauben Sie! Seine Rede beginnen wollend. »Meine Herren« –
    DIE KRÄHWINKLER. Vivat hoch! –
    ULTRA. Ich bitte! Wie oben. »Meine Herren« –
    DIE KRÄHWINKLER. Vivat! dreimal hoch!!!
    ULTRA vom Stuhle steigend. Der Enthusiasmus ist zu groß, von Red'halten is da keine Spur. (Laut zu den Krähwinklern.) Auf also, Freiheit! Umsturz! Sieg oder Tod!
    DIE KRÄHWINKLER. Freiheit! Freiheit!
    ULTRA (entzückt zu Pfiffspitz.) Das ist unerhört für Krähwinkel. (Zu den andern.) Also ans Werk! Her über die Gewissen, zittern sollen sie, wohin wenden wir uns, wohin zuerst? –
    DIE KRÄHWINKLER. Ins Kaffeehaus.
    ULTRA frappiert. Wa – was denn dort? –
    PEMPERL. Dort wird die Verabredung zu einer großartigen Katzenmusik getroffen.
    ULTRA. Bravissimo!
    DIE KRÄHWINKLER jubelnd. Heute abend ist grandiose Katzenmusik. Vivat!


    Alle stürzen zur Mitte ab.


    ULTRA triumphierend zu Pfiffspitz. Haben Sie's gehört? Katzenmusik, diese erste Frühlingslerche der Freiheit, wirbelt in der Luft, bald soll die Saat in voller Blüte stehen. (Geht in großartiger Begeisterung zur Mitte ab.)


    Pfiffspitz folgt ihm kopfschüttelnd.


    Verwandlung.
    Büro der Krähwinkler Staatskanzlei, rechts und links Kanzleitische. Mitteltür. Seitentüre rechts führt in das Kabinett des Bürgermeisters, links das Kabinett des Herrn von Reakzerl Edlen von Zopfen.


    Eilfter Auftritt



    Sigmund, dann Reakzerl.


    SIGMUND kommt in großer Hast zur Mitte herein. Das war Todesangst, eine Minute später und der Bürotyrann kommt früher als ich und geschehen war's um meine Existenz.


    Hat schnell den Hut aufgehangen und setzt sich zum Schreibtisch.


    REAKZERL zur Mitte eintretend. Hat sich noch kein Herr Ultra gemeldet?
    SIGMUND. Untertänigst, nein.
    REAKZERL. Wenn er kommt, wird er sogleich zu Sr. Herrlichkeit, dem Herrn Bürgermeister, geführt. Nicht wahr, Sie staunen? –
    SIGMUND. Untertänigst, ja.
    REAKZERL. Dem Mann steht eine große Karrier' offen. Er sollte als unruhiger Kopf auf dem Schub fortgeschickt werden, aber ich gab Sr. Herrlichkeit zu bedenken, wie er dann im Auslande über unsere Institutionen schmähen würde. Wir werden ihn daher durch Anstellung an uns ketten, und mit einem ansehnlichen Gehalte ihm das lose Maul stopfen. Auf diese Weise hat die Staatsklugheit schon manchen Demagogen unschädlich gemacht.
    Was schon über drei Monate hier liegt, können Sie mir gelegentlich zur Unterschrift unterbreiten.


    Seitentüre links ab.


    SIGMUND sich tief verbeugend. Untertänigst, sehr wohl.



    Zwölfter Auftritt



    Vorige. Willibald. Ultra.


    ULTRA durch die Mitte. Drum sag' ich, nur offen reden –
    WILLIBALD. Da schau, Sigmund, (Auf Ultra zeigend.) der, den ich als vermeintlichen Nebenbuhler angefeindet hab', der ist mein Freund geworden.
    ULTRA. Mich im Verdachte einer Heiratsidee zu haben. Ehestand is Sklaverei und ich bin Freiheit durch und durch – mein Blut ist rote Freiheit, mein Gehirn ist weiße Freiheit, mein Blick ist schwarze Freiheit, mein Atem ist glühende Freiheit –
    SIGMUND. Ich bitte, sprechen Sie nicht so laut.
    ULTRA. Ich genier' mich nicht. –
    SIGMUND. Aber wir müssen uns genieren, Sie zu hören.
    WILLIBALD. Da rechts das Kabinett Sr. Herrlichkeit, da links das Büro des Geheimen Herrn Stadtsekretarius, Herrn von Reakzerl Edlen von Zopfen.
    ULTRA. Schöne Umgebung, die Sie da haben. Und außer Ihnen sind noch viele Beamte hier?
    WILLIBALD. Im Expedite sehr viele –
    SIGMUND. In der Registratur noch mehr.
    WILLIBALD. Jetzt erst in der Buchhaltung –
    SIGMUND. Und beim Magistrat –
    ULTRA. Wirklich, ich seh', es ist auch in Krähwinkel alles mögliche getan, um durch übertriebenen Status die Finanzen zu schwächen.
    SIGMUND. Wir Subalterne haben sehr kleine Gehalte.
    WILLIBALD. Und sehr viele wenn auch unnötige Arbeit.
    ULTRA. Aber die, die nichts tun, die ziehen die enormen Besoldungen. Das is woanders auch so, und damit das Enorme ins Himmelschreiende geht, kriegen s' noch Tafelgelder auch dazu.
    SIGMUND ängstlich. Wir werden noch brotlos, bloß weil wir mit Ihnen gesprochen haben. (Öffnet die Seitentüre rechts und meldet mit einer tiefen Verbeugung.) Herr von Ultra.


    Ultra tritt in das Kabinett des Bürgermeisters, und Sigmund schließt hinter ihm die Türe.

  • 3. Kreislers musikalisch-poetischer Klub


    Alle Uhren, selbst die trägsten, hatten schon acht geschlagen, die Lichter waren angezündet, der Flügel stand geöffnet, und des Hauswirts Tochter, die den kleinen Dienst bei dem Kreisler besorgte, hatte schon zweimal ihm verkündet, daß das Teewasser übermäßig koche. Endlich klopfte es an die Tür, und der treue Freund trat mit dem Bedächtigen herein. Ihnen folgten bald der Unzufriedene, der Joviale und der Gleichgültige. Der Klub war beisammen, und Kreisler schickte sich an, wie gewöhnlich, durch eine symphoniemäßige Phantasie alles in Ton und Takt zu richten, ja wohl sämtliche Klubbisten, die einen gar musikalischen Geist in sich hegten, so viel nötig, aus dem staubigen Kehricht, in dem sie den Tag über herumzutreten genötigt gewesen, einige Klafter höher hinauf in reinere Luft zu erheben. Der Bedächtige sah sehr ernsthaft, beinahe tiefsinnig aus und sprach: »Wie übel wurde doch neulich Euer Spiel, lieber Kreisler, durch den stockenden Hammer unterbrochen, habt Ihr denselben reparieren lassen?« – »Ich denke, ja!« erwiderte Kreisler. »Davon müssen wir uns überzeugen«, fuhr der Bedächtige fort, und damit steckte er ausdrücklich das Licht an, welches sich auf dem breiten Schreibeleuchter befand, und forschte, ihn über die Saiten haltend, sehr bedächtig nach dem invaliden Hammer. Da fiel aber die schwere auf dem Leuchter liegende Lichtschere herab, und, im grellen Ton aufrauschend, sprangen zwölf bis fünfzehn Saiten. Der Bedächtige sagte bloß: »Ei, seht doch!« Kreisler verzog das Gesicht, als wenn man in eine Zitrone beißt. »Teufel, Teufel!« schrie der Unzufriedene, »gerade heute habe ich mich so auf Kreislers Phantasie gefreut – gerade heute! – in meinem ganzen Leben bin ich nicht so auf Musik erpicht gewesen.« »Im Grunde«, fiel der Gleichgültige ein, »liegt so sehr viel nicht daran, ob wir mit Musik anfangen oder nicht.« Der treue Freund meinte, schade sei es allerdings, daß Kreisler nun nicht spielen könne, allein man müsse dadurch sich nicht außer Fassung bringen lassen. »Spaß werden wir ohnehin genug haben«, sagte der Joviale, nicht ohne eine gewisse Bedeutung in seine Worte zu legen. »Und ich will doch phantasieren,« rief Kreisler, »im Baß ist alles ganz geblieben, und das soll mir genug sein.« –


    Nun setzte Kreisler sein kleines rotes Mützchen auf, zog seinen chinesischen Schlafrock an und begab sich ans Instrument. Die Klubbisten mußten Platz nehmen auf dem Sofa und auf den Stühlen, und der treue Freund löschte auf Kreislers Geheiß sämtliche Lichter aus, so daß man sich in dicker schwarzer Finsternis befand. Kreisler griff nun pianissimo mit gehobenen Dämpfern im Baß den vollen As-dur-Akkord. Sowie die Töne versäuselten, sprach er:


    »Was rauscht denn so wunderbar, so seltsam um mich her? – Unsichtbare Fittiche wehen auf und nieder – ich schwimme im duftigen Äther. – Aber der Duft erglänzt in flammenden, geheimnisvoll verschlungenen Kreisen. Holde Geister sind es, die die goldnen Flügel regen in überschwenglich herrlichen Klängen und Akkorden.


    As-moll-Akkord (mezzo forte)


    Ach! – sie tragen mich ins Land der ewigen Sehnsucht, aber wie sie mich erfassen, erwacht der Schmerz und will aus der Brust entfliehen, indem er sie gewaltsam zerreißt.


    E-dur-Sexten-Akkord (ancora più forte)


    Halt dich standhaft, mein Herz! – brich nicht, berührt von dem sengenden Strahl, der die Brust durchdrang. – Frisch auf, mein wackrer Geist! – rege und hebe dich empor in dem Element, das dich gebar, das deine Heimat ist!


    E-dur-Terz-Akkord (forte)


    – Sie haben mir eine herrliche Krone gereicht, aber was in den Diamanten so blitzt und funkelt, das sind die tausend Tränen, die ich vergoß, und in dem Golde gleißen die Flammen, die mich verzehrten. – Mut und Macht – Vertrauen und Stärke dem, der zu herrschen berufen ist im Geisterreich!


    A-moll (harpeggiando-dolce)


    Warum fliehst du, holdes Mädchen? Vermagst du es denn, da dich überall unsichtbare Bande festhalten? Du weißt es nicht zu sagen, nicht zu klagen, was sich so in deine Brust gelegt hat wie ein nagender Schmerz und dich doch mit süßer Lust durchbebt? Aber alles wirst du wissen, wenn ich mit dir rede, mit dir kose in der Geistersprache, die ich zu sprechen vermag und die du so wohl verstehst!


    F-dur


    Ha, wie geht das Herz dir auf in Sehnsucht und Liebe, wenn ich dich voll glühendem Entzücken mit Melodien wie mit liebenden Armen umfasse. – Du magst nicht mehr weichen von mir, denn jene geheime Ahnungen, die deine Brust beengten, sind erfüllt. Der Ton sprach wie ein tröstendes Orakel aus meinem Innern zu dir!


    B-dur (accentuato)


    – Welch lustiges Leben in Flur und Wald in holder Frühlingszeit! – Alle Flöten und Schalmeien, die Winters über in staubigen Winkeln wie zum Tode erstarrt lagen, sind wach worden und haben sich auf alle Lieblingsstückchen besonnen, die sie nun lustig trillerieren, gleich den Vögelein in den Lüften.


    B-dur mit der kleinen Septime (smanioso)


    Ein lauer West geht wie ein düsteres Geheimnis dumpf klagend durch den Wald, und wie er vorüberstreift, flüstern die Fichten – die Birken untereinander: ›Warum ist unser Freund so traurig worden? – Horchst du auf ihn, holde Schäferin?‹


    Es-dur (forte)


    Zieh' ihm nach! – zieh' ihm nach! – Grün ist sein Kleid wie der dunkle Wald – süßer Hörnerklang sein sehnendes Wort! – Hörst du es rauschen hinter den Büschen? Hörst du es tönen? – Hörnerton, voll Lust und Wehmut! – Er ist's – auf! ihm entgegen!


    D-Terz-Quart-Sext-Akkord (piano)


    Das Leben treibt sein neckendes Spiel auf allerlei Weise. – Warum wünschen – warum hoffen – warum verlangen?


    C-dur-Terz-Akkord (fortissimo)


    Aber in toller wilder Lust laßt uns über den offnen Gräbern tanzen. – Laßt uns jauchzen – die da unten hören es nicht. – Heisa – Heisa – Tanz und Jubel, der Teufel zieht ein mit Pauken und Trompeten!


    C-moll-Akkorde (fortissimo hintereinander fort)


    Kennt ihr ihn nicht? – Kennt ihr ihn nicht? – Seht, er greift mit glühender Kralle nach meinem Herzen! – er maskiert sich in allerlei tolle Fratzen – als Freijäger- Konzertmeister – Wurmdoktor – ricco mercante – er schmeißt mir Lichtscheren in die Saiten, damit ich nur nicht spielen soll! – Kreisler – Kreisler! raffe dich auf! – Siehst du es lauern, das bleiche Gespenst mit den rot funkelnden Augen – die krallichten Knochenfäuste aus dem zerrissenen Mantel nach dir ausstreckend? – die Strohkrone auf dem kahlen glatten Schädel schüttelnd! – Es ist der Wahnsinn – Johannes, halte dich tapfer. – Toller, toller Lebensspuk, was rüttelst du mich so in deinen Kreisen? Kann ich dir nicht entfliehen? – Kein Stäubchen im Universum, auf das ich, zur Mücke verschrumpft, vor dir, grausiger Quälgeist, mich retten könnte? – Laß ab von mir! – ich will artig sein! ich will glauben, der Teufel sei ein Galanthuomo von den feinsten Sitten! – hony soit qui mal y pense – ich verfluche den Gesang, die Musik – ich lecke dir die Füße wie der trunkene Kaliban – nur erlöse mich von der Qual – hei, hei, Verruchter, du hast mir alle Blumen zertreten – in schauerlicher Wüste grünt kein Halm mehr – tot – tot – tot –«


    Hier knisterte ein kleines Flämmchen auf – der treue Freund hatte schnell ein chemisches Feuerzeug hervorgezogen und zündete beide Lichter an, um so dem Kreisler alles weitere Phantasieren abzuschneiden, denn er wußte wohl, daß Kreisler sich nun gerade auf einem Punkt befand, von dem er sich gewöhnlich in einen düstern Abgrund hoffnungsloser Klagen stürzte. In dem Augenblick brachte auch die Wirtstochter den dampfenden Tee herein. Kreisler sprang vom Flügel auf. – »Was soll denn das nun alles,« sprach der Unzufriedene, »ein gescheites Allegro von Haydn ist mir lieber als all der tolle Schnickschnack.« – »Aber nicht ganz übel war es doch«, fiel der Gleichgültige ein. »Nur zu düster, viel zu düster,« nahm der Joviale das Wort, »es tut not, unser Gespräch heut ins Lustige, Luftige hinauszutreiben.« – Die Klubbisten bemühten sich, den Rat des Jovialen zu befolgen, aber wie ein fernes dumpfes Echo tönten Kreislers schauerliche Akkorde – seine entsetzlichen Worte nach und erhielten die gespannte Stimmung, in die Kreisler alle versetzt hatte. Der Unzufriedene, in der Tat höchst unzufrieden mit dem Abend, den, wie er sich ausdrückte, Kreislers törichte Phantasterei verdarb, brach auf mit dem Bedächtigen. Ihnen folgte der Joviale, und nur der reisende Enthusiast und treue Freund (beide sind, wie es hier ausdrücklich bemerkt wird, in einer Person vereinigt) blieb noch bei dem Kreisler zurück. Dieser saß schweigend mit verschränkten Armen auf dem Sofa. »Ich weiß nicht,« sprach der treue Freund, »wie du mir heute vorkommst, Kreisler! – Du bist so aufgeregt und doch ohne allen Humor, gar nicht so wie sonst!« – »Ach, Freund!« erwiderte Kreisler, »ein düstrer Wolkenschatten geht über mein Leben hin! – Glaubst du nicht, daß es einer armen unschuldigen Melodie, welche keinen – keinen Platz auf der Erde begehrt, vergönnt sein dürfte, frei und harmlos durch den weiten Himmelsraum zu ziehen? – Ei, ich möchte nur gleich auf meinem chinesischen Schlafrock wie auf einem Mephistophelesmantel hinausfahren durch jenes Fenster dort!« – »Als harmlose Melodie?« fiel der treue Freund lächelnd ein. »Oder als basso ostinato, wenn du lieber willst,« erwiderte Kreisler, »aber fort muß ich bald auf irgend eine Weise.« Es geschah auch bald, wie er gesprochen.





    Liebe Grüße Peter

  • 4. Nachricht von einem gebildeten jungen Mann


    Es ist herzerhebend, wenn man gewahr wird, wie die Kultur immer mehr um sich greift; ja, wie selbst aus Geschlechtern, denen sonst die höhere Bildung verschlossen, sich Talente zu einer seltenen Höhe aufschwingen. In dem Hause des geheimen Kommerzienrats R. lernte ich einen jungen Mann kennen, der mit den außerordentlichsten Gaben eine liebenswürdige Bonhommie verbindet. Als ich einst zufällig von dem fortdauernden Briefwechsel sprach, den ich mit meinem Freunde Charles Ewson in Philadelphia unterhalte, übergab er mir voll Zutrauen einen offenen Brief, den er an seine Freundin geschrieben hatte, zur Bestellung. – Der Brief ist abgesendet; aber mußte ich nicht, liebenswürdiger Jüngling, dein Schreiben abschriftlich als ein Denkmal deiner hohen Weisheit und Tugend, deines echten Kunstgefühls bewahren? – Nicht verhehlen kann ich, daß der seltene, junge Mann seiner Geburt und ursprünglichen Profession nach eigentlich – ein Affe ist, der im Hause des Kommerzienrats sprechen, lesen, schreiben, musizieren u.s.w. lernte; kurz, es in der Kultur so weit brachte, daß er seiner Kunst und Wissenschaft sowie der Anmut seiner Sitten wegen sich eine Menge Freunde erwarb und in allen geistreichen Zirkeln gern gesehen wird. Bis auf Kleinigkeiten, z.B. daß er bei den Thés dansants in den Hops-Angloisen zuweilen etwas sonderbare Sprünge ausführt, daß er ohne gewisse innere Bewegung nicht wohl mit Nüssen klappern hören kann, sowie (doch dies mag ihm vielleicht nur der Neid, der alle Genies verfolgt, nachsagen) daß er, der Handschuhe unerachtet, die Damen beim Handkuß etwas weniges kratzt, merkt man auch nicht das mindeste von seiner exotischen Herkunft, und alle die kleinen Schelmereien, die er sonst in jüngeren Jahren ausübte, wie z.B. wenn er den ins Haus Eintretenden schnell die Hüte vom Kopfe riß und hinter ein Zuckerfaß sprang, sind jetzt zu geistreichen Bonmots geworden, welche mit jauchzendem Beifall beklatscht werden. – Hier ist der merkwürdige Brief, in dem sich Milos schöne Seele und herrliche Bildung ganz ausspricht.


    Schreiben Milos, eines gebildeten Affen, an seine Freundin Pipi in Nord-Amerika


    Mit einer Art von Entsetzen denke ich noch an die unglückselige Zeit, als ich Dir, geliebte Freundin, die zärtlichsten Gesinnungen meines Herzens nicht anders, als durch unschickliche, jedem Gebildeten unverständliche Laute auszudrücken vermochte. Wie konnte doch das mißtönende, weinerliche: Ae, Ae! das ich damals, wiewohl von manchem zärtlichen Blick begleitet, ausstieß, nur im mindesten das tiefe, innige Gefühl, das sich in meiner männlichen, wohlbehaarten Brust regte, andeuten? Und selbst meine Liebkosungen, die Du, kleine süße Freundin, damals mit stiller Ergebung dulden mußtest, waren so unbehilflich, daß ich jetzt, da ich es in dem Punkt dem besten primo amoroso gleichtue und à la Duport die Hand küsse, rot darüber werden könnte, wenn nicht ein gewisser robuster Teint, der mir eigen, dergleichen verhinderte. Unerachtet des Glücks der höchsten innern Selbstzufriedenheit, die jene unter den Menschen erhaltene Bildung in mir erzeugt hat, gibt es dennoch Stunden, in denen ich mich recht abhärme, wiewohl ich weiß, daß dergleichen Anwandlungen, ganz dem sittlichen Charakter, den man durch die Kultur erwirbt, zuwider, noch aus dem rohen Zustande herrühren, der mich in einer Klasse von Wesen festhielt, die ich jetzt unbeschreiblich verachte. Ich bin nämlich dann töricht genug, an unsere armen Verwandten zu denken, die noch in den weiten, unkultivierten Wäldern auf den Bäumen herumhüpfen, sich von rohen, nicht erst durch Kunst schmackhaft gewordenen Früchten nähren und vorzüglich abends gewisse Hymnen anstimmen, in denen kein Ton richtig und an irgend einen Takt, sei es auch der neuerfundene 7/8tel oder 13/4tel Takt, gar nicht zu denken ist. An diese Armen, die mich doch eigentlich nun gar nichts mehr angehen, denke ich dann und erwehre mich kaum eines tiefen Mitleids mit ihnen. Vorzüglich liegt mir noch zuweilen unser alter Onkel (nach meinen Erinnerungen muß es ein Onkel von mütterlicher Seite gewesen sein) im Sinn, der uns nach seiner dummen Weise erzog und alles nur mögliche anwandte, uns von allem, was menschlich, entfernt zu halten. Er war ein ernster Mann, der niemals Stiefeln anziehen wollte, und ich höre noch sein warnendes, ängstliches Geschrei, als ich mit lüsternem Verlangen die schönen, neuen Klappstiefeln anblickte, die der schlaue Jäger unter dem Baum stehen lassen, auf dem ich gerade mit vielem Appetit eine Kokusnuß verzehrte. Ich sah noch in der Entfernung den Jäger gehen, dem die, den zurückgelassenen ganz ähnlichen, Klappstiefeln herrlich standen. Der ganze Mann erhielt eben nur durch die wohlgewichsten Stiefeln für mich so etwas Grandioses und Imposantes – nein, ich konnte nicht widerstehen; der Gedanke, ebenso stolz wie jener in neuen Stiefeln einherzugehen, bemächtigte sich meines ganzen Wesens, und war es nicht schon ein Beweis der herrlichen Anlagen zur Wissenschaft und Kunst, die in mir nur geweckt werden durften, daß ich, vom Baum herabgesprungen, leicht und gewandt, als hätte ich zeitlebens Stiefeln getragen, mit den stählernen Stiefelanziehern den schlanken Beinen die ungewohnte Bekleidung anzuzwängen wußte? Daß ich freilich nachher nicht laufen konnte, daß der Jäger nun auf mich zuschritt, mich ohne weiteres beim Kragen nahm und fortschleppte, daß der alte Onkel erbärmlich schrie und uns Kokusnüsse nachwarf, wovon mich eine recht hart ans hintere linke Ohr traf, wider den Willen des bösen Alten aber vielleicht herrliche, neue Organe zur Reife gebracht hat: alles dieses weißt Du, Holde, da Du selbst ja heulend und jammernd Deinem Geliebten nachliefest und so auch freiwillig Dich in die Gefangenschaft begabst. – Was sage ich, Gefangenschaft! Hat diese Gefangenschaft uns nicht die größte Freiheit gegeben? Ist etwas herrlicher als die Ausbildung des Geistes, die uns unter den Menschen geworden? – Ich zweifle nämlich nicht, daß Du, liebe Pipi, bei Deiner angebornen Lebhaftigkeit, bei Deiner Fassungsgabe Dich auch etwas weniges auf die Künste und Wissenschaften gelegt haben wirst, und in diesem Vertrauen unterscheide ich Dich auch ganz von den bösen Verwandten in den Wäldern. Ha! unter ihnen herrscht noch Sittenlosigkeit und Barbarei, ihre Augen sind trocken, und sie sind gänzlich ohne Tiefe des Gemüts! Freilich kann ich wohl voraussetzen, daß Du in der Bildung nicht so weit vorgeschritten sein wirst als ich, denn ich bin nunmehr, wie man zu sagen pflegt, ein gemachter Mann; ich weiß durchaus alles, bin daher ebenso wie ein Orakel und herrsche im Reich der Wissenschaft und Kunst hier unumschränkt. Du wirst gewiß glauben, süße Kleine, daß es mich unendlich viel Mühe gekostet habe, auf diese hohe Stufe der Kultur zu gelangen, im Gegenteil kann ich Dich versichern, daß mir nichts in der Welt leichter geworden als das; ja, ich lache oft darüber, daß in meiner frühen Jugend mir die verdammten Springübungen von einem Baum zum andern manchen Schweißtropfen ausgepreßt, welches ich bei dem Gelehrt- und Weisewerden nie verspürt habe. Das hat sich vielmehr so ganz leicht von selbst gefunden, und es war beinahe schwerer, zur Erkenntnis zu gelangen, ich säße nun wirklich schon auf der obersten Stufe, als hinaufzuklettern. Dank sei es meinem herrlichen Ingenio und dem glücklichen Wurf des Onkels! – Du mußt nämlich wissen, liebe Pipi, daß die geistigen Anlagen und Talente wie Beulen am Kopfe liegen und mit Händen zu greifen sind; mein Hinterhaupt fühlt sich an wie ein Beutel mit Kokusnüssen, und jenem Wurf ist vielleicht noch manches Beulchen und mit ihm ein Talentchen entsprossen. Ich hab' es in der Tat recht dick hinter den Ohren! – Jener Nachahmungstrieb, der unserm Geschlecht eigen, und der ganz ungerechterweise von den Menschen so oft belacht wird, ist nichts weiter als der unwiderstehliche Drang, nicht sowohl Kultur zu erlangen, als die uns schon inwohnende zu zeigen. Dasselbe Prinzip ist bei den Menschen längst angenommen, und die wahrhaft Weisen, denen ich immer nachgestrebt, machen es in folgender Art. Es verfertigt irgend jemand etwas, sei es ein Kunstwerk oder sonst; alles ruft: »Das ist vortrefflich;« gleich macht der Weise, von innerm Beruf beseelt, es nach. Zwar wird etwas anders daraus; aber er sagt: »So ist es eigentlich recht, und jenes Werk, das ihr für vortrefflich hieltet, gab mir nur den Sporn, das wahrhaft Vortreffliche ans Tageslicht zu fördern, das ich längst in mir trug.« Es ist ungefähr so, liebe Pipi, als wenn einer unserer Mitbrüder sich beim Rasieren zwar in die Nase schneidet, dadurch aber dem Stutzbart einen gewissen originellen Schwung gibt, den der Mann, dem er es absah, niemals erreicht. Eben jener Nachahmungstrieb, der mir von jeher ganz besonders eigen, brachte mich einem Professor der Ästhetik, dem liebenswürdigsten Mann von der Welt, näher, von dem ich nachher die ersten Aufklärungen über mich selbst erhielt und der mir auch das Sprechen beibrachte. Noch ehe ich dieses Talent ausgebildet, war ich oft in auserlesener Gesellschaft witziger, geistreicher Menschen. Ich hatte ihre Mienen und Gebärden genau abgesehen, die ich geschickt nachzuahmen wußte; dies und meine anständige Kleidung, mit der mich mein damaliger Prinzipal versehen, öffnete mir nicht allein jederzeit die Tür, sondern ich galt allgemein für einen jungen Mann von feinem Weltton. Wie sehnlich wünschte ich sprechen zu können; aber im Herzen dachte ich: »O Himmel, wenn du nun auch sprechen kannst, wo sollst du all' die tausend Einfälle und Gedanken hernehmen, die denen da von den Lippen strömen? Wie sollst du es anfangen, von den tausend Dingen zu sprechen, die du kaum dem Namen nach kennst? Wie sollst du über Werke der Wissenschaft und Kunst so bestimmt urteilen, wie jene da, ohne in diesem Gebiete einheimisch zu sein?« –




    Liebe Grüße Peter

  • Zitat

    Original von pbrixius
    4. Nachricht von einem gebildeten jungen Mann


    Sowie ich nur einige Worte zusammenhängend herausbringen konnte, eröffnete ich meinem lieben Lehrer, dem Professor der Ästhetik, meine Zweifel und Bedenken; der lachte mir aber ins Gesicht und sprach: »Was glauben Sie denn, lieber Monsieur Milo? Sprechen, sprechen, sprechen müssen Sie lernen, alles übrige findet sich von selbst. Geläufig, gewandt, geschickt sprechen, das ist das ganze Geheimnis. Sie werden selbst erstaunen, wie Ihnen im Sprechen die Gedanken kommen, wie Ihnen die Weisheit aufgeht, wie die göttliche Suada Sie in alle Tiefen der Wissenschaft und Kunst hineinführt, daß Sie ordentlich in Irrgängen zu wandeln glauben. Oft werden Sie sich selbst nicht verstehen: dann befinden Sie sich aber gerade in der wahren Begeisterung, die das Sprechen hervorbringt. Einige leichte Lektüre kann Ihnen übrigens wohl nützlich sein, und zur Hilfe merken Sie sich einige angenehme Phrasen, die überall vorteilhaft eingestreut werden und gleichsam zum Refrain dienen können. Reden Sie viel von den Tendenzen des Zeitalters – wie sich das und jenes rein ausspreche – von Tiefe des Gemüts – von gemütvoll und gemütlos u.s.w.« – O meine Pipi, wie hatte der Mann recht! wie kam mir mit der Fertigkeit des Sprechens die Weisheit! – Mein glückliches Mienenspiel gab meinen Worten Gewicht, und in dem Spiegel habe ich gesehen, wie schön meine von Natur etwas gerunzelte Stirn sich ausnimmt, wenn ich diesem oder jenem Dichter, den ich nicht verstehe, weshalb er denn unmöglich was taugen kann, Tiefe des Gemüts rein abspreche. Überhaupt ist die innere Überzeugung der höchsten Kultur der Richterstuhl, dem ich bequem jedes Werk der Wissenschaft und Kunst unterwerfe, und das Urteil infallibel, weil es aus dem Innern von selbst, wie ein Orakel, entsprießt. – Mit der Kunst habe ich mich vielfach beschäftigt – etwas Malerei, Bildhauerkunst mitunter Modellieren – Dich, süße Kleine, formte ich als Diana nach der Antike; – aber all den Krimskrams hatte ich bald satt; nur die Musik zog mich vor allen Dingen an, weil sie Gelegenheit gibt, so eine ganze Menge Menschen mir nichts, dir nichts in Erstaunen und Bewunderung zu setzen, und schon meiner natürlichen Organisation wegen wurde bald das Fortepiano mein Lieblingsinstrument. Du kennst, meine Süße, die etwas länglichen Finger, welche mir die Natur verliehen; mit denen spanne ich nun Quartdezimen, ja zwei Oktaven, und dies, nebst einer enormen Fertigkeit, die Finger zu bewegen und zu rühren, ist das ganze Geheimnis des Fortepianospiels. Tränen der Freude hat der Musikmeister über die herrlichen, natürlichen Anlagen seines Scholaren vergossen, denn in kurzer Zeit habe ich es so weit gebracht, daß ich mit beiden Händen in zweiunddreißig, – vierundsechzig, – einhundertundachtundzwanzig – Teilen ohne Anstoß auf- und ablaufe, mit allen Fingern gleich gute Triller schlage, drei, vier Oktaven herauf und herab springe, wie ehemals von einem Baum zum andern, und bin hiernach der größte Virtuos, den es geben kann. Mir sind alle vorhandene Flügelkompositionen nicht schwer genug; ich komponiere mir daher meine Sonaten und Konzerte selbst; in letztern muß jedoch der Musikmeister die Tutti machen: denn wer kann sich mit den vielen Instrumenten und dem unnützen Zeuge überhaupt befassen! Die Tutti der Konzerte sind ja ohnedies nur notwendige Übel und nur gleichsam Pausen, in denen sich der Solospieler erholt und zu neuen Sprüngen rüstet. – Nächstdem habe ich mich schon mit einem Instrumentenmacher besprochen wegen eines Fortepiano von neun bis zehn Oktaven: denn kann sich wohl das Genie beschränken auf den elenden Umfang von erbärmlichen sieben Oktaven? Außer den gewöhnlichen Zügen, der türkischen Trommel und Becken, soll er noch einen Trompetenzug sowie ein Flageolettregister, das, soviel möglich, das Gezwitscher der Vögel nachahmt, anbringen. Du wirst gewahr, liebe Pipi, auf welche sublime Gedanken ein Mann von Geschmack und Bildung gerät! – Nachdem ich mehrere Sänger großen Beifall einernten gehört, wandelte mich auch eine unbeschreibliche Lust an, ebenfalls zu singen, nur schien es mir leider, als habe mir die Natur jedes Organ dazu schlechterdings versagt; doch konnte ich nicht unterlassen, einem berühmten Sänger, der mein intimster Freund geworden, meinen Wunsch zu eröffnen und zugleich mein Leid wegen der Stimme zu klagen. Dieser schloß mich aber in die Arme und rief voll Enthusiasmus: »Glückseliger Monsieur, Sie sind bei Ihren musikalischen Fähigkeiten und der Geschmeidigkeit Ihres Organs, die ich längst bemerkt, zum großen Sänger geboren; denn die größte Schwierigkeit ist bereits überwunden. Nichts ist nämlich der wahren Singkunst so sehr entgegen als eine gute, natürliche Stimme, und es kostet nicht wenig Mühe bei jungen Scholaren, die wirklich Singstimme haben, diese Schwierigkeit aus dem Wege zu räumen. Gänzliches Vermeiden aller haltenden Töne, fleißiges Üben der tüchtigsten Rouladen, die den gewöhnlichen Umfang der menschlichen Stimme weit übersteigen, und vornehmlich das angestrengte Hervorrufen des Falsetts, in dem der wahrhaft künstliche Gesang seinen Sitz hat, hilft aber gewöhnlich nach einiger Zeit; die robusteste Stimme widersteht selten lange diesen ernsten Bemühungen; aber bei Ihnen, Geehrtester, ist nichts aus dem Wege zu räumen; in kurzer Zeit sind Sie der sublimste Sänger, den es gibt!« – – Der Mann hatte recht, nur weniger Übung bedurfte es, um ein herrliches Falsett und eine Fertigkeit zu entwickeln, hundert Töne in einem Atem herauszustoßen, was mir denn den ungeteiltesten Beifall der wahren Kenner erwarb, und die armseligen Tenoristen, welche sich auf ihre Bruststimme wunder was zugute tun, unerachtet sie kaum einen Mordent herausbringen, in Schatten stellte. Mein Maestro lehrte mich gleich anfänglich drei ziemlich lange Manieren, in welchen aber die Quintessenz aller Weisheit des künstlichen Gesanges steckt, so daß man sie bald so, bald anders gewendet, ganz oder stückweise, unzähligemal wiederbringen, ja zu dem Grundbaß der verschiedensten Arien, statt der von dem Komponisten intendierten Melodie, nur jene Manieren auf allerlei Weise singen kann. Welcher rauschende Beifall mir schon eben der Ausführung dieser Manieren wegen gezollt worden, meine Süße, kann ich Dir nicht beschreiben, und Du bemerkst überhaupt, wie auch in der Musik das natürliche, mir inwohnende Ingenium mir alles so herzlich leicht machte. – Von meinen Kompositionen habe ich schon gesprochen, aber gerade das liebe Komponieren – muß ich es nicht, um nur meinem Genie ihm würdige Werke zu verschaffen, so überlasse ich es gern den untergeordneten Subjekten, die nun einmal dazu da sind, uns Virtuosen zu dienen, d.h. Werke anzufertigen, in denen wir unsere Virtuosität zeigen können. – Ich muß gestehen, daß es ein eigen Ding mit all dem Zeuge ist, das die Partitur anfüllt. Die vielen Instrumente, der harmonische Zusammenklang – sie haben ordentliche Regeln darüber; aber für ein Genie, für einen Virtuosen ist das alles viel zu abgeschmackt und langweilig. Nächstdem darf man, um sich von jeder Seite in Respekt zu halten, worin die größte Lebensweisheit besteht, auch nur für einen Komponisten gelten; das ist genug. Hatte ich z.B. in einer Gesellschaft in einer Arie des gerade anwesenden Komponisten recht vielen Beifall eingeerntet, und war man im Begriff, einen Teil dieses Beifalls dem Autor zuzuwenden, so warf ich mit einem gewissen finstern, tiefschauenden Blick, den ich bei meiner charaktervollen Physiognomie überaus gut zu machen verstehe, ganz leicht hin: »Ja, wahrhaftig, ich muß nun auch meine neue Oper vollenden!« und diese Äußerung riß alles zu neuer Bewunderung hin, so daß darüber der Komponist, der wirklich vollendet hatte, ganz vergessen wurde. Überhaupt steht es dem Genie wohl an, sich so geltend zu machen, als möglich; und es darf nicht verschweigen, wie ihm alles das, was in der Kunst geschieht, so klein und erbärmlich vorkommt gegen das, was es in allen Teilen derselben und der Wissenschaft produzieren könnte, wenn es nun gerade wollte und die Menschen der Anstrengung wert wären. – Gänzliche Verachtung alles Bestrebens anderer; die Überzeugung, alle, die gern schweigen und nur im stillen schaffen, ohne davon zu sprechen, weit, weit zu übersehen, die höchste Selbstzufriedenheit mit allem, was nun so ohne alle Anstrengung die eigene Kraft hervorruft: das alles sind untrügliche Zeichen des höchstkultivierten Genies, und wohl mir, daß ich alles das täglich, ja stündlich an mir bemerke. – So kannst Du Dir nun, süße Freundin, ganz meinen glücklichen Zustand, den ich der erlangten hohen Bildung verdanke, vorstellen. – Aber kann ich Dir denn nur das mindeste, was mir auf dem Herzen liegt, verschweigen? – Soll ich es Dir, Holde, nicht gestehen, daß noch öfters gewisse Anwandlungen, die mich ganz unversehends überfallen, mich aus dem glücklichen Behagen reißen, das meine Tage versüßt? – O Himmel, wie ist doch die früheste Erziehung so von wichtigem Einfluß auf das ganze Leben! und man sagt wohl mit Recht, daß schwer zu vertreiben sei, was man mit der Muttermilch einsauge! Wie ist mir denn doch mein tolles Herumschwärmen in Bergen und Wäldern so schädlich geworden! Neulich gehe ich, elegant gekleidet, mit mehreren Freunden in dem Park spazieren: plötzlich stehen wir an einem herrlichen, himmelhohen, schlanken Nußbaum; eine unwiderstehliche Begierde raubt mir alle Besinnung – einige tüchtige Sätze, und – ich wiege mich hoch in den Wipfeln der Äste, nach den Nüssen haschend! Ein Schrei des Erstaunens, den die Gesellschaft ausstieß, begleitet mein Wagestück. Als ich, mich wieder besinnend auf die erhaltene Kultur, die dergleichen Extravagantes nicht erlaubt, hinabkletterte, sprach ein junger Mensch, der mich sehr ehrt: »Ei, lieber Monsieur Milo, wie sind Sie doch so flink auf den Beinen!« Aber ich schämte mich sehr. – So kann ich auch oft kaum die Lust unterdrücken, meine Geschicklichkeit im Werfen, die mir sonst eigen, zu üben; und kannst Du Dir's denken, holde Kleine, daß mich neulich bei einem Souper jene Lust so sehr übermannte, daß ich schnell einen Apfel dem ganz am andern Ende des Tisches sitzenden Kommerzienrat, meinem alten Gönner, in die Perücke warf, welches mich beinahe in tausend Ungelegenheiten gestürzt hätte? – Doch hoffe ich, immer mehr und mehr auch von diesen Überbleibseln des ehemaligen rohen Zustandes mich zu reinigen. – Solltest Du in der Kultur noch nicht so weit vorgerückt sein, süße Freundin, um diesen Brief lesen zu können, so mögen Dir die edlen, kräftigen Züge Deines Geliebten eine Aufmunterung, lesen zu lernen, und dann der Inhalt die weisheitsvolle Lehre sein, wie Du es anfangen mußt, um zu der innern Ruhe und Behaglichkeit zu gelangen, die nur die höchste Kultur erzeugt, wie sie aus dem innern Ingenio und dem Umgang mit weisen, gebildeten Menschen entspringt. – Nun tausendmal lebe wohl, süße Freundin!


    »Zweifle an der Sonne Klarheit,
    Zweifle an der Sterne Licht,
    Zweifl', ob lügen kann die Wahrheit,
    Nur an meiner Liebe nicht!«


    Dein
    Getreuer bis in den Tod!
    Milo,
    ehemals Affe, jetzt privatisierender
    Künstler und Gelehrter.



    Liebe Grüße Peter

  • Neben seinem Libretto zu Lortzings "Wildschütz" ist "Die deutschen Kleinstädter" wohl das bekannteste Werk des Autors, dessen Sterbetag man heute gedenkt. Zum Einlesen hier einmal der Anfang ...


    Erster Akt


    Erste Szene


    SABINE allein. Sie steht am Fenster, schlägt es hastig zu, läuft an die Tür und ruft hinaus. Margarethe! Margarethe!
    DIE MAGD draußen. Mamsellchen!
    SABINE. Die Post ist gekommen. Geschwind hinüber! sieh, ob ein Brief an mich da ist. – Sie tritt hervor. Schon seit fünf Wochen bin ich aus der Residenz zurück, und noch keine Zeile. Wenn ich heute wieder vergebens hoffe, so – so – ja was denn? – so werd' ich böse und heirate Sperling. – Gemach! gemach! ich kann ja auch wohl böse werden, ohne Sperling zu heiraten. Wer wäre sonst am meisten gestraft?


    Zweite Szene



    Die Magd – Sabine.


    MAGD. Da ist ein Brief Mamsellchen.
    SABINE reißt ihr den Brief hastig aus der Hand. Endlich! endlich! Sie besieht die Aufschrift. von meiner Cousine.
    MAGD. Da sind auch die Zeitungen. Sie legt sie auf den Tisch. Es ist heute ein starker Posttag. Sechzehn Briefe sind angekommen, alle nach Krähwinkel! Der Herr Postmeister wußte nicht, wo ihm der Kopf stand.
    SABINE. Geh nur, geh nur.


    Magd ab.


    Dritte Szene


    SABINE allein. Sie liest flüchtig. »Neues Schauspiel –« – was kümmerts mich? – »Die Schleppen werden jetzt sehr lang getragen« – wer will das wissen? – »englische Strohhüte« – wer hat darnach gefragt? – Wie? – schon zu Ende? – Keine Silbe von ihm? – Freilich hab' ich ihm verboten, mir selbst zu schreiben, das schickt sich nicht. Aber er versprach doch durch die Cousine – und auch die Cousine versprach – warum hat denn keines Wort gehalten? – bin ich schon vergessen? – er wollte ja selber kommen, mit Empfehlungsschreiben vom Minister? und nun kömmt er nicht, und schreibt auch nicht. Er weiß doch, daß ich den Sperling heiraten soll. Der Vater quält mich, die Großmutter quält mich, und nun werd' ich auch noch von ihm gequält! – Sie zerreibt den Brief zwischen den Händen. Es geschieht dir schon recht. Man hat dich genug vor den jungen Herren aus der Residenz gewarnt. Sie verlieben sich in einem Tage dreimal, und wenn sie abends in die Komödie gehn, wissen sie schon nichts mehr davon. – Aber Karl! Karl! auch du ein Alltagsmensch? auch du nur ein Schönschwätzer? Sie zieht ein Portrait aus der Tasche. Können diese edlen Züge täuschen? – mit diesem Blicke schwur er mir, in wenig Wochen selbst zu kommen, und meinen Vater zu gewinnen. Sind fünf Wochen wenig? muß ich ihm vorrechnen, daß sie aus fünfunddreißig ewig langen Tagen bestehn? – O Karl! eile! sonst bin ich für dich verloren. Sie betrachtet wehmütig das Bild.

  • 5. Der Musikfeind


    Es ist wohl etwas Herrliches, so durch und durch musikalisch zu sein, daß man, wie mit besonderer Kraft ausgerüstet, die größten musikalischen Massen, die die Meister mit einer unzähligen Menge Noten und Töne der verschiedensten Instrumente aufgebauet, leicht und lustig handhabt, indem man sie, ohne sonderliche Gemütsbewegung, ohne die schmerzhaften Stöße des leidenschaftlichen Entzückens, der herzzerreißenden Wehmut zu spüren, in Sinn und Gedanken aufnimmt. – Wie hoch kann man sich dann auch über die Virtuosität der Spieler im Innern erfreuen, ja, diese Freude, die von innen herausstrebt, recht laut werden lassen ohne alle Gefahr. An die Glückseligkeit, selbst ein Virtuos zu sein, will ich gar nicht denken; denn noch viel tiefer wird dann mein Schmerz, daß mir aller Sinn für Musik so ganz und gar abgeht, woher denn auch meine unbeschreibliche Unbeholfenheit in der Ausübung dieser herrlichen Kunst, die ich leider von Kindheit auf gezeigt, rühren vermag. – Mein Vater war gewiß ein tüchtiger Musikus; er spielte fleißig auf einem großen Flügel oft bis in die späte Nacht hinein, und wenn es einmal ein Konzert in unserm Hause gab, dann spielte er sehr lange Stücke, wozu ihn die andern auf Violinen, Bässen, auch wohl Flöten und Waldhörnern ganz wenig begleiteten. Wenn solch ein langes Stück endlich heraus war, dann schrieen alle sehr und riefen: »Bravo, Bravo! welch ein schönes Konzert! wie fertig, wie rund gespielt!« und nannten mit Ehrfurcht den Namen Emanuel Bach! – Der Vater hatte aber so viel hintereinander gehämmert und gebrauset, daß es mir immer vorkam, als sei das wohl kaum Musik, worunter ich mir so recht ans Herz gehende Melodien dachte, sondern er tue dies nur zum Spaß, und die andern hätten auch wieder ihren Spaß daran. – Ich war bei solchen Gelegenheiten immer in mein Sonntagsröckchen geknöpft und mußte auf einem hohen Stuhl neben der Mutter sitzen und zuhören, ohne mich viel zu regen und zu bewegen. Die Zeit wurde mir entsetzlich lang, und ich hätte wohl gar nicht ausdauern können, wenn ich mich nicht an den besondern Grimassen und komischen Bewegungen der Spieler ergötzt hätte. Vorzüglich erinnere ich mich noch eines alten Advokaten, der immer dicht bei meinem Vater die Geige spielte, und von dem sie immer sagten, er wäre ein ganz übertriebener Enthusiast, und die Musik mache ihn halb verrückt, so daß er in der wahnsinnigen Exaltation, zu der ihn Emanuel Bachs oder Wolfs oder Bendas Genius hinaufschraube, weder rein greife noch Takt halte. – Mir steht der Mann noch ganz vor Augen. Er trug einen pflaumfarbenen Rock mit goldbesponnenen Knöpfen, einen kleinen silbernen Degen und eine rötliche, nur wenig gepuderte Perücke, an der hinten ein kleiner runder Haarbeutel hing. Er hatte einen unbeschreiblichen komischen Ernst in allem, was er begann. »Ad Opus!« pflegte er zu rufen, wenn der Vater die Musikblätter auf die Pulte verteilte. Dann ergriff er mit der rechten Hand die Geige, mit der linken aber die Perücke, die er abnahm und an einen Nagel hing. Nun hob er an, sich immer mehr und mehr übers Blatt beugend, zu arbeiten, daß die roten Augen glänzend heraustraten und Schweißtropfen auf der Stirn standen. Es geschah ihm zuweilen, daß er früher fertig wurde als die übrigen, worüber er sich denn nicht wenig wunderte und die andern ganz böse anschaute. Oft war es mir auch, als brächte er Töne heraus, denen ähnlich, die Nachbars Peter, mit naturhistorischem Sinn die verborgenen musikalischen Talente der Katzen erforschend, unserm Hauskater ablockte durch schickliches Einklemmen des Schwanzes und sonst, weshalb er zuweilen von dem Vater etwas geprügelt wurde – (nämlich der Peter). – Kurz, der pflaumfarbene Advokat – er hieß Musewius – hielt mich ganz für die Pein des Stillsitzens schadlos, indem ich mich an seinen Grimassen, an seinen komischen Seitensprüngen, ja wohl gar an seinem Quinkelieren höchlich ergötzte. – Einmal machte er doch eine vollkommene Störung in der Musik, so daß mein Vater vom Flügel aufsprang und alle auf ihn zustürzten, einen bösen Zufall, der ihn ergriffen, befürchtend. Er fing nämlich an, erst etwas weniges mit dem Kopfe zu schütteln, dann aber in einem fortsteigenden Crescendo immer stärker und stärker den Kopf hin und her zu werfen, wozu er gräßlich mit dem Bogen über die Saiten hin und her fuhr, mit der Zunge schnalzte und mit dem Fuß stampfte. Es war aber nichts als eine kleine feindselige Fliege, die hatte ihn, mit beharrlichem Eigensinn in demselben Kreise bleibend, umsummt und sich, tausendmal verjagt, immer wieder auf die Nase gesetzt. Das hatte ihn in wilde Verzweiflung gestürzt. –

  • 5. Der Musikfeind


    Manchmal geschah es, daß die Schwester meiner Mutter eine Arie sang. Ach, wie freute ich mich immer darauf! Ich liebte sie sehr; sie gab sich viel mit mir ab und sang mir oft mit ihrer schönen Stimme, die so recht in mein Innerstes drang, eine Menge herrlicher Lieder vor, die ich so in Sinn und Gedanken trage, daß ich sie noch für mich leise zu singen vermag. – Es war immer etwas Feierliches, wenn meine Tante die Stimmen der Arien von Hasse oder von Traetta oder sonst einem Meister auflegte; der Advokat durfte nicht mitspielen. Schon wenn sie die Einleitung spielten und meine Tante noch nicht angefangen zu singen, klopfte mir das Herz, und ein ganz wunderbares Gefühl von Lust und Wehmut durchdrang mich, so daß ich mich kaum zu fassen wußte. Aber kaum hatte die Tante einen Satz gesungen, so fing ich an bitterlich zu weinen und wurde unter heftigen Scheltworten meines Vaters zum Saal hinausgebracht. Oft stritt sich mein Vater mit der Tante, weil letztere behauptete, mein Betragen rühre keineswegs davon her, daß mich die Musik auf unangenehme, widrige Weise affiziere, sondern vielmehr von der übergroßen Reizbarkeit meines Gemüts; dagegen mich der Vater geradezu einen dummen Jungen schalt, der aus Unlust heulen müsse wie ein antimusikalischer Hund. – Einen vorzüglichen Grund, nicht allein mich zu verteidigen, sondern auch sogar mir einen tief verborgenen musikalischen Sinn zuzuschreiben, nahm meine Tante aus dem Umstande her, daß ich oft, wenn der Vater zufällig den Flügel nicht zugeschlossen, mich stundenlang damit ergötzen konnte, allerlei wohlklingende Akkorde aufzusuchen und anzuschlagen. Hatte ich nun mit beiden Händen drei, vier, ja wohl sechs Tangenten gefunden, die, auf einmal niedergedrückt, einen gar wunderbaren, lieblichen Zusammenklang hören ließen, dann wurde ich nicht müde, sie anzuschlagen und austönen zu lassen. Ich legte den Kopf seitwärts auf den Deckel des Instruments; ich drückte die Augen zu; ich war in einer andern Welt; aber zuletzt mußte ich wieder bitterlich weinen, ohne zu wissen, ob vor Lust oder vor Schmerz. Meine Tante hatte mich oft belauscht und ihre Freude daran gehabt, wogegen mein Vater darin nur kindische Possen fand. Überhaupt schienen sie, so wie über mich, auch rücksichtlich anderer Gegenstände, vorzüglich der Musik, ganz uneins zu sein, indem meine Tante oft an musikalischen Stücken, vorzüglich wenn sie von italienischen Meistern ganz einfach und prunklos komponiert waren, ein großes Wohlgefallen fand, mein Vater aber, der ein heftiger Mann war, dergleichen Musik ein Dudeldumdei nannte, das den Verstand nie beschäftigen könne. Mein Vater sprach immer vom Verstande, meine Tante immer von Gefühl. – Endlich setzte sie es doch durch, daß mein Vater mich durch einen alten Kantor, der in den Familienkonzerten gewöhnlich die Viole strich, im Klavierspielen unterrichten ließ. Aber, du lieber Himmel, da zeigte es sich denn bald, daß die Tante mir viel zu viel zugetraut, der Vater dagegen recht hatte. An Taktgefühl sowie am Auffassen einer Melodie fehlte es mir, wie der Kantor behauptete, keinesweges; aber meine grenzenlose Unbehilflichkeit verdarb alles. Sollte ich ein Übungsstück für mich exerzieren und setzte mich mit dem besten Vorsatz, recht fleißig zu sein, an das Klavier, so verfiel ich unwillkürlich bald in jene Spielerei des Akkordsuchens, und so kam ich nicht weiter. Mit vieler, unsäglicher Mühe hatte ich mich durch mehrere Tonarten durchgearbeitet bis zu der verzweifelten, die vier Kreuze vorgezeichnet hat und, wie ich jetzt noch ganz bestimmt weiß, E-dur genannt wird. Über dem Stück stand mit großen Buchstaben: Scherzando Presto, und als der Kantor es mir vorspielte, hatte es so was Hüpfendes, Springendes, das mir sehr mißfiel. Ach, wie viel Tränen, wie viel ermunternde Püffe des unseligen Kantors kostete mich das verdammte Presto! Endlich kam der für mich schreckliche Tag heran, an dem ich dem Vater und den musikalischen Freunden meine erworbenen Kenntnisse produzieren, alles, was ich gelernt, vorspielen sollte. Ich konnte alles gut, bis auf das abscheuliche E-dur-Presto: da setzte ich mich abends vorher in einer Art von Verzweiflung ans Klavier, um, koste es was es wolle, fehlerfrei jenes Stück einzuspielen. Ich wußte selbst nicht, wie es zuging, daß ich das Stück gerade auf den Tangenten, die denen, welche ich aufschlagen sollte, rechts zunächst lagen, zu spielen versuchte; es gelang mir, das ganze Stück war leichter geworden, und ich verfehlte keine Note, nur auf andern Tangenten, und mir kam es vor, als klänge das Stück sogar viel besser, als so, wie es mir der Kantor vorgespielt hatte. Nun war mir froh und leicht zumute; ich setzte mich den andern Tag keck an den Flügel und hämmerte meine Stückchen frisch darauf los, und mein Vater rief einmal über das andere: »Das hätte ich nicht gedacht!« – Als das Scherzo zu Ende war, sagte der Kantor ganz freundlich: »Das war die schwere Tonart E-dur!« und mein Vater wandte sich zu einem Freunde, sprechend: »Sehen Sie, wie fertig der Junge das schwere E-dur handhabt!« – »Erlauben Sie, Verehrtester,« erwiderte dieser, »das war ja F-dur.« – »Mit nichten, mit nichten!« sagte der Vater. »Ei ja doch,« versetzte der Freund; »wir wollen es gleich sehen.« Beide traten an den Flügel. »Sehen Sie«, rief mein Vater triumphierend, indem er auf die vier Kreuze wies. »Und doch hat der Kleine F-dur gespielt«, sagte der Freund. – Ich sollte das Stück wiederholen. Ich tat es ganz unbefangen, indem es mir nicht einmal recht deutlich war, worüber sie so ernstlich stritten. Mein Vater sah in die Tasten; kaum hatte ich aber einige Töne gegriffen, als mir das Vaters Hand um die Ohren sauste. »Vertrackter, dummer Junge!« schrie er im höchsten Zorn. Weinend und schreiend lief ich davon, und nun war es mit meinem musikalischen Unterricht auf immer aus. Die Tante meinte zwar, gerade daß es mir möglich geworden, das ganze Stück richtig, nur in einem andern Ton zu spielen, zeige von wahrem musikalischen Talent; allein ich glaube jetzt selbst, daß mein Vater recht hatte, es aufzugeben, mich auf irgend einem Instrumente unterrichten zu lassen, da meine Unbeholfenheit, die Steifheit und Ungelenkigkeit meiner Finger sich jedem Streben entgegengesetzt haben würde. – Aber eben diese Ungelenkigkeit scheint sich rücksichtlich der Musik auch auf mein geistiges Vermögen zu erstrecken. So habe ich nur zu oft bei dem Spiel anerkannter Virtuosen, wenn alles in jauchzende Bewunderung ausbrach, Langeweile, Ekel und Überdruß empfunden und mich noch dazu, da ich nicht unterlassen konnte, meine Meinung ehrlich herauszusagen, oder vielmehr mein inneres Gefühl deutlich aussprach, dem Gelächter der geschmackvollen, von der Musik begeisterten Menge preisgegeben. Ging es mir nicht noch vor kurzer Zeit ganz so, als ein berühmter Klavierspieler durch die Stadt reiste und sich bei einem meiner Freunde hören ließ? »Heute, Teuerster,« sagte mir der Freund, »werden Sie gewiß von Ihrer Musikfeindschaft geheilt; der herrliche Y. wird Sie erheben – entzücken.« Ich mußte mich wider meinen Willen dicht an das Pianoforte stellen; da fing der Virtuos an, die Töne auf und nieder zu rollen und erhob ein gewaltiges Gebrause, und als das immer fortdauerte, wurde mir ganz schwindelig und schlecht zumute, aber bald riß etwas anderes meine Aufmerksamkeit hin, und ich mag wohl, als ich den Spieler gar nicht mehr hörte, ganz sonderbar in das Pianoforte hineingestarrt haben; denn, als er endlich aufgehört hatte, zu donnern und zu rasen, ergriff mich der Freund beim Arm und rief: »Nun, Sie sind ja ganz versteinert! He, Freundchen, empfinden Sie nun endlich die tiefe, fortreißende Wirkung der himmlischen Musik?« – Da gestand ich ehrlich ein, wie ich eigentlich den Spieler wenig gehört, sondern mich vielmehr an dem schnellen Auf- und Abspringen – und dem gliederweisen Lauffeuer der Hämmer höchlich ergötzt habe; worüber denn alles in ein schallendes Gelächter ausbrach. –

  • 5. Der Musikfeind


    Wie oft werde ich empfindungs-, herz-, gemütlos gescholten, wenn ich unaufhaltsam aus dem Zimmer renne, sobald das Fortepiano geöffnet wird, oder diese und jene Dame die Guitarre in die Hand nimmt und sich zum Singen räuspert; denn ich weiß schon, daß bei der Musik, die sie gewöhnlich in den Häusern verführen, mir übel und weh wird und ich mir ordentlich physisch den Magen verderbe. – Das ist aber ein rechtes Unglück und bringt mir Verachtung der feinen Welt zuwege. Ich weiß wohl, daß eine solche Stimme, ein solcher Gesang wie der meiner Tante so recht in mein Innerstes dringt, und sich da Gefühle regen, für die ich gar keine Worte habe; es ist mir, als sei das eben die Seligkeit, welche sich über das Irdische hebt und daher auch im Irdischen keinen Ausdruck zu finden vermag; aber eben deshalb ist es mir ganz unmöglich, höre ich eine solche Sängerin, in die laute Bewunderung auszubrechen wie die andern; ich bleibe still und schaue in mein Inneres, weil da noch alle die außen verklungenen Töne widerstrahlen, und da werde ich kalt, empfindungslos, ein Musikfeind gescholten. – Mir schräg über wohnt der Konzertmeister, welcher jeden Donnerstag ein Quartett bei sich hat, wovon ich zur Sommerszeit den leisesten Ton höre, da sie abends, wenn es still auf der Straße geworden, bei geöffneten Fenstern spielen. Da setze ich mich aufs Sofa und höre mit geschlossenen Augen zu und bin ganz voller Wonne – aber nur bei dem ersten; bei dem zweiten Quartett verwirren sich schon die Töne, denn nun ist es, als müßten sie im Innern mit den Melodien des ersteren, die noch darin wohnen, kämpfen; und das dritte kann ich gar nicht mehr aushalten. Da muß ich fortrennen, und oft hat der Konzertmeister mich schon ausgelacht, daß ich mich von der Musik so in die Flucht schlagen ließe. – Sie spielten wohl, wie ich gehört habe, an sechs, acht solche Quartetts, und ich bewundere in der Tat die außerordentliche Geistesstärke, die innere musikalische Kraft, welche dazu gehört, so viel Musik hintereinander aufzufassen und durch das Abspielen alles so, wie im Innersten empfunden und gedacht, ins lebendige Leben ausgehen zu lassen. – Ebenso geht es mir mit den Konzerten, wo oft schon die erste Symphonie solch einen Tumult in mir erregt, daß ich für alles übrige tot bin. Ja, oft hat mich eben der erste Satz so aufgeregt, so gewaltsam erschüttert, daß ich mich hinaussehne, um all die seltsamen Erscheinungen, von denen ich befangen, deutlicher zu schauen, ja mich in ihren wunderbaren Tanz zu verflechten, daß ich, unter ihnen, ihnen gleich bin. Es kommt mir dann vor, als sei die gehörte Musik ich selbst. – Ich frage daher niemals nach dem Meister; das scheint mir ganz gleichgültig. Es ist mir so, als werde auf dem höchsten Punkt nur eine psychische Masse bewegt, und als habe ich in diesem Sinne viel Herrliches komponiert. – Indem ich dieses so für mich niederschreibe, wird mir angst und bange, daß es einmal in meiner angeborenen, unbefangenen Aufrichtigkeit mir über die Lippen fliehen könnte. Wie würde ich ausgelacht werden! Sollten nicht manche wahrhaftige musikalische Bravos an der Gesundheit meines Gemüts zweifeln? – Wenn ich oft nach der ersten Symphonie aus dem Konzertsaal eile, schreien sie mir nach: »Da läuft er fort, der Musikfeind!« und bedauern mich, da jeder Gebildete jetzt mit Recht verlangt, daß man nächst der Kunst, sich anständig zu verbeugen, und ebenso auch über das, was man nicht weiß, zu reden, auch die Musik liebe und treibe. Daß ich nun eben von diesem Treiben so oft getrieben werde hinaus in die Einsamkeit, wo die ewig waltende Macht in dem Rauschen der Eichenblätter über meinem Haupte, in dem Plätschern der Quelle wunderbare Töne anregt, die sich geheimnisvoll verschlingen mit den Lauten, die in meinem Innern ruhen und nun in herrlicher Musik hervorstrahlen – ja, das ist eben mein Unglück. – Die entsetzliche peinliche Schwerfälligkeit im Auffassen der Musik schadet mir auch recht in der Oper. – Manchmal freilich ist es mir, als würde nur dann und wann ein schickliches musikalisches Geräusch gemacht, und man verjage damit sehr zweckmäßig die Langeweile oder noch ärgere Ungetüme, so wie vor den Karawanen Zimbeln und Pauken toll und wild durcheinander geschlagen werden, um die wilden Tiere abzuhalten; aber wenn es oft so ist, als könnten die Personen nicht anders reden als in den gewaltigen Akzenten der Musik, als ginge das Reich des Wunderbaren auf wie ein flammender Stern – dann habe ich Mühe und Not, mich festzuhalten in dem Orkan, der mich erfaßt und in das Unendliche zu schleudern droht. – Aber in solch eine Oper gehe ich immer und immer wieder, und klarer und leuchtender wird es im Innern, und alle Gestalten treten heraus aus dem düstern Nebel und schreiten auf mich zu, und nun erkenne ich sie, wie sie so freundlich mir befreundet sind und mit mir dahinwallen im herrlichen Leben. – Ich glaube Glucks »Iphigenia« gewiß fünfzigmal gehört zu haben. Darüber lachen aber mit Recht die echten Musiker und sagen: »Beim erstenmal hatten wir alles weg, und beim dritten satt.« – Ein böser Dämon verfolgt mich aber und zwingt mich, unwillkürlich komisch zu sein und Komisches zu verbreiten rücksichtlich meiner Musikfeindschaft. So stehe ich neulich im Schauspielhause, wohin ich aus Gefälligkeit für einen fremden Freund gegangen, und bin ganz vertieft in Gedanken, als sie gerade (es wurde eine Oper gegeben) so einen nichtssagenden musikalischen Lärm machen. Da stößt mich der Nachbar an, sprechend: »Das ist eine ganz vorzügliche Stelle!« Ich dachte und konnte in dem Augenblick nichts anderes denken, als daß er von der Stelle im Parterre spräche, wo wir uns gerade befanden, und antwortete ganz treuherzig: »Ja, eine gute Stelle, aber ein bißchen Zug weht doch!« – Da lachte er sehr, und als Anekdote von dem Musikfeind wurde es verbreitet in der ganzen Stadt, und überall neckte man mich mit meiner Zugluft in der Oper, und ich hatte doch recht. –

    Sollte man es wohl glauben, daß es dessenungeachtet einen echten, wahren Musiker gibt, der noch jetzt rücksichtlich meines musikalischen Sinnes der Meinung meiner Tante ist? – Freilich wird niemand viel darauf geben, wenn ich gerade heraussage, daß dies kein anderer ist als der Kapellmeister Johannes Kreisler, der seiner Phantasterei wegen überall verschrieen genug ist, aber ich bilde mir nicht wenig darauf ein, daß er es nicht verschmäht, mir recht nach meinem innern Gefühl, so wie es mich erfreut und erhebt, vorzusingen und vorzuspielen. – Neulich sagte er, als ich ihm meine musikalische Unbeholfenheit klagte, ich sei mit jenem Lehrling in dem Tempel zu Sais zu vergleichen, der, ungeschickt scheinend im Vergleich der andern Schüler, doch den wunderbaren Stein fand, den die andern mit allem Fleiß vergeblich suchten. Ich verstand ihn nicht, weil ich Novalis' Schriften nicht gelesen, auf die er mich verwies. Ich habe heute in die Leihbibliothek geschickt, werde das Buch aber wohl nicht erhalten, da es herrlich sein soll und also stark gelesen wird. – Doch nein; eben erhalte ich wirklich Novalis' Schriften, zwei Bändchen, und der Bibliothekar läßt mir sagen, mit dergleichen könne er immer aufwarten, da es stets zu Hause sei; nur habe er den Novalis nicht gleich finden können, da er ihn ganz und gar als ein Buch, nach dem niemals gefragt würde, zurückgestellt. – Nun will ich doch gleich sehen, was es mit den Lehrlingen zu Sais für eine Bewandtnis hat.

  • 1


    »Ich werde Gespenstergeschichten erzählen! – Ja, da klatschen die jungen Damen schon alle in die Hände.«


    »Wie kommen Sie denn zu Gespenstergeschichten, alter Herr?«


    »Ich? – das liegt in der Luft. Hören Sie nur, wie draußen der Oktoberwind in den Tannen fegt! Und dann hier drinnen dies helle Kienäpfelfeuerchen!«


    »Aber ich dächte, die Spukgeschichten gehörten gänzlich zum Rüstzeug der Reaktion?«


    »Nun, gnädige Frau, unter Ihrem Vorsitz wollen wir es immer darauf wagen.«


    »Machen Sie nicht solche Augen, alter Herr!«


    »Ich mache gar keine Augen. Aber wir wollen Stühle um den Kamin setzen. – So! die Chaiselongue kann stehenbleiben. – Nein, Klärchen, nicht die Lichter ausputzen! Da merkt man Absicht, und... et cetera.«


    »So fang denn endlich einmal an!«


    »In meiner Vaterstadt...«


    »Wart noch; ich will mich vor dem Kamin auf den Teppich legen und Kienäpfel zuwerfen.«


    »Tu das! – Also, ein Arzt in meiner Vaterstadt hatte einen vierjährigen Knaben, welcher Peter hieß.«


    »Das fängt sehr trocken an!«


    »Klärchen, paß auf deine Kienäpfel! – Dem kleinen Peter träumte eines Nachts – –«


    »Ach – – Träumen!«


    »Was Träumen? Meine Damen, ich muß dringend bitten.
    Soll ich an einer zurückgetretenen Spukgeschichte ersticken?«


    »Das ist keine Spukgeschichte; Träumen ist nicht Spuken.«


    »Halt den Mund, liebes Klärchen! – Wo war ich denn?«


    »Du warst noch nicht weit.«


    »Sßt! – Der Vater erwachte eines Nachts-still, Klärchen! von dem ängstlichen Geschrei des Jungen, welcher neben seinem Bette schlief. Er nahm ihn zu sich und suchte ihn zu ermuntern, aber das Kind war gar nicht zu beruhigen. – ›Was fehlt dir, Junge?‹ – ›Es war ein großer Wolf da, er war hinter mir, er wollte mich fressen.‹ – ›Du träumst ja, mein Kind!‹ – ›Nein, nein, Papa, es war ein wirklicher Wolf; seine rauhen Haare sind an mein Gesicht gekommen.‹ – Er begrub den Kopf an seines Vaters Brust und wollte nicht wieder in sein Korbbettchen zurück. So schlief er endlich ein. Draußen vom Turme hörte der Doktor nach einiger Zeit eins schlagen.


    Im Hause des Arztes lebte eine ältliche Schwester desselben, welche den kleinen Peter ganz besonders in ihr Herz geschlossen hatte. – Es war eigentlich eine Range, der Junge, in einer Abendgesellschaft bei seinen Eltern hatte er uns einmal alle Sardellen von den Butterbröten weggefressen. Aber das tat der Liebe der Tante keinen Eintrag.


    Am andern Morgen, als der Doktor aus seinem Schlafzimmer trat, war sie die erste, die ihm begegnete. ›Denke dir, Karl, was mir geträumt hat!‹ – ›Nun?‹ – ›Ich hatte mich in einen Wolf verwandelt und wollte den kleinen Peter fressen; ich trabte auf allen vieren, während der Junge schreiend vor mir herlief.‹ – ›Hu! – Weißt du nicht, wieviel Uhr es gewesen?‹ – ›Es muß nach Mitternacht gewesen sein; genauer kann ich es nicht bestimmen.‹«


    – – – – – – – – – –


    »Nun, und weiter, alter Herr?«


    »Nichts weiter; damit ist die Geschichte aus.«


    »Pfui! Die Tante ist ein Werwolf gewesen!«


    »Ich kann versichern, daß sie eine vortreffliche Dame war. Aber, Klärchen, log einmal Kienäpfel auf!«


    »Ja – aber Träumen ist doch nicht Spuken –«


    »Ärgere den alten Herrn nicht! Siehst du, ich weiß besser mit ihm umzugehen. Da erscheint der Trank, bei dem der selige Hoffmann seine Serapionsgeschichten erzählte. – Setzen Sie die Bowle vor den Kamin, Martin! – Es ist auch eine halbe Flasche Maraschino dazu, alter Herr!«


    »Ich küsse Ihnen die Hand, gnädige Frau.«


    »Das verstehen Sie ja gar nicht!«


    »Ich kann das eigentlich nicht bestreiten. In meiner Heimat tut man nicht dergleichen; indessen, ich beginne wenigstens schon davon zu reden.«


    »Trinken Sie lieber einmal! – Klärchen, damit du was zu tun hast, schenk einmal die Gläser voll!«



    Liebe Grüße Peter

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  • »Ich weiß nicht, meine Damen, ob Sie jemals durch die Marsch gefahren sind! Im Herbst und bei Regenwetter will ich es Ihnen nicht gewünscht haben; in trockner Sommerzeit aber kann es keinen besseren Weg geben, der feine graue Ton, aus welchem der Boden besteht, ist dann fest und eben, und der Wagen geht sanft und leicht darüber hin. Vor einigen Jahren führten mich Geschäfte nach der kleinen Stadt T. im nördlichen Schleswig, welche mitten in der nach ihr benannten Marsch liegt. Am Abend war ich in der Familie des dortigen Landschreibers. Nach dem Essen, als die Zigarren angezündet waren, gerieten wir unversehens in die Spukgeschichten, was dort eben nicht schwer ist; denn die alte Stadt ist ein wahres Gespensternest und noch voll von Heidenglauben. Nicht allein, daß allezeit ein Storch auf dem Kirchturm steht, wenn ein Ratsherr sterben soll; es geht auch nachts ein altes glasäugiges dreibeiniges Pferd durch die Straßen, und wo es stehenbleibt und in die Fenster guckt, wird bald ein Sarg herausgetragen. »De Hel« nennen es die Leute, ohne zu ahnen, daß es das Roß ihrer alten Todesgöttin ist, welche selbst zugunsten des Klapperbeins seit lange den Dienst hat quittieren müssen. Von den mancherlei derartigen Gesprächen und Erzählungen jenes Abends ist mir indessen nur eine einfache Geschichte im Gedächtnis geblieben.


    »Es war vor etwa zehn Jahren« – so erzählte unser Wirt –, »als ich mit einem jungen Kaufmann und einigen anderen Bekannten eine Lustfahrt nach einem Hofe machte, welcher dem Vater des ersteren gehörte und durch einen sogenannten Hofmann verwaltet wurde. Es war das schönste Sommerwetter; das Gras auf den Fennen funkelte nur so in der Sonne, und die Stare mit ihrem lustigen Geschrei flogen in ganzen Scharen zwischen dem weidenden Vieh umher. Die Gesellschaft im Wagen, der sanft über den ebenen Marschweg dahinrollte, befand sich in der heitersten Laune; niemand mehr als unser junger kaufmännischer Freund. Plötzlich aber, als wir eben an einem blühenden Rapsfelde vorüberfuhren, verstummte er mitten im lebhaftesten Gespräch, und seine Augen nahmen einen so seltsamen glasigen Ausdruck an, wie ich ihn nie zuvor an einem lebenden Menschen gesehen hatte. Ich, der ich ihm gegenübersaß, ergriff seinen Arm und schüttelte ihn. ›Fritz, Fritz, was fehlt dir?‹ fragte ich. Er atmete tief auf; dann sagte er, ohne mich anzusehen: ›Das war mal eine schlimme Stelle!‹- ›Eine schlimme Stelle? Es geht ja wie auf der Diele!‹ – ›Ja‹, entgegnete er, noch immer wie im Traum, ›es war doch nicht gut darüber wegzukommen.‹ – Allmählich ermunterte er sich, und sein Gesicht erhielt wieder Leben und Ausdruck; aber er wußte auf unsre Fragen keine andre Antwort zu geben. Dieses kleine Ereignis, was allerdings für den Augenblick die Stimmung etwas herabdrückte, war indessen, nachdem wir den Hof erreicht hatten, durch die Heiterkeit der Umgebung und unsre eigne Jugend bald vergessen. Wir ließen uns durch die alte Wirtschafterin den Kaffee in der Gartenlaube anrichten, wir gingen auf die Fennen, um die Ochsen zu besehen, und nachdem abends die mitgebrachten Flaschen in Gesellschaft des alten Hofmannes geleert waren, fuhren wir alle vergnügt, wie wir ausgefahren waren, wieder heim.


    Acht Tage später war unser Freund des Nachmittags im Auftrage seines Vaters nach dem Hofe hinausgeritten. Am Abend kam sein Pferd allein zurück. Der alte Herr, der eben aus seinem L'hombre-Klub nach Hause gekommen war, machte sich sogleich mit allen seinen Leuten auf, um nach seinem einzigen Sohn zu suchen. Als sie mit ihren Handlaternen an jenes blühende Rapsfeld kamen, fanden sie ihn tot am Wege liegen. Was die Ursache seines Todes gewesen, vermag ich nicht mehr anzugeben.««






    Liebe Grüße Peter

  • Und geht es noch so rüstig
    Hin über Stein und Steg,
    Es ist eine Stelle im Wege,
    Du kommst darüber nicht weg.


    »Aha! Unser poetischer Freund improvisiert.«


    »Das nicht, Herr Assessor; der Vers ist schon gedruckt. Aber Klärchen scheint wieder mit meiner Geschichte nicht zufrieden zu sein; sie rührt mir gar zu ungeduldig in der Bowle.«


    »Ich? – Da hast du ein Glas Punsch! – Ich sage schon gar nichts mehr.«


    »Nun, so höre!«


    »Mein Barbier – von dem hab ich diese Geschichte – ist der Sohn eines Tuchmachers. Als der Vater noch jung war, kam er eines Abends auf seiner Gesellenwanderung in eine kleine schlesische Stadt. Auf der Herberge erfuhr er, daß er bei einem der ältesten Meister in Arbeit treten könne. – »Will nur hoffen, daß es mit dir Bestand haben wird«, setzte der Herbergswirt hinzu. – »Mit Gunst, Herr Vater«, entgegnete der Gesell, »traut Ihr mir nicht, oder fehlt's da wo im Hause bei den Meistersleuten?« – Der Wirt schüttelte den Kopf. – »Was denn aber, Herr Vater?« – »Es ist nur«, sagte der Alte, »seit die da drei Gesellen haben wollen, ist der dritte nach Monatsfrist allzeit wieder fremd geworden.«


    Unser Geselle ließ sich das nicht anfechten, sondern ging noch an demselben Abend zu seinem neuen Meister. Er fand ein paar alte Leute, die ihn freundlich ansprachen, und zur Stärkung nach der Wanderung ein solides bürgerliches Abendbrot. Als es Schlafenszeit war, führte der Meister ihn selbst durch einen langen Gang des Hintergebäudes in das obere Stockwerk und wies ihm dort seine Schlafkammer an. Der Gelaß für die beiden andern Gesellen befinde sich unten; es sei aber darin nicht Platz für ein drittes Bett.


    Als der Meister ihm gute Nacht gewünscht, stand der junge Mann noch einen Augenblick und horchte, wie sich die Schritte des Alten über die Treppe hinab entfernten und dann unten in dem langen Gange allmählich verloren. Hierauf besah er sich sein neues Quartier. – Es war eine lange, äußerst schmale Kammer mit kahlen weißen Wänden; unten, die ganze Breite der Querwand einnehmend, stand das Bett; daneben ein kleiner Tisch und ein kleiner Stuhl aus Föhrenholz; das war die ganze Ausstattung. Das einzige, sehr hohe Fenster mit kleinen, in Blei gefaßten Scheiben schien, soviel er bei dem Mondschein draußen erkennen konnte, nach einem großen Garten hinaus zu liegen. – Aber er hatte das alles mit schon träumenden Augen angesehen, und nachdem er sich unter das derbe Deckbett gestreckt und das Licht ausgelöscht hatte, fiel er bald in einen tiefen Schlaf.


    Wie lange derselbe gedauert, konnte er später nicht angeben; er wußte nur, daß er durch ein Geräusch, das mit ihm in der Kammer war, auf eine jähe Art erweckt worden sei. Und bald hörte er deutlich ein Kehren wie mit einem scharfen Reisbesen, das von der Richtung des Fensters her allmählich sich nach der Tiefe der Kammer zu bewegte. Er richtete sich auf und blickte mit aufgerissenen Augen vor sich hin; die Kammer war fast hell vom Mondschein; die eine Wand war ganz davon beleuchtet; aber er vermochte nichts zu sehen als den völlig leeren Raum.


    Plötzlich, und ehe es noch ganz in seine Nähe gekommen, war alles wieder still. Er horchte noch eine Weile und suchte sich vergebens einen Vers darauf zu machen; endlich, ermüdet wie er war, fiel er aufs neue in einen festen Schlaf.


    Am andern Morgen, als zwischen ihm und dem Meister die Sache zur Sprache kam, erfuhr er von diesem, daß allerdings einzelne, welche vor ihm in der Kammer geschlafen, ein Ähnliches dort gehört haben wollten; es sei indes immer nur zur Zeit des Vollmonds gewesen und übrigens niemandem etwas dadurch zu nahe geschehen. – Der junge Tuchmacher ließ sich beruhigen; und in den Nächten, die nun folgten, wurde auch sein Schlaf durch nichts gestört. Dabei ging ihm im Hause alles nach Wunsch; Arbeit und Verdienst war regulär, und auch mit seinen beiden Nebengesellen hatte er sich auf guten Fuß gestellt.


    So ging ein Tag nach dem andern hin, bis endlich wieder die Zeit des Vollmonds herangekommen war. Aber er hatte nicht darauf geachtet, denn es war schwere, bedeckte Luft, und kein Schein fiel in die Kammer, als er sich am Abend schlafen legte. – Da plötzlich erweckte ihn wieder jener schon halbvergessene Ton. Eifriger noch und schärfer, so dünkte es ihn, als das erstemal kehrte und fegte es bei ihm in der Kammer, und seltsamerweise, jetzt, wo es fast dunkel war, meinte er gegen das Fenster hin einen sich bewegenden Schatten zu sehen. Aber, wie zuerst, wurde auch jetzt nach einer Weile alles wieder still, ohne daß es sein Bett erreicht oder daß er etwas Genaueres zu erkennen vermocht hätte. Er konnte indessen diesmal den Schlaf so bald nicht wiederfinden und hörte vom Kirchturm eine Stunde nach der andern schlagen; endlich brach draußen der Mond durch die Wolken und schien in die Kammer, aber er beleuchtete nur die nackten Wände.


    Der Gesell, so wenig angenehm ihm diese Dinge waren, beschloß bei sich, gegen jedermann zu schweigen, am wenigsten aber sich von jenem Unheimlichen vom Platze verdrängen zu lassen. – Wie gewöhnlich gingen auch die nun folgenden Nächte ohne Störung vorüber. – Nach Verlauf eines Monats kehrte er spät in der Nacht von einem benachbarten Orte zurück, wohin ihn sein Meister mit einem Geschäftsauftrage gesandt hatte. Er ging, als die Stadt erreicht war, nicht durch die Straßen, sondern an der Stadtmauer entlang, um durch den Garten in das Hinterhaus zu gelangen, wozu er den Schlüssel von seinem Meister erhalten hatte. Es war heller Mondschein. Schon in der Nähe des Hauses, während er zwischen den Rabatten auf dem geraden Steige des Gartens entlangging, warf er zufällig einen Blick nach dem Fenster seiner Kammer hinauf. – Da saß oben ein Ding, ungestaltig und molkig, und guckte durch die Scheiben in den Garten hinab.


    Der junge Mann verlor plötzlich die Lust, mit solcher Gesellschaft noch länger in Quartier zu liegen. Er kehrte um und suchte sich für diese Nacht ein Unterkommen in der Herberge. Am andern Morgen aber – so erzählte mir sein Sohn – nahm er seinen Abschied und verließ die Stadt, ohne jemals erfahren zu haben, womit er so lange in einer Kammer gehaust habe.«




    Liebe Grüße Peter

  • »Kann ich mir auch nichts bei denken.«

    »Geht mir ebenso, alter Herr.«


    »Ich dächte doch, das wäre eine echte rechte Spukgeschichte; oder was fehlt denn noch daran?«


    »Sie hat keine Pointe.«


    »So? – – Aber ein Teil dieser Geschichten tritt eben mit dem Reiz des Rätsels an uns heran und drängt uns, den Dingen nachzuspüren, die, wenngleich selber längst vergangen, noch solche Schatten aus dem leeren Raume fallen lassen.«


    »Nun, und Ihre Geschichte?«


    »Will ich ganz dem Scharfsinn der Damen überlassen und Ihnen lieber etwas anderes erzählen, wo ein solcher Zusammenhang sich von selbst ergibt, indem der Reflex der Begebenheit mit dieser selbst scheinbar in einen Moment zusammenfällt.«


    »Auf dem Gymnasium zu H. hatte ich einen Schulkameraden, einen fleißigen und geschickten Menschen, mit welchem ich, da er in meiner Nachbarschaft wohnte, in fast täglichem Verkehr lebte. Als er eben in Sekunda eingetreten war, starb der Vater, welcher ein kleines städtisches Amt bekleidet hatte, und hinterließ Sohn und Witwe in den bedrängtesten Umständen. – Mit Hülfe von Stipendien, deren es dort viele gab, hätte mein Freund dessenungeachtet wohl seinen Plan, die Rechte zu studieren, durchführen können; aber der lebhafte Wunsch, schon jetzt etwas zu verdienen und dadurch die letzten Jahre seiner alternden Mutter zu erleichtern, veranlaßte ihn, vom Gymnasium abzugehen und auf dem dortigen Amtshause als Lohnschreiber einzutreten. Unser Umgang wurde dadurch nicht unterbrochen; wir machten wie sonst des Mittags unsern gemeinschaftlichen Spaziergang, und abends, wenn er aus seiner Kanzlei nach Hause gekommen war, saßen wir in dem von ihm und seiner Mutter gemeinschaftlich bewohnten Zimmer und nahmen miteinander die Lektionen durch, welche am folgenden Tage in der Schule vorkommen sollten; denn er hatte seine Lebenspläne keineswegs gänzlich aufgegeben, und wo der Abend nicht reichte, nahm er unbedenklich die Nacht zu Hülfe. So habe ich manche Stunde dort verbracht in gemeinsamer Arbeit oder in gemütlichem Gespräch. Die Mutter pflegte mit ihrem Strickzeug neben uns vor der kleinen Lampe zu sitzen. Ich sehe noch das stille, etwas kränkliche Gesicht, wenn sie mitunter von der Arbeit aufblickte und mit einem Ausdruck der Sorge und der zärtlichsten Verehrung die Augen auf ihrem einzigen Kinde ruhen ließ. Er nahm dann wohl, wenn er es bemerkte, ihre blasse Hand und hielt sie fest in der seinigen, während er in dem vor ihm liegenden Buche weiterlas. Aber es ging dann nicht wie sonst, es war, als wenn die Zärtlichkeit für seine Mutter ihm die Gedanken zerstreute, und ich erinnere mich noch, wie ihm bei solchem Anlaß plötzlich die Tränen aus den Augen sprangen und er dann mit einem Lächeln und einem kurzen Blick auf sie ihre Hand sanft in ihren Schoß zurücklegte. Es war eine Luft des Friedens und der Stille in diesem Zimmer, wie ich sie nirgend sonst empfunden habe. An der einen Wand stand ein altes dürftiges Klavier; mitunter sangen wir daran; dann legte die alte Frau ihr Strickzeug in den Schoß, und war es zufällig eine Melodie aus ihrer Jugend, so stand sie auch wohl auf und ging mit unhörbaren Schritten und leise vor sich hinsummend im Zimmer auf und ab. Wenn es aber an der Wand auf der kleinen Schwarzwälder Uhr zehn geschlagen hatte, begann sie allmählich einen unruhigen Blick auf die große dunkle Gardinenbettstelle zu werfen, die im Hintergrunde des geräumigen Zimmers stand. Dann nahmen wir unsre Bücher, sagten ihr gute Nacht und gingen eine Treppe tiefer in die kleine Schlafkammer ihres Sohnes, wo wir noch einige Stunden unsre Studien fortzusetzen pflegten. Sie mochte dann schon ruhig in dem oberen Zimmer schlummern; denn es lag nach einem inneren Hofe, wo die nächtliche Ruhe durch nichts gestört wurde.


    Aber dieses Leben mit seinem bescheidenen Glücke sollte nach einigen Jahren sein Ende erreichen. Kurz vor meinem Abgang zur Universität erkrankte die Mutter. Es war der Keim des Todes, der lange schon in ihr gelegen und nun zur Entfaltung kam; weder sie noch ihr Sohn verkannten das. Auf ihren Wunsch besuchte ich sie noch einmal, ehe ich abreiste. Das sonst so freundliche Zimmer war jetzt düster und öde, die Fenster tief verhangen, und aus den Kissen unter dem dunklen Betthimmel sah das leidende Gesicht der guten Frau. Während ihre magere Hand die meinige ergriff, sagte sie nur: »So leben Sie denn recht wohl!« Aber wir fühlten beide, daß das ein Abschied für das Leben sei.


    Was nun folgt, habe ich später aus dem Munde meines Freundes gehört; denn ich selbst verließ schon am Tage darauf die Stadt. – Er hatte sich, als die Schwäche der Mutter plötzlich in ungewöhnlicher Art zugenommen, die Erlaubnis ausgewirkt, seine Arbeiten im Hause zu fertigen, und saß nun im Krankenzimmer an dem entlegensten Fenster, von dem er ein wenig die Gardine zurückgeschlagen, bald emsig schreibend, bald einen sorglichen Blick nach den dunklen Vorhängen des Bettes hinüberwerfend. Wenn die Mutter wachte, saß er in dem alten Lehnstuhl vor ihrem Bett und sprach leise zu ihr oder las ihr aus der Bibel vor; oder er war nur bei ihr, daß ihre Augen zärtlich auf ihm ruhen konnten. Dort blieb er auch des Nachts sitzen, und wenn die Kranke im Anschauen seines blassen, überwachten Antlitzes ihn bat: »Georg, leg dich schlafen! Georg, du hältst es ja nicht aus!« oder wenn sie ihm versicherte: »Geh nur; gewiß, es hat heut nacht noch nicht Gefahr«, so faßte er nur um so fester die heiße Hand der Mutter, als müsse sie gerade jetzt, wenn er sich entfernen wollte, ihm entrissen werden.

    Eines Nachts aber, da eine Linderung der Schmerzen eingetreten war und da er sich kaum mehr aufrecht zu erhalten vermochte, hatte er sich dennoch überreden lassen. – Unten in seiner Kammer lag er unausgekleidet auf seinem Bette; traumlos, in tiefem, bleiernem Schlaf. Oben beim Schein der Nachtlampe in sanftem Schlummer hatte er die Mutter zurückgelassen. Währenddes verging die Nacht, und der Tag fing eben an zu grauen, da wurde er plötzlich wie mit sanfter Gewalt aus dem Schlaf emporgezogen. Als er aufblickte, sah er die Tür der Kammer geöffnet und eine Hand, die mit einem weißen Tuch zu ihm hereinwehte. Unwillkürlich sprang er vom Bett auf; aber er hatte sich geirrt, die Tür seiner Kammer war eingeklinkt, wie er in der Nacht sie aus der Hand gelassen. Fast ohne Gedanken ging er die Treppe zu dem Krankenzimmer hinauf. – Es war still drinnen, die Nacht lampe war herabgebrannt, und unter dem dunklen Betthimmel fand er beim trüben Schein der Dämmerung die Leiche seiner Mutter. Als er sich bückte, um die Hand der Toten an seinen Mund zu drücken, die über den Rand des Bettes herabhing, faßte er zugleich ihr weißes Schnupftuch, das sie zwischen den geschlossenen Fingern hielt.«


    – – – – – – – – – –


    »Und Ihr Freund? – Wie ist es dem ergangen?«


    »Es ist ihm gut ergangen; denn er hat nach mancher Not und schweren Arbeit seinen Lebensplan verwirklicht; und er lebt noch jetzt wie unter den Augen und in der Gegenwart seiner Mutter; ihre Liebe, die sie so ohne Rückhalt ihm im Leben gab, ist ihm ein Kapital geworden, das auch in den schwersten Stunden ihn nicht hat darben lassen.«


    »Aber Klärchen, was hältst du denn die Hände vor den Augen?«


    »Oh – mir graut nicht.«


    »Aber du weinst ja!«


    »Ich? – – Warum erzählst du auch so dumme Geschichten!«


    »Nun! So mag es denn die letzte sein; ich wüßte für heute auch nichts Besseres zu erzählen.«









    Liebe Grüße Peter

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    D. Fausti dritte Fahrt in etliche Königreich vnnd Fürstenthumb, auch fürnembste Länder vnd Stätte.


    Doct. Faustus nimpt im 16. jar ein Reyß oder Pilgramfahrt fur, vnd befihlt also seinem Geist Mephostophili, daß er jn, wohin er begerte, leyte vnd führe. Derhalben sich Mephostophiles zu einem Pferde verkehret vnnd veränderte, doch hatt er flügel wie ein Dromedari, vnd fuhr also, wohin jn D. Faustus hin ländete. Faustus durchreisete vnd durchwandelte manch Fürstenthumb, als das Landt Pannoniam, Osterreich, Germaniam, Behem, Schlesien, Sachssen, Meissen, Düringen, Franckenlandt, Schwabenlandt, Beyerlandt, Littauw, Liefflandt, Preussen, Moscowiterlandt, Frießland, Hollandt, Westphalen, Seelandt, Brabandt, Flandern, Franckreich, Hispaniam, Portugall, Welschland, Polen, Vngern, vnnd dann wider in Düringen, war 25. Tag aussen, darinnen er nit viel sehen kondte, darzu er Luft hette. Derhalben name er ein Widerfuhr, vnd ritte auff seinem Pferde auß, kam gen Trier, dann jm diese Statt erstlich einfiel zusehen, weil sie so altfränckisch anzusehen war, da er nichts sonderlichs gesehen, dann einen Pallast, wunderbarlichs Wercks, welcher auß gebacken Ziegeln gemacht, vnd so fest, daß sie keinen feind zu furchten haben. Darnach sahe er die Kirchen, darinnen Simeon vnd der Bischoff Popo begraben war, welche auß vnglaublichen grossen steinen mit Eysen zusammen gefüget, gemacht ist. Darnach wendet er sich gen Pariß in Franckreich, vnd gefielen jm die Studia vnnd hohe Schul gar wol. Was nu dem Fausto für Stätt vnd Landschafften in Sinn fielen, die durchwandert er. Als vnter andern auch Meyntz, da der Mayn in Rhein fleußt, er die Statt Neapolis, darinnen er vnsäglich viel Klöster vnd Kirchen gesehen, vnd so grosse hohe vnd herrliche gezierte Häuser, daß er sich darob verwundert, Vnnd darinnen ist ein herrlich Castell oder Burg, so new gebawet, welches für allen anderen Gebäwen in Italia den preiß hat, der höhe, dicke vnd weite halb, mit mancherley Zierd der Thürn, Gemäuwer, Palläst vnnd Schlaffkammern. Dabey ein Berg ligt, Vesunius genannt, der voller Weingärten, Oelbäum vnd etlicher andern fruchtbaren Bäume, vnd solchen Wein, den man den Griechischen Wein nennet, so herrlich vnd gut. Bald fällt jm Venedig ein, verwundert sich, daß es gerings herumb im Meer lag, da er dann alle Kauffmanschafft vnd Notturfft zur Menschlichen Vnterhaltung gesehen, dahin zu schiffen sahe, vnd wundert jn, daß in einer solchen Statt, da schier gar nichts wächßt, dennoch ein Vberfluß ist, Er sahe auch ab die weite Häuser vnd hohen Thürn vnd Zierde der Gottshäuser vnd Gebäw mitten in dem Wasser gegründet vnd auffgerichtet. Weiters kompt er Welschlandt gen Padua, die Schul da zu besichtigen. Diese Statt ist mit einer dreyfächtigen Mawer befästiget, mit mancherley Gräben, vnnd vmblauffenden Wassern, darinnen ist eine Burg vnd Veste, vnd jr Gebäw ist mancherley, da es auch hat eine schöne Thumbkirch, ein Rahthauß, welches so schöne ist, daß keines in der Welt diesem zuvergleichen seyn sol. Ein Kirche S. Anthonij genannt, ist allda, daß jres gleichen in gantz Italia nit gefunden wirt. Fürters kam er gen Rom, welche ligt bey einem Fluß Tyberis genannt, so mitten durch die Statt fleußt, vnd jenseyt der rechten Seyten, begreifst die Statt sieben Berg vmb sich, hat eilff Pforten vnd Thor, Vaticanum, ein Berg, darauff S. Peters Munster oder Thumb ist. Dabey ligt deß Bapsts pallast, welcher herrlich mit einem schönen Lustgarten vmbfangen, dabey die Kirchen Lateranensis, darinnen allerley Heylthumbs, vnd die Apostolische Kirch genannt wirt, welche auch gewiß eine köstliche vnnd berühmte Kirchen in der Welt ist. Deßgleichen sahe er viel Heydnische verworffene Tempel. Item, viel Seulen, Steigbogen, etc. welches alles zu erzehlen zu lang were, also daß D. Faustus sein Lust vnnd kurtzweil dran sahe.



    Liebe Grüße Peter