Beiträge von Glockenton

    Aus meiner Sicht stellt sich die Sache so dar:

    Die Zeiten der großen und führenden Dirigenten sind wahrscheinlich fast vorbei.


    Manche werden das feiern, andere – wie ich – werden es bedauern.


    Einen Beethoven, wie ihn Karajan, Wand, Solti, Bernstein oder Carlos Kleiber gespielt haben, wird es so wohl nicht mehr geben.

    Doch es gibt sie noch, diese fast schon vom Aussterben bedrohten großen Dirigenten – und für Beethoven ist Thielemann aus meiner Sicht der herausragende unter ihnen.

    Seine Aufnahmen der Symphonien mit den Wiener Philharmonikern gehören zu den besten, die man heute finden kann. Sie können es durchaus mit den Einspielungen der großen – nun leider bereits verstorbenen – Namen aufnehmen.


    War das schon alles? Nein, nicht ganz.


    Es gibt noch zwei Dirigenten, von denen ich immerhin die Erste von Beethoven kenne. Mir ist klar, dass das allein nicht ausreicht, um eine umfassendere Aussage über ihren Zugang zu Beethoven zu machen.

    Übrigens: Rattle, der merkwürdigerweise Haydn und Brahms vorzüglich dirigiert, macht mich bei Beethovens Symphonien nicht wirklich glücklich – auch wenn ich seine Zusammenarbeit mit Brendel bei den Klavierkonzerten natürlich sehr schätze.


    Hier also jene zwei Interpreten, deren Beethoven bei mir in die Kategorie „kann man sich gut anhören“ fällt. Ich stelle von beiden jeweils die Erste Symphonie ein:

    Christoph Eschenbach



    Jukka-Pekka Saraste



    Es ist jeweils etwas Anderes, aber es hat – wie ich finde – seine eigenen Qualitäten.

    Beim zweiten Video frage ich mich übrigens immer, was eines der Urgesteine der Berliner Philharmoniker, Klaus Stoll (Kontrabass), eigentlich im WDR-Sinfonieorchester macht(e)...


    Vielleicht weiß jemand mehr?


    Gruß:hello:

    Glockenton

    Ich habe mir diese CD neulich auf die SSD gezogen (Flac-Format):



    Zwar habe ich keinen Vergleich und im Moment auch nicht die Noten vorliegen, aber ich finde, dass hier außerordentlich geschmackvoll, engagiert, klangschön und sehr perfekt gespielt wurde.

    Die Aufnahmequalität ist für mein Dafürhalten sehr gut: klar, aber dabei immer angenehm, voll und warm. Vielleicht hätte man etwas mehr Hallinformationen hinzugeben können, aber man kann es so sehr gut hören.


    Hier ein kurzer Ausschnitt aus deren Musizieren:




    Gerade sah ich übrigens auf YouTube, dass auch Hurwitz diese Aufnahme als „stunning“ bezeichnete. Meiner Ansicht nach müsste er auch taub sein, wenn er hierzu einen Verriss verfasst hätte…


    Gruß:hello:

    Glockenton

    Hallo Helmut Hofmann,


    ich habe mir soeben einige dieser Lieder angehört - sie gefallen mir!

    Es ist immer schön, auf noch unbekannte aber gute Musik hingewiesen zu werden.


    Zum "Sonnenuntergang" fiel mir auf: Ullmann arbeitet in der Klavierbegleitung mit typischen Jazz-Voicings, eigentlich durchgehend.

    Damit meine ich nicht nur die Akkorde an sich, sondern auch wie sie "gelegt" wurden.


    Takt 5 auf Takt 6 ist ein gutes Beispiel, aber er macht es ja eigentlich immer.


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    Takt 5 auf Eins: H7 5+ 9+, ein Akkord, der gerne in funky-Jazzblueszusammenhängen verwendet wird.

    Seine Wirkung beruht neben der erhöhten Quinte auch auf der erhöhten None D, die sich dann schön an der Terz Dis reibt, allerdings trotzdem "angenehm", weil durch das auseinandergezogene Voicing die beiden Töne weit voneinander erklingen.

    Wie gesagt, es sind jazzige Anklänge, denn ich würde jetzt im Jazz-Comping die Bitonalität des Akkords etwas mehr dadurch betonen, dass ich in der rechten Hand ein G-Dur-Voicing D-G-H -D über einem H7-Voicing in der linken Hand spielte.

    Damit das funktioniert, muss man natürlich links die Quinte, also das Fis weglassen, d.h. es bliebe nur - wie bei Ullman- H, Dis und die Septime A.


    Gemeinsam mit der Melodie "löst sich" bei Ullmann der 9+ in einen 9- "auf", wobei man hier nicht von Auflösung im klassischen Sinne sprechen kann.


    Als nächster Akkord in Takt 5 folgt ein E 2/4, (und nicht etwa "platt" die dominantische Auflösung der fallenden Bassquinte, also H7 alt. nach E-Dur oder E maj7, was zu erwarten wäre) der hier aber so gelegt wurde, dass man links den Bordunklang E-H spielt, während dazu rechts ein D-Dur-Akkord in Quartsextlage hinzukommt.

    Auch hier muss man von mehrdeutigen Klängen sprechen, denn E-Dur und D-Dur erklingen hier übereinander, was allerdings nur funktioniert, wenn man die Terz von E-Dur (also das Gis) - so wie er- nicht spielt.

    Diese Technik nennt man im Jazz "Upper-Structure-Chords". Sie wurde sehr von Herbie Hancock popularisiert, z.B. mit "Maiden Voyage".

    Und wenn man in der linken Hand statt E-H das Intervall umdreht, also die Quarte H-E und den D-Dur-Akkord rechts so beibehält, erhält man wiederum das prägnante und berühmte "So what- Voicing", welches sich auf eine Komposition von Miles Davis bezieht.

    Wenn Du die Noten vorliegen hast und es am Klavier nachvollziehst, was ich hier versuchte zu beschreiben, wirst Du verstehen, was ich meine.


    Ich empfinde all das jedenfalls bei diesem Lied als ziemlich auffallend.


    Richtig ist selbstverständlich, dass Ullmann eigentlich vom Genre her ein Kunstlied schrieb, aber sich hier recht deutlicher harmonischer Jazz-Anleihen bediente.

    Das Lied an sich ist natürlich kein Jazz, schon gar kein improvisierter, aber die Harmonik ist ziemlich klar aus diesem Genre heraus zu verstehen.


    Wie gesagt, ich kenne den Komponisten leider gar nicht, aber vielleicht weißt Du mehr, ob er mit im Leben irgendwelche Jazz-Bezüge hatte?

    Falls ich es in einem Deiner vorherigen Beiträge überlesen habe, bitte ich um Nachsicht.


    Gruß:hello:

    Glockenton

    Dem Beitrag des Kollegen Klassikfan1 möchte ich mich ausdrücklich anschließen.

    Er wies uns auf folgendes YouTube-Video hin:



    Die nachfolgenden Hinweise, dass es glücklicherweise keinen Mangel an Aufnahmen dieser Sinfonie mit Günter Wand gebe, sind zwar nicht falsch, lenken aber – so mein Eindruck – ein wenig von der besonderen Qualität dieser konkreten Live-Aufnahme ab.

    Nicht durch diesen Thread, sondern durch den Zufall der YouTube-Algorithmen stieß ich kürzlich auf dieses Konzert. Eigentlich wollte ich nur kurz hineinhören – vielleicht auch, um mir erneut zu bestätigen, dass dieses Werk schlechthin am überzeugendsten in den Händen Karl Böhms aufgehoben ist (DG-Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern, Videomitschnitt mit den Wiener Philharmonikern).

    Für mich gab und gibt es eigentlich nur einen Dirigenten, der überhaupt in die Nähe dieser Allzeit-Referenz (Böhm/BPO, DG) kommen kann – und das ist Günter Wand.


    Was als kurzer Höreindruck gedacht war, mündete schließlich in ein vollständiges Miterleben des Werks. Trotz der Bildqualität, die natürlich nicht heutigen 4k-Standards entspricht, ermöglicht die im mp4-Format vorliegende Aufnahme – in Verbindung mit einem guten Kopfhörer (bei mir: Stax L300) – ein unmittelbares räumlich transparentes Konzerterlebnis.


    Es fällt mir nun nicht leicht, meine Eindrücke in eine klare Gliederung zu bringen – zu vielschichtig ist das, was mich an dieser Aufführung fasziniert.


    Einer der wichtigsten Aspekte ist für mich die spürbare, intensive Probenarbeit, die in diesem Konzert ihre reiche Frucht trägt.

    Die Partitur erwacht gewissermaßen zum Leben: Viele motivische Vorgänge laufen parallel zwischen den verschiedenen Orchestergruppen, und diese Gleichzeitigkeit wird mit einer frappierenden Transparenz und klassischer Balance hörbar gemacht.

    Wollte man die Sinfonie transkribieren, wäre dies mit Sicherheit eine Referenzaufnahme – so klar nachvollziehbar sind Struktur und Stimmverlauf.


    Was mich ebenfalls beeindruckt hat, ist die Lebendigkeit jedes Tons, jeder Phrase – da ist eine durchgehende Energie spürbar, die nie in bloße Effekthascherei umschlägt.


    Auffällig ist auch die Wandsche Sorgfalt im Umgang mit den Bläsern, besonders mit dem Blech. Deren Einsätze sind rhythmisch und klanglich so präzise, wie es Mercedes in der W123-Zeit gelang, Autos zu bauen – nämlich in selbstverständlicher Perfektion und exakt auf den Punkt.


    Trotz aller Detailversessenheit verliert Wand nie die große Linie aus dem Blick. Seinem Mantra, nicht „dem Affen Zucker zu geben“, bleibt er auch hier treu: Er verzichtet z.B. auf willkürliche poco rit.–a tempo–Spielereien und vertraut stattdessen auf eine nachvollziehbare innere Logik und musikalische Stringenz. Man spürt, dass es ihm darum geht, das Publikum durch ein inneres Erleben zu gewinnen – nicht durch "billige" Äußerlichkeiten.


    Überhaupt ist Wands Dirigat für mich ungewöhnlich „lesbar“: In mindestens 90 % der musikalischen Situationen verstehe ich unmittelbar, was er will. Keine Geste oder Pose ist überflüssig – er gibt dem Orchester exakt das, was es braucht, um seiner inneren Idealvorstellung möglichst nahe zu kommen.


    Man spürt auch die Bereitschaft des Orchesters, wirklich alles zu geben. Wenn ich mich recht erinnere, verhinderte Karajan zu Lebzeiten, dass Wand die Berliner Philharmoniker als Gast dirigieren durfte – vielleicht ein zusätzlicher Ansporn für das NDR-Sinfonieorchester, sich hier in „Karajans Berliner Arena“ (1985!) mit einem künstlerischen Statement zu präsentieren. Und in der Tat: Unter Wands Leitung erreicht das Orchester hier ein Niveau, das nicht nur in die Nähe von Eliteensembles wie dem BPO oder VPO kommt, sondern diese in mancher Hinsicht sogar auf eigene Weise „übertreffen“ könnte.


    Meinem Eindruck nach konnten nämlich Karajan und die Berliner Philharmoniker -bei aller Qualität- diesen Interpretation Wands nicht gleichkommen. Allerdings bezieht sich das nur auf mir bekannte Aufnahmen Karajans, den ich ja live leider nie erleben durfte.


    Manche Kritiker bzw. Musikfreunde sind ja der Auffassung, dass gewisse Aufnahmen mit dem NDR-Sinfonieorchester (Schubert, Bruckner) den speziellen Interpretationsansatz Günter Wands noch idealer zur Geltung bringen als spätere Mitschnitte mit den Berliner Philharmonikern. Ich möchte mich dem nicht direkt anschließen, verstehe aber, was gemeint ist: Die Berliner klingen etwas milder, runder, voller – während bei den Rundfunkorchestern eher eine gewisse „knackige Transparenz“ dominiert, wenn ich es einmal so nennen darf. Ich bin jedenfalls froh, dass wir als Hörer die Wahl zwischen beiden Ansätzen haben.


    Dieses Konzert kann ich jedenfalls sehr zur eigenen Anschauung empfehlen. Mir hat es große Freude gemacht, diese Musik wieder einmal auf mich wirken zu lassen.


    Gruß:hello:
    Glockenton

    Da ich gerade etwas Zeit habe, konnte ich in einige der neueren Aufnahmen über TIDAL hineinhören.

    Die Einspielung des Freiburger Barockorchesters hörte ich – wie Alfred – anhand der JPC-Schnipsel.


    Ich bin doch erstaunt, dass es bis heute keine neuere Interpretation dieses Jugendwerks gibt, die mir wirklich gefällt. Ohne kritische Anmerkungen schafft das nach wie vor bei mir nur Kubelik.

    Hier wird feurig-belebt musiziert, mit klassischer Deutlichkeit und klanglicher Balance. Auch die Wahl der Tempi ist für mein Empfinden ausnahmslos geglückt.

    Apropos Glück: Ein Glücksfall war die Mitwirkung von Edith Mathis – was ich ja auch schon vor einigen Jahren so schrieb.


    Was nun die Versuche von Barockorchestern anbelangt, sich jetzt auch noch über Mendelssohn herzumachen: Ich versuche, ihnen eine ehrlich gemeinte Absicht zu unterstellen – und meine auch, das zu hören.

    Doch spätestens wenn die Streicher mit ihrem angeblich historisch korrekten Non-Vibrato einsetzen, drehe ich mich innerlich mit Grauen auf dem Absatz um.

    Gerne räume ich ein, dass die historischen Blasinstrumente ihren aparten Reiz haben und klanglich gut miteinander verschmelzen.

    Das zeigt sich etwa auch in Herreweghes schöner Einspielung der „Gran Partita“ von Mozart.


    Andererseits passen auch die modernen Instrumente hervorragend zueinander – und die oft gescholtene „moderne“ Querflöte vermag sich auf jeden Fall gegen ein vollbesetztes modernes Symphonieorchester durchzusetzen.


    Fazit: Für mich liegt auf einer so hervorragenden Aufnahme wie derjenigen mit Raphael Kubelik (übrigens live) kein Staubkorn.

    Da muss auch nichts „durchgepustet“ oder „entstaubt“ werden.

    Diese Versuche, sich dieser Musik in der Manier mancher Barockorchester und HIP-Dirigenten zu nähern, geraten meines Erachtens gefährlich in den Bereich von … nun ja, lassen wir das – ich möchte niemandem auf die Füße treten.


    Wie ich hörte, bleibt mittlerweile selbst Bruckner nicht mehr vor solchen „Entschlackungsmaßnahmen“ verschont.

    Wagner war für ihn bekanntermaßen eine Art musikalischer Gottheit – warum also nicht gleich den „Ring“ mit Darmsaiten und OVPP-Besetzung aufführen?

    Es klänge gewiss „wundervoll transparent“ und „entstaubt“. Vielleicht findet sich ja auch jemand, der dazu auf einer Theorbe ein Basso continuo improvisiert...? ;)^^


    Ach nein, im Ernst, es soll ja jeder hören, was er möchte. Und ich bin mir sicher, dass der eine oder andere fanatische Anhänger der klassisch-romantischen HIP-Revolution jemandem wie mir – mit meiner Kubelik-Vorliebe – auch das ein oder andere attestieren würden.

    Kann man da noch weitersprechen? Wohl kaum.


    Da könnten sich in den USA vermutlich eher MAGAs und Demokraten links von Bernie Sanders auf einen Konsens einigen …

    Deshalb gebe ich diesen Beitrag schlicht als Gedankenanstoß für interessierte Mitleser zu Protokoll – verbunden mit der gut gemeinten Empfehlung, sich die Kubelik-Aufnahme


    Anmerkung moderato in seiner Funktion als Moderator. Die UPC/EAN Nummer bringt bei nicht mehr erhältlichen Aufnahmen keine Verlinkung. Es in der URL-Adresse, die befindet sich ganz oben, die siebenstellige Zahl am Ende ganz rechts muss eingefügt werden.


    UPC/EAN 0028945938127



    wenigstens einmal anzuhören oder zu streamen.


    An einer weiteren Disputen hierzu möchte ich mich lieber nicht beteiligen – denn es ist müßig, solche alten Schlachten wieder aufzuwärmen.


    Gruß:hello:

    Glockenton

    Durch Zufall bin ich soeben auf einen Ausschnitt aus dem ersten Satz dieser Symphonie mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Riccardo Muti gestoßen:


    https://www.youtube.com/watch?v=jVzCp3fbH_M


    Muti zählte bislang eher nicht zu den Dirigenten, mit denen ich mich besonders intensiv beschäftigt habe – aber dieser Mitschnitt hat mich sehr positiv überrascht.

    Ich habe mir die entsprechenden Stellen im Vergleich mit meinen persönlichen Referenzeinspielungen angehört – jeweils mit den Berliner Philharmonikern, wobei wohl kaum noch ein Musiker aus der ersten Aufnahme von 1963 mitwirken dürfte:


    – Karajan (1963, DG)


    – Abbado (DG)


    – Rattle (EMI)


    Für diejenigen, denen Karajans charakteristischer „Klangzug nach vorne“ weniger liegt, bieten Abbado, Rattle und eben auch Muti überzeugende Alternativen – ohne dass man auf das herrlich satte Brahms-Klangbild des Orchesters verzichten müsste.

    Beeindruckend, wie stark gewisse Klangideale der Berliner Philharmoniker bis heute in Brahms-Aufführungen nachwirken – auch wenn das Orchester längst aus neuen, mir vielfach unbekannten Gesichtern besteht.


    Natürlich wurde das absolut ausbalancierte Ineinandergleiten der Orchesterfarben bei Karajan am konsequentesten kultiviert – aber auch Muti gestaltet vieles mit großer Sorgfalt und klanglicher Sensibilität.

    Nebenbei bemerkt: Ich bevorzuge Karajans Aufnahme von 1963 gegenüber den späteren, die ich jedoch ebenfalls schätze.


    Bei Muti fällt auf, dass längere Töne hier und da im Vergleich zu Karajan ein leichtes dynamisches „Zurückfedern“ erfahren, wodurch der Vorwärtsdruck im Gesamtklang etwas gemildert erscheint.

    Im Gegenzug entstehen reizvolle dialogische Episoden zwischen den einzelnen Klanggruppen.


    Die Aufnahmetechnik kann überzeugen: warm und voll, zugleich luftig und transparent. Man darf vermuten, dass auch der Saal einen entscheidenden Anteil daran hat.


    Es ist auffällig: Der typische Klang der Berliner Philharmoniker scheint oft besonders gut eingefangen zu sein in Aufnahmen, die nicht in der Berliner Philharmonie entstanden.

    Neben der bekannten Jesus-Christus-Kirche fällt mir dazu auch der Goldene Saal des Wiener Musikvereins ein (Brahms Requiem/Abbado) – und eben der Große Saal des Teatro alla Scala in Mailand, in dem diese Aufnahme offenbar entstand.


    Ich überlege nun ernsthaft, ob ich nicht doch die Digital Concert Hall abonniere. Sie kostet zwar Geld – aber das Archiv scheint einiges zu bieten.


    Gruß:hello:

    Glockenton

    In einem Interview über den Tod des großen Pianisten Alfred Brendel äußerte sich die ebenfalls in „seinem Repertoire“ beheimatete und zu Recht hoch angesehene Mitsuko Uchida kürzlich in freier Rede wie folgt:


    „He meant a hell of a lot to us all. He was different from the start. He was a great musician. And what does that mean? The emotional commitment to music was so strong. And very opinionated! Oh, that is also important, but also with a certain edge of grotesqueness, liking the grotesque. That was very special in Alfred. But that emotional commitment was so strong. The other half of his total characteristic is intellectualism. And he was THE intellectual musician.“


    Meine deutsche Übersetzung:


    „Er bedeutete uns allen unglaublich viel. Er war von Anfang an anders. Er war ein großer Musiker. Und was heißt das? Die emotionale Hingabe an die Musik war so stark. Und er hatte starke Meinungen! Oh, das ist auch wichtig – aber dazu kam eine gewisse Vorliebe für das Groteske, ein Hang zum Grotesken. Das war bei Alfred etwas ganz Besonderes. Aber diese emotionale Hingabe war so stark. Die andere Hälfte seines gesamten Wesens war Intellektualität. Und er war DER intellektuelle Musiker.“


    Leider bricht das Reel an dieser Stelle ab – es handelt sich um einen Ausschnitt aus einem Interview Uchidas auf BBC Radio 3.


    Aber ich finde, dass sie hier bereits Wesentliches über Brendel gesagt hat.


    Mir liegt außerdem ein anderes Zitat von Brendel selbst vor, aus dem Buch Über Musik – Sämtliche Essays und Reden, hier in der englischen Fassung, einleitend zu seinen Betrachtungen über Beethovens Sonaten:


    „I should say at the outset that the remarks that follow are those of a practical musician, and they apply first and foremost to practical performance. Further, although I find it necessary and refreshing to think about music, I am always conscious of the fact that feeling must remain the alpha and omega of a musician; therefore my remarks proceed from feeling and return to it.“


    Meine deutsche Übersetzung:


    „Ich sollte zu Beginn sagen, dass die folgenden Anmerkungen die eines praktischen Musikers sind und sich in erster Linie auf die praktische Aufführung beziehen. Darüber hinaus finde ich es zwar notwendig und belebend, über Musik nachzudenken – aber ich bin mir stets bewusst, dass das Gefühl das Alpha und Omega eines Musikers bleiben muss. Daher gehen meine Überlegungen vom Gefühl aus – und kehren zu ihm zurück.“


    Ich meine, dass man diesen Ansatz, den ich sehr schätze, bei Brendel auch hören kann.


    Eine kleine Anmerkung in eigener Sache, aus gegebenem Anlass:


    „I am always conscious of the fact that feeling must remain the alpha and omega of a musician; therefore my remarks proceed from feeling and return to it.“


    Diese Haltung empfinde ich als mir sehr nahe – nicht nur im Rahmen meiner Möglichkeiten in der musikalischen Praxis, sondern auch dann, wenn ich hier im Forum eine Aufnahme empfehle oder kommentiere. In Diskussionen über Interpretationen wird ja manchmal versucht, auf Emotionen fußende Musizierhaltungen durch scheinbar objektive Argumente regelrecht zu entwerten oder aus dem Feld zu schlagen.

    Brendel stand einer solchen Geisteshaltung offenbar entgegen – als denkender Musiker, der aber stets vom inneren Empfinden ausgeht und dorthin zurückkehrt.


    Nun möchte ich mich gewiss nicht mit Brendel vergleichen – höchstens in dem einen Punkt, dass wir beide Berufsmusiker sind (oder waren), die zur Ausübung ihres Berufs auf Tasten angewiesen sind...

    Aber ich kann aus eigener Erfahrung sagen: Wer aus der praktisch-musikalischen Arbeit kommt und über Musik schreiben möchte, wird sich kaum einem anderen Ansatz anschließen können als dem Brendelschen – from feeling and back to it.

    Nur aus dieser Perspektive kann ich versuchen, Interpretationen in ihrer Tiefe zu erfassen – und ihnen in meiner Bewertung möglichst gerecht zu werden. Dabei ist mir sehr bewusst, dass es letztlich nur bei einem Versuch bleiben kann, denn es ist ja – wie Barenboim zurecht ausführte – eigentlich unmöglich, über Musik überhaupt zu sprechen:


    "Über Musik lässt sich nur schwer Worte machen. Und wenn wir es versuchten, würden wir unsere Perspektiven und Möglichkeiten, die Weite des Denkens, einschränken."


    Brendel hat diese oben aufgeführten Seiten – die emotionale Tiefe des Ausdrucks und die geistige Durchdringung – auf nahezu ideale Weise miteinander verbunden.

    Viele seiner Aufnahmen bezeugen das. Sie werden ihn über seinen Tod hinaus lebendig erhalten – vor allem bei jenen, die in der Musik letztendlich noch mehr als analytisch nachvollziehbare Überzeugungen suchen, sondern, ganz im Schubertschen Sinne, eine bessere Welt. Ich habe den Eindruck, dass Brendels reflektiertes Musizieren das emotionale Erleben beim Hören sogar vertieft hat.

    Eben gerade dieser Gleichklang von innerer Anteilnahme und tiefer Reflexion verbindet ihn für mich auch mit Dietrich Fischer-Dieskau, mit dem er viele exemplarische Aufnahmen gemacht und Konzerte gegeben hat.


    Gruß:hello:

    Glockenton

    Brendel hat mich sicherlich mehr geprägt als viele andere, ebenso berühmte - oder gar berühmtere - Pianisten.

    Einer seiner Fernsehaufnahmen verdanke ich eine echte Liszt-Erweckung. Untermauert wurde dies von seinen klugen Gedanken zu Liszt in "Nachdenken über Musik".

    Natürlich: Schubert.


    Es bleibt sehr viel von ihm.

    Dem kann ich mich nur in großer Dankbarkeit anschließen.


    Für mich gab es im Leben eigentlich keinen prägenderen Pianisten – keinen, den ich als so vorbildhaft empfand.

    Ähnlich wie dem Leiermann erging es auch mir: Eine Fernsehsendung über Liszts Années de pèlerinage. Deuxième année: Italie wurde für mich zur echten Liszt-Erweckung.

    Dafür bin ich ihm bis heute dankbar.


    Auch zu Schubert kam ich als Jugendlicher durch ihn – sowohl durch seine Solointerpretationen als auch durch die Liedaufnahmen mit Dietrich Fischer-Dieskau.


    Und dann gibt es da diese eine kostbare Bach-Aufnahme, die für mich bis heute die Lieblings-CD ist, wenn es um Bach auf dem modernen Flügel geht.


    Ich hatte das große Glück, ihn einmal live in Oslo zu erleben – in der ersten Reihe, direkt auf Höhe des Flügels. Das werde ich nie vergessen.


    Brendel verband reife, tiefgehende Reflexion über Musik mit hochsensibler Musikalität, großem Gestaltungswillen und einer Klaviertechnik, die nie zur Schau gestellt wurde, sondern sich ganz in den Dienst der Musik stellte.


    Ja, es ist merkwürdig: Auch ich habe erst vor kurzem dieses wunderbare Video gesehen, in dem er Klavierunterricht in seinem Zuhause gibt.

    Ich bin jetzt tatsächlich betroffen.


    Ruhen Sie in Frieden, Maestro Brendel.


    Glockenton

    Da müsste ich auf eine vermutlich sehr lange Suche gehen. Wenn ich mich nicht irre, war es ein YouTube-Video mit einer Wand-Dokumentation. Er probte die Fünfte von Beethoven und erklärte dem Orchester eben diese sich aus der Partitur ergebene Gestalt des Anfangs der Symphonie. Ich muss nun zum Üben fahren. Sehe mir nach, dass ich jetzt nicht suchen kann. Weil ich es aufschlussreich fand, habe ich mir diese Aussagen gemerkt - es ist schon Jahre her.


    Gruß:hello:

    Glockenton

    Lieber Holger,


    Alfred schrieb vor Jahren sinngemäß, dass der Dialog zwischen Musikliebhabern und Musikern schwierig sei – ab einem gewissen Punkt vielleicht gar unmöglich. Ich beginne zu verstehen, was er meinte.


    Ich habe versucht, von Deiner Ebene der musikwissenschaftlichen Sekundärliteratur auf das Terrain der Musik selbst zu wechseln – dort, wo ich mich beheimatet fühle: bei Partitur, Taktzahlen, Klangbeispielen.

    Du hingegen machst, was Du immer machst: Du weichst der konkreten musikalischen Diskussion eher aus und stapelst stattdessen weitere Bücher auf unseren virtuellen Tisch – vielleicht sogar in der Hoffnung, dass ich sie nicht kenne?

    Ziel scheint es jedenfalls zu sein, mir (und gleich mit Karajan, Wand, Kleiber und anderen) ein „ästhetisches Missverständnis“ nachzuweisen. Ich gestehe: In deren Gesellschaft fühle ich mich ganz wohl...


    Du wirfst mir vor, nicht auf Deine Beispiele einzugehen – dabei hast Du selbst das Angebot, mit der Partitur in der Hand und dem Rattle-Video vor Augen meine Ausführungen nachzuvollziehen, erkennbar nicht wahrgenommen. Falls doch, lässt Du es unerwähnt. Vielleicht, weil gerade diese Beispiele die Richtigkeit meiner Auffassung unterstreichen:


    Glockenton:

    „Zurück zu Brahms. Er will, nach meinem Verständnis, hier gar nicht anklopfen. Er grummelt, brodelt, bebt. Das ist kein gerichtsvollziehender Beamter (kurz vor der Pension) der vor einer verschlossenen Tür schimpft, sondern ein seelischer Vulkan, kurz vorm Ausbruch. Karajan z. B. zeigt das in seinen besten Aufnahmen (Tokyo) mustergültig."


    Die Hinweise zu Takt 312 im YouTube-Video (siehe oben) illustrieren eindeutig die Passagen aus der Partitur, die ich meine. Es war als eine konkrete Beschreibung einer konkreten musikalischen Situation zu verstehen, nicht als eine allgemeine Charakterisierung des ersten Satzes.


    Deine Exkurse in die Klaviermusik von Brahms nehme ich gern zur Kenntnis – da sind sehr schöne Stücke und wirklich gute Aufnahmen darunter, und ich habe das gerne gehört.

    Aber daraus ein ästhetisches Fehlurteil bei Karajan zu konstruieren, wirkt dann doch eher wie ein rhetorisches Drahtseilkunststück als wie eine nachvollziehbare Argumentation.

    Noch weiter hergeholt erscheint mir der Versuch, anhand von sich unterscheidenden Interpretationen der Fünften von Beethoven zu belegen, dass die langsame Einleitung bei Brahms vor allem und nahezu einzig in Sanderlings langsamen Tempo ihre Rechtfertigung finde.


    Man stelle sich nur vor, Du hättest Karajan in der Probenpause zu Brahms’ Erster Folgendes gesagt:


    „Weil die Fünfte von Beethoven langsam und schicksalshaft zu spielen ist, und weil Claudio Arrau ein Brahms-Stück mit ähnlichem Motiv so und so interpretiert hat, ist Sanderlings Deutung richtig – während Sie, lieber Maestro, sowohl bei Beethoven als auch bei Brahms völlig auf dem Holzweg sind. Übrigens schreibt auch Geck das so, unter Berufung auf Egon Voss.“


    Du merkst hoffentlich selbst, wie bemüht diese Kausalkette wirkt. Interpretation darf und muss aus der Musik selbst erwachsen – nicht aus einem sich im Regal befindenden Textapparat, der auf alles eine Antwort zu wissen glaubt.

    Klar ist auch: Karajan hätte Dich spätestens daraufhin aus dem Raum entfernen lassen.... (so wie ich ihn aus den Beschreibungen von Zeitzeugen "kenne") .... ;)


    Ich danke „Leiermann“ für seine sachliche, verdichtende Einordnung – wohltuend nüchtern und klar.


    Und wenn Du, lieber Holger, schreibst:

    Noch einmal, auch Du hast nicht verstanden, was ein "Wirkungszusammenhang" im hermeneutischen Sinne ist.

    ...dann wird immerhin deutlich: Einer hat es verstanden. Und dieser Eine bleibt im Recht. Na dann ist ja alles gut 8) und unsere Welt ist in Ordnung.


    Du behauptest:

    Dass Brahms dieses Motiv als Schicksalsmotiv verstanden hat, ist aus dem Wirkungszusammenhang eindeutig

    Eindeutig ist nur: Brahms zitiert eben jenes Motiv. Sonst nichts.

    Tatsächlich zitiert er es an einer Stelle sogar auf eine Weise „melodisch korrekt“, allerdings gespiegelt an der Horizontalachse: in Takt 259 mit Auftakt, Hörner in Es. Da hören wir G G G B♭ – die spiegelbildliche Umkehrung von Beethovens (Pause) G G G E♭. Ich übergehe solche Details nicht und weise hiermit sogar darauf hin, selbst wenn bei Rattle die Hörner an dieser Stelle leicht unterbelichtet sind und obwohl das meiner Argumentation eher entgegensteht.

    Redlichkeit im Argumentieren heißt, auch solche Punkte offenzulegen. Für wirklich interessierte Leser: Das betreffende Video (Rattle/Berliner Philharmoniker) findet sich hier, Einstieg ab etwa 7:44 Minuten:


    https://www.youtube.com/watch?v=r8LhN7GN3q0


    Zitat Glockenton:


    Ich habe mir vorgenommen, diese Diskussion nun nicht weiterzuführen – nicht, weil ich Argumenten ausweiche, sondern weil ich meine Freude an der Musik, insbesondere an dieser großartigen Aufnahme, nicht durch eine in der Luft liegende Tendenz zur Rechthaberei und Kleinteiligkeit verlieren möchte. Es ging mir, wie gesagt, ursprünglich darum, Begeisterung zu teilen – nicht darum, akademische Begriffsanalysen zu überstehen.


    Du schreibst nun:

    Aber zur Deutung des 1. Brahms speziell werde ich noch kommen.

    Ja, das wird wohl unvermeidlich sein – vor allem zur wichtigen Frage der Deutungshoheit.


    Und da haben wir sie also, und das schon längst: die angekündigte geisteswissenschaftliche Ehrenrettungskampagne.


    Nun endlich werde ich mich an meine eigenen Absichten halten. Mit anderen Worten: Ich bin hier raus.

    Wer sich wirklich für einen wirkungsmächtigen und klanglich überzeugenden Brahms interessiert, kann ja ab meinem ersten Beitrag nachlesen, wie sich die Diskussion entwickelte. Was ich sagen wollte, habe ich gesagt. Den Mitlesern empfehle ich stattdessen, einfach bei Gelegenheit die HiFi- oder Kopfhöreranlage anzuwerfen und zu hören. Das ist besser, als zu schreiben.

    Während der Diskussion habe ich übrigens immer wieder selbst aus der Partitur gespielt – um die musikalischen Zusammenhänge direkt zu erfassen. Das ist vielleicht der Unterschied zu Dir: Du ziehst noch ein Buch aus dem Regal oder bestellst Dir ein weiteres.


    Immerhin: Zur Abbado-Bestellung kann ich Dir nur gratulieren. Sie zählt zu den besten Brahms-Einspielungen überhaupt. Selbst der scharfzüngige Dave Hurwitz meint, dass Abbados Brahms in Berlin das Beste sei, was er dort je dirigiert habe. Ich stimme zu – auch im Blick auf das Requiem, sowohl live mit dem BPO in Wien als auch als Studioaufnahme (DG).

    Klanglich hören wir hier das typische Berliner Karajan-Brahmsklangbild - zum großen Glück für die Musik selbst.


    Es ist wie bei meinen früheren Beiträgen zur Eroica oder zur Neunten von Bruckner: Erst freut man sich, dass ich mich wieder äußere. Dann werden andere Aufnahmen ins Feld geführt. Und schließlich folgt der geisteswissenschaftlich-philosophische Versuch, mir – gern gemeinsam mit Karajan – den musikwissentschaftlich-intellektuellen "Holzweg" und den "ästhetischen Irrtum" nachzuweisen. Ich verstehe schon, dass es dabei weniger gegen mich, als gegen Karajan geht.

    Solche Muster mögen forentypisch sein. Aber sie widersprechen meiner ursprünglichen Intention, schlicht ein besonderes Musikerlebnis zu teilen. Und am Ende wird einem die Freude an dieser herrlichen Musik – in wirklich herausragenden Interpretationen – gründlich vergällt.


    Viel Vergnügen also bei allen weiteren "Beweisführungen" und beim "letzten Wort".... ^^


    Gruß:hello:

    Glockenton


    PS: ich habe den Text erst einmal in Word vorbereitet und fand es dann technisch mühselig, meine "alten" Eigenzitate mit Hilfe der Forensoftware einzufügen. Man möge nachsichtig mit mir sein... :untertauch:

    Wenn Du das so auf einem Brahms-Kongress vortragen würdest, hättest Du wohl deutlichen Widerspruch zu erwarten von Seiten der Musikwissenschaftler. Ich glaube nicht, dass Deine Argumentation haltbar ist.

    Da scheinen wir unterschiedlicher Ansicht zu sein. Ich habe auch keinerlei Ambitionen, auf einem Brahms-Kongress zu referieren – und mein Posteingang ist bislang frei von Einladungen...

    Mich reizt ohnehin mehr, Brahms zu musizieren, als ihn auf Podien zu diskutieren... ;)


    Meine Überzeugung beruht schlicht auf dem Notentext beider Sinfonien – und auf der Tatsache, dass der berühmte „Schicksalsausspruch" zur 5. Beethoven-Sinfonie historisch alles andere als gesichert ist. Einiges spricht lt. einfacher Internetrecherche dafür, dass er von Anton Schindlers stammt. Es kann gut sein, dass Schindler diese verhängnisvollen Worte dem Beethoven einfach in den Mund legte. Ähnlich zweifelhaft verhält es sich auch mit der "Mondscheinsonate".

    Hach - der Mond, wie er doch wandert...

    Andere Lesarten der Fünften, etwa jene Harnoncourts (nachzuhören z. B. in seiner Probe mit Dudamel), sprechen von Kampf, Widerstand, Freiheit. Auch bei Karajan klingt es energisch, nach vorne drängend und zielbewusst.


    Wer den Partituren der beiden Werke von Beethoven und Brahms genau folgt, wird feststellen, wie unterschiedlich ihre motivisch-rhythmischen Strukturen beschaffen sind.

    Ein schlichtes Faktum, das man auch durch noch so eloquente Rhetorik nicht einfach hinwegdeuten kann.

    Vielleicht wäre es ohnehin lehrreich, diese Sinfonien nicht nur zu wissenschaftlich zu analysieren, sondern auch einmal im Orchester oder am Klavier zu spielen. Denn nicht alles, was sich textlich-theoretisch überzeugend darstellen lässt, trägt klanglich-musikalisch - und umgekehrt.


    Wand hatte selbstverständlich recht, denn was er sagte, steht so in den Noten.

    Ich hatte in meinem früheren Beitrag die rhythmische Differenz zwischen Beethoven und Brahms erwähnt, aber noch nicht ganz deutlich:

    Beethoven: (Pause) G G G Es – also ein markanter Auftakt, der sofort Spannung erzeugt. Die Betonung liegt auf dem Es, weil dieser Ton auf der Eins, also der betonten Note liegt. Von der alten Musik herkommend gibt es auch bei Beethoven noch die Tradition, das eine längere Note auf der Eins auch die betonte Note ist. Es ist einfach so.


    2560px-Beethoven_-_Sinfonie_Nr._5%2C_Motto.png

    → Fortsetzung:


    2560px-Beethoven_-_Sinfonie_Nr._5%2C_Hauptthema.png

    Brahms dagegen: G G G Geh – gleichförmig, ohne Auftakt, rein repetitiv, ohne Veränderung der Tonhöhe. Im Impuls und Duktus ist das etwas ganz Anderes, denn die erste Note des Motivs wird zwangsläufig auch betont.

    Nachvollziehbar wird das mit folgendem YouTube-Video, in welchem man die Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle hört und die Noten gleichzeitig mitlesen kann:


    https://www.youtube.com/watch?v=r8LhN7GN3q0



    Ab Buchstabe H (Takt 273, im Video ab 8:03) spielt die Pauke das bewusste Repetitionsmotiv unterschwellig bedrohlich – aber eben nicht markant oder „schicksalshaft“. Das steht so auch gar nicht in der Partitur. Im Gegenteil: Gegen Ende dieses Abschnitts beruhigt sich die Musik deutlich.

    Doch die Gefahr ist noch nicht vorbei: Ab Buchstabe I beginnt ein stärkeres Crescendo, getragen von harmonischen Sequenzen, die an Wagner erinnern – nicht an den Klassizismus Beethovens. In Takt 312 greift das Blech das Repetitionsmotiv auf, bevor bei Buchstabe K der eigentliche „Vulkanausbruch“ erfolgt – oder vielleicht besser: ein „Zornesausbruch“.

    Ob man die Paukenschläge nun besonders schwer nimmt oder nicht, ist eine Frage der Akzentuierung der Interpretation. Entscheidend ist aber, dass semantisch der "Einschlag" deutlich wird.

    Die Reduktion dieser Frage auf eine „Einschlagsproblematik“ überzeugt mich hier gar nicht. Ohne präzise Taktangabe führt das alles leicht aneinander vorbei. Entscheidend ist zudem auch, wie genau die dynamischen Vorgaben der Partitur beim Spielen jeweils realisiert werden. Dass man die Pauke etwa bei Karajan nicht klar hören könne, stimmt doch einfach nicht. Ja, es stimmt einfach nicht, denn jeder der es will, kann sie auch hören.

    Hör Dir mal Furtwängler an...


    Habe ich. In einer digital restaurierten Version auf TIDAL. Klanglich und interpretatorisch durchaus stimmig – aber mit jener spätromantischen Aura, die ich persönlich nicht bevorzuge. Karajan (in allen drei DG-Einspielungen) oder auch Carlos Kleiber sprechen mich mehr an; nicht zuletzt auch, weil die Deutlichkeit der Phrasen aufgrund einer höheren Orchestervirtuosität dort einfach besser ist.

    Die Furtwängler-Aufnahme erinnert mich an einen Schwarz-Weiß-Film vergangener Jahrzehnte – atmosphärisch dicht, historisch bedeutsam, aber in ihrem Ausdruck irgendwie veraltet. Man kann sich vorstellen, wie die Kamera auf Gesichter im Publikum fährt....Und ja, das alles ist ein subjektiver Eindruck – aber durchaus nicht einfach aus der Luft gegriffen, denn ich könnte es weiter begründen, möchte aber nicht zu musikfern polemisch und zudem off-topic werden.


    Die eigentliche Frage ist doch:


    Muss man als Interpret eine schon an sich zweifelhafte „schicksalshafte“ Deutung der Beethoven-Sinfonie überhaupt auf Brahms übertragen, nur weil dieser- sicher mit Absicht- ein ähnliches Motiv verwendete?


    Ich meine: Nein.

    Dass Brahms bewusst auf Beethoven anspielt, bezweifle ich nicht. Aber daraus zu folgern, der Allegro-Hauptsatz müsse zwingend schwergewichtig und mit pedantischer Wirkung auf dem vermeintlichen Schicksalsmotiv herumreitend interpretiert werden – wie es etwa Sanderling tendenziell tut – das überzeugt mich hier nicht. Im Gegenteil: Ich emfinde diese Lesart aufgrund der oben angeführten Gründe fast schon als ein "ästhetisches Missverständnis"...

    Dirigenten wie Karajan, Wand, Abbado oder Rattle zeigen, dass es anders geht, ohne das man anfängt, den Satz rasant zu spielen– und meines Erachtens musizieren die das auch überzeugender, dramatisch mehr nach vorne gerichtig, flüssiger und insgesamt schlüssiger. Dadurch erzielen sie beim Hörer die gewaltigen Wirkungen, sowohl im Konzert als auch zu Hause, beim Hören mit dem Kopfhörer.


    Wer es anders hört, dem sei seine Freude mit Sanderling unbenommen :thumbup:

    Ich persönlich empfinde diese Deutung des ersten Satzes als zu schwerfällig – und halte es für legitim, das zu sagen, ohne mich damit über andere Sichtweisen zu erheben, für deren Rechtfertigung man eigentlich gar keine intellektuellen Nebenschauplätze eröffnen müsste, die sich dann sozusagen auf einer nicht mehr konkreten Meta-Ebene befinden.

    Mit meinem Beitrag hier versuche ich, die Diskussion wieder auf die Ebene der Musik selbst zurückzubringen, indem ich direkt auf die Musik selbst einzugehe, um die es ja in einem Forum über klassische Musik am Ende des Tages gehen soll.


    Die Zuhörerinnen und Zuhörer in Tokyo, die Karajans Aufführung mit stehenden Ovationen feierten, müssen wohl damit leben, dass manche ihre Begeisterung als Zustimmung für ein „ästhetisches Missverständnis“ halten. Ich glaube: Sie werden es, so wie ich, verschmerzen ;)

    Entsprechend reduzierst Du diese Brahms-Symphonie mit dem Karajan von 1987 auf das Rein-Klangliche.

    Zunächst: Die Aufnahmen stammen von 1981 (YouTube-Video) und 1988 (CD, DG), siehe im Thread weiter oben.


    Und nein – ich reduziere Brahms nicht auf den Klang. Ich höre sehr wohl auch strukturelle Prozesse – harmonische Entwicklungen, motivische Arbeit, Formverläufe. Aber ich glaube eben auch, dass all das wirklich klingen muss. Und zwar nicht "irgendwie schon recht gut", sondern der Musik angemessen, d.h. so gut es nur eben geht.

    Ein warmes, farbenreiches, tragfähiges Klangbild ist kein oberflächlicher Luxus, auf den man gut und gerne verzichten sollte – sondern ein für den Interpreten zentrales Ausdrucksmittel. Wer das vernachlässigt, beraubt sich zum Teil seiner musikalischen Durchschlagskraft, selbst wenn seine Interpretation eine vorherige Analyse erahnen lässt.

    Mich wundert da doch, dass Du Dich weigerst, Karajan mit Karajan zu vergleichen. ;) Der junge Karajan hat es doch ganz anders gemacht!

    Die frühe Karajan-Aufnahme mit den Wienern (1950er) kenne ich mittlerweile, sie spricht mich klanglich-musikalisch weniger an. Die Berliner Philharmoniker bieten hier (auch dank moderner Aufnahmetechnik) eine größere Durchhörbarkeit, mehr Dynamik und ein vollmundigeres, "von unten her" aufgebautes Klangbild. Auch die Ausgestaltung der musikalischen Details und die Gesamtwirkung ist, meinem Eindruck nach, bei den späteren Karajan-Aufnahmen wesentlich besser und überzeugender gelungen. Zusammenfassung und vereinfacht gesagt: später klang es mit dem BPO aus vielen Gründen einfach besser. Karajan würde mir zustimmen, und das wäre wohl keine Schande. Warum sollte man sich Musik anhören, die nicht (so) gut klingt?


    Dass jede Interpretation z.B. ein „Sanderling-Brahms“, ein „Karajan-Brahms“ bleibt und auch sein muss, liegt doch auf der Hand. Selbst unter Brahms’ eigener Leitung wäre es nicht „reiner Brahms“. Da müsste man fragen, wie intensiv geprobt wurde und wie sehr das Orchester eigentlich umsetzen konnte, was Brahms wollte. Zudem würde er es nach einigen Jahren mit großer Wahrscheinlichkeit wieder anders dirigiert haben. In der Welt der durch Menschen gemachten Musik ist es schlechthin so.


    Und wer meint, Karajan stelle seine Ästhetik hier über den Komponisten, der mag es gerne so empfinden. Ich sehe es in diesem Fall etwas anders:

    Ohne künstlerisches Profil bleibt Interpretation am Ende recht blass. Wenn z.B. Celibidache oder Wand Bruckner dirigieren, dauert es nicht lange, bis der erfahrene Hörer erkennen kann, wer da am Pult steht. Und das ist (eigentlich "war") auch gut so.

    Mir jedenfalls ist ein Dirigent mit Handschrift lieber als jene stilistische Beliebigkeit, die man heute mancherorts als Tugend verkauft. Wenn man den Beethoven heute nicht mit "sparsamen Vibrato" und auf den heutigen Kammerton hochgepitchte Naturtrompeten im Radioorchester spielt, ist man ja so etwas von gestern....


    Ich könnte so etwas von morgens bis abends auf NRK-Klassik hören - will ich aber nicht mehr. Da sind mir Leute lieber, die ich bei mir bekannten Werken spätestens ab Takt 10 eindeutig erkennen kann. Karajan gehört zu denen, aber nicht nur er.


    Gruß :hello:

    Glockenton


    PS: Wer undiplomatische Verisse mag: auf YouTube nach Bruckner mit Jordi Savall in der Besprechung von Dave Hurwitz suchen...

    Lieber astewes,


    dein Hinweis auf die Version der Ersten für zwei Klaviere hat bei mir eine persönliche Saite zum Klingen gebracht – und mich zu einer Erinnerung geführt, die ich seit Jahren mit mir trage. Ich hatte die Haydn-Variationen von Brahms nämlich vor langer Zeit selbst am Klavier (jedenfalls teilweise) gespielt – gemeinsam mit meinem damaligen Lehrer. Damals war ich noch gar nicht so sehr „Brahmime“, aber was wir da musizierten, war auch schon bei leisen Stellen von solcher klanglichen Wucht, innerer Fülle und Wärme, dass ich Brahms plötzlich ganz neu verstanden habe – nicht nur hörend, analytisch, sondern auf eine Weise leibhaftig.

    Diese Erfahrung war – rückblickend – wohl der Keim meiner lebenslangen Liebe zu Brahms. Ich möchte das zum Anlass nehmen, hier ein paar Gedanken zu teilen, die mir in all den Jahren beim Hören, Spielen und Nachdenken über seine Musik gekommen sind.



    Brahms und das "Voicing" – wenn zwei Klaviere schon wie ein Orchester klingen


    Meine Liebe zu Brahms hat an zwei Flügeln begonnen. Genauer gesagt bei den Haydn-Variationen für zwei Klaviere, die ich einst, wie oben beschrieben, mit meinem Lehrer spielte. Was mich damals – noch vor jeder strukturellen Analyse – überwältigte, war also jener satte, volle Klang, den wir da gemeinsam erzeugten.


    Brahms schreibt seine Musik sozusagen klanglich von innen, oder vielleicht besser, von unten, aus dem Bassbereich heraus (ein fülliges "Fundamento" zu haben, war übrigens auch für J.S.Bach sehr wichtig)

    Im Thema der Haydn-Variationen etwa liegen die Töne des Hauptmotivs nicht einfach nebeneinander, sondern in einer Stimmführung (Voicing), die fast an Orgeltechnik erinnert: parallele Akkordrückungen in Bb, Eb, und später Bb7, mit Bb als „Orgelpunkt“ in der Mittelstimme, im Bass und im Diskant. Anfangs hören wir beim Bb-Dur Akkord die Quartsext-Lage – und das Ganze wird dann oktavversetzt, also stimmidentisch von der linken und rechten Hand gespielt, während Bass und Diskant, ebenfalls mit ihren Tonwiederholungen auf dem Bb, in tiefer und hoher Lage vom anderen Klavier hinzukommen. Das füllt ein ganzes Frequenzspektrum aus, ähnlich wie ein gut registrierter Orgelklang.


    Wenn man selbst an einem dieser Klaviere sitzt, fühlt sich das Erlebnis schlichtweg so an: "lush", wie der Engländer sagt – und ja, genießerisch. Man versteht plötzlich, warum Brahms so viele Menschen berührt, die sich selbst musikalisch gesehen als „alte Genießer“ empfinden. Und wenn dann mein Lehrer beim Üben noch eine Zigarre ansteckte (nur am Sonntag war das in der Musikschule möglich...), war für mich klar: Das ist meine Musik, ja, ich liebe Brahms, so wie ich Bach liebte und wie ich später dann auch Wagner zu lieben lernte.


    Beethoven, Brahms und das Missverständnis vom „anklopfenden Schicksal“


    Die erste Sinfonie von Brahms in c-Moll wurde oft als die „Zehnte von Beethoven“ bezeichnet. Warum eigentlich? Der Vergleich scheint nahezuliegen – c-Moll, Ernst, Pathos, das "Schicksalsmotiv"... und Hans von Bülow half mit seinem berühmten Spruch auch nicht gerade, das Missverständnis zu entkräften.

    Tatsächlich kommt im ersten Satz der Brahms-Sinfonie ein Motiv vor, das an das Anfangsmotiv von Beethovens Fünfter erinnert: ta-ta-ta-tah. Doch ist dieses Motiv wirklich das „anklopfende Schicksal“? Ein Blick in Beethovens eigene Partitur zeigt: Die korrekte Phrasierung lautet eher (Pause) ta-ta-ta->TAH, wobei die Betonung auf dem Schluss liegt. Das wurde unter anderem von Günter Wand in Proben hervorgehoben – mit Recht.


    Bei Brahms hingegen tritt die Figur in anderem rhythmischen Gewand auf: im 6/8-Takt, eingebettet in einen dramatischen Aufbau (z.B. Trompete und Hörner Takt 312 ff.), der sich an der genannten Stelle im riesigen Crescendo zu einem Zornesausbruch entlädt. Natürlich erinnert das an Beethoven – aber doch in einer ganz anderen seelischen Verfasstheit und mit einer gewissen Betonung auf Ta-ta-ta-ta.


    Wenn man dieses Motiv nun mit zu langsamem Tempo zelebriert, wie etwa in der Aufnahme mit Sanderling, tritt es übergroß hervor – und schon ist sie wieder da, die Schicksalsdeutung. Doch in Wahrheit wirkt das dann ein wenig wie ein Musikfilm aus den 1950ern in Schwarz-Weiß – schön alt, aber auch schon etwas steif. Es könnte sein, dass Furtwängler in dieser Weise die Fünfte Beethovens aufführte, aber genau weiß ich es jetzt gar nicht. Jedenfalls war die Karajan-Interpretation der Fünften in den 60er-und 70er-Jahren ja auch so eine Art Befreiungsschlag, nämlich weg von diesem wuchtigen Schicksalspathos und hin zur zielgerichteten Dramatik.


    Zurück zu Brahms. Er will, nach meinem Verständnis, hier gar nicht anklopfen. Er grummelt, brodelt, bebt. Das ist kein gerichtsvollziehender Beamter (kurz vor der Pension) der vor einer verschlossenen Tür schimpft, sondern ein seelischer Vulkan, kurz vorm Ausbruch. Karajan z.B. zeigt das in seinen besten Aufnahmen (Tokyo) mustergültig.


    Die Brahms-Ästhetik – warum Karajan und sein Klang des BPO für mich Referenz bleibt


    Es gibt viele Arten, Brahms zu interpretieren. Schlank, durchhörbar, historisierend – das ist heute teilweise in Mode. Doch für mich hat Brahms allein schon vom Tonsatz her -wie oben ausgeführt- einen körperlichen, gesättigten Klang, der sich eben nicht „durchlüften“ lässt, ohne dass dabei etwas verloren geht.


    Deshalb liegt meine persönliche Referenz ganz gewiss nicht bei Norrington oder Gardiner – sondern tatsächlich bei Karajan. Gar nicht aus ideologischen oder einer Fanboy-Motivation, sondern aus musikalisch-dramatischen und klanglichen Gründen.

    Brahms verlangt nun einmal nach einem mittendichten, tragenden, warmen Gesamtklang mit der Möglichkeit, sich z.B. in den Trompeten strahlend aufzublühen – und den haben die Berliner Philharmoniker unter Karajan über Jahrzehnte perfektioniert.


    Auch Abbado und Rattle, jeweils mit demselben Orchester, wussten diesen Klang zu bewahren und haben ihn respektvoll nicht angerührt.

    Besonders Abbado gelingt in der DG-Aufnahme eine kluge Balance zwischen romantischer Wucht und klanglich-melodischer Klarheit, während bei Rattle der Klang noch etwas mehr eine dunkle Komponente beinhaltet- da haben wir ihn also, den "deutschen Klang"...


    Zu meinen Lieblingsaufnahmen zähle ich deshalb:


    Karajan Tokyo (1981 Video und auf CD, klanglich besser 1988)

    Karajan DG 1963

    Karajan digital (80er)

    Abbado Berlin (DG)

    Rattle Berlin (EMI)


    sowie Wand mit dem NDR-Orchester (RCA, abgesehen vom zu schnellen Anfang) und

    Barenboim mit der Staatskapelle Berlin (DG).


    Letzterer schafft übrigens das Kunststück, einen für unsere Zeit aktualisierten furtwänglerischen Aspekt zu integrieren.


    Wer wissen will, was man besser nicht hören sollte… nun ja – dazu ich schweige lieber.

    Einige nehmen vielleicht gerade meine Liste zum Anlaß, diese Aufnahmen auf jeden Fall zu meiden...^^


    So wie ich es sehe, verhält es sich hier so, wie bei vielen anderen Dingen des Lebens: Bevor man Dinge diskutiert und im schlimmsten Fall zerredet, wäre es vielleicht eine gute Idee, sie schlechthinnig zu erleben - am besten als ein konzentrierter Hörer, der einen guten Kopfhörer auf dem Kopf und eine Partitur vor der Nase hat :yes::thumbup:


    Gruß :hello:

    Glockenton


    PS: die Sanderling-Aufnahme finde ich wirklich nicht schlecht. Ich ziehe diese respektable Leistung so manchen anderen Einspielungen vor und kann sie übrigens auch in hoher Auflösung auf TIDAL hören. So gut, dass ich sie mir zusätzlich kaufen würde, finde ich sie aber nicht.

    Lieber Holger,


    es spricht für Dein Engagement, dass Du Dir so viel Zeit nimmst, um mir (und vielleicht auch Dir selbst?) meine vermeintlichen Irrtümer in aller Gründlichkeit vor Augen zu führen.

    Dafür danke ich Dir – aufrichtig, wenn auch nicht ganz ironiefrei... ;)


    Ich muss gestehen: Ich vermag die Diskussion nicht mehr recht fruchtbar zu finden. Sie hat sich vielleicht doch zu sehr vom Ausgangspunkt – Karajans Tokyo-Aufführung von Brahms’ Erster – entfernt und steht in Gefahr, zu einer Art geisteswissenschaftlicher Ehrenrettungskampagne zu werden, der ich mich weder gewachsen fühle noch gewachsen fühlen möchte. Das letzte Wort in dieser Angelegenheit überlasse ich auch gerne Dir.


    Dass ich keine musikwissenschaftliche Ausbildung genossen habe, weiß ich selbst am besten. Dafür bringe ich vielleicht ein gewisses Maß an musikalischer Intuition mit, die aus Praxis, Hören und dem eigenen Ringen um Ausdruck erwächst. Ich bin kein Theoretiker, sondern ein Musiker – und ich neige dazu, Musik zunächst mit dem Ohr und der Seele zu begegnen. Wenn sie mich nicht dort berührt, helfen mir auch keine Sekundärtexte, und wenn sie mich berührt, dann lässt sich das nicht durch das Fehlen bestimmter Lektüren entkräften – zumal ich mir sehr wohl auch musiktheoretische und vor allem praxisbezogene Gedanken mache. In meinen Urteilen über Interpretationen spielt jedoch nicht nur der emotionale Eindruck eine Rolle, sondern auch eine bewusste, oft sehr genaue Analyse der interpretatorischen Mittel und Wirkungen.


    Was Karajan betrifft: Es ist gut möglich, dass ich seiner ästhetischen Vision mehr abgewinnen kann als Du. Und ich bin gerne bereit, den Vorwurf zu tragen, auf einen „verirrten Blender“ hereingefallen zu sein – wenn man darunter jemanden versteht, der Musik mit größtem Ernst, aber auch mit der Vision eines überzeitlichen Klangbilds interpretiert hat. In meiner Wahrnehmung war das kein Missverständnis, sondern ein künstlerischer Höhepunkt.


    Ich habe mir vorgenommen, diese Diskussion nicht weiterzuführen – nicht, weil ich weiteren Argumenten ausweiche, sondern weil ich meine Freude an der Musik, insbesondere an dieser Aufnahme, nicht durch eine in der Luft liegende Tendenz zur Rechthaberei und Kleinteiligkeit verlieren möchte. Es ging mir- wie gesagt- ursprünglich darum, Begeisterung zu teilen – nicht darum, akademische Begriffsanalysen zu überstehen.

    Vielleicht liegt darin ja tatsächlich mein Missverständnis...


    astewes


    Ich hatte mir gestern noch Gedanken zu einer möglichen Antwort auf Deinen Beitrag gemacht. Sehr positiv finde ich, dass Du meinen Beitrag offenbar zum Anlass genommen hast, noch einmal in diese herrliche Musik hineinzuhören. Was Deine Aussagen zur digitalen Brahms 1 unter Karajan anbelangt, will ich Dir nicht grundsätzlich widersprechen. Auch ich empfinde die erste DG-Aufnahme Karajans aus den 60er Jahren als sehr gut gelungen. Ich lernte diese Symphonie in einer CBS-Aufnahme mit Bernstein kennen und liebte die Musik augenblicklich. Als mein Vater dann diese angesprochene DG-Aufnahme ins Haus holte, war ich als Jugendlicher komplett überzeugt, dass man den Brahms nicht noch besser spielen könne, als auf dieser LP. Auch heute noch bin ich sehr froh, sie mittlerweile als CD in meinem Bestand zu haben.


    Hier habe ich in einem Dialog mit William auf die Verbindung der 1963-Aufnahme mit der Tokyo-Aufführung hingewiesen.


    Wenn es Dir zeitlich und technisch möglich ist, dann möchte ich Dir gerne noch das oben von mir gepostete Video mit der Tokyo-Aufführung von 1981 ans Herz legen. Mein Tipp: Fang irgendwo bei 28:00 an zu hören – dann hast Du die letzten Takte des 3. Satzes im Übergang zum 4. Satz noch mit dabei. Ich finde jedenfalls, dass gerade dieser letzte Satz ein Dokument einer überaus gut gespielten, großartig empfundenen und die Herzen der Zuhörer erreichenden Musik ist.


    Andere mögen darin eine grandiose Fehlleistung hören.

    Mir ist in den letzten Tagen jedenfalls wieder bewusst geworden, dass sich meine Freude an solchen Interpretationen vielleicht doch am besten im Austausch mit musikalisch ähnlich empfindenden Menschen entfalten kann.


    Gruß :hello:

    Glockenton

    Lieber Holger,


    vielen Dank für Deine vielseitigen und inhaltlich dichten Ausführungen – sie lassen Deine Gedankengänge für mich nun deutlich nachvollziehbarer erscheinen.

    Ich habe mir das Buch von Ernst Kurth zwar auf den Rechner geladen, kann aber in der mir zur Verfügung stehenden Zeit nicht näher darauf eingehen. Beim Überfliegen bestimmter Textstellen und Überschriften ist mir allerdings aufgefallen, dass es sich – was bei dem Titel kaum überrascht – dezidiert um ein Bruckner-Buch handelt :pfeif::cheers:


    Die anderen von Dir genannten Werke stehen leider nicht in meinem Bücherschrank – sicherlich eine Bildungslücke. Doch ich finde nicht, dass man sie zwingend gelesen haben müsste, um sich ein Urteil über eine auf Ton- oder Bildträger festgehaltene Interpretation einer Komposition zu erlauben.


    Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter – ohne Dir damit zu nahe treten zu wollen: Wie viel davon hat ein Komponist wohl gelesen, bevor er sich daran machte, eine Symphonie zu schreiben?

    Vermutlich nichts – die genannten Bücher entstanden ja erst im Nachgang zu den Kompositionen. Natürlich gab es auch zur Zeit Brahms' musikwissenschaftliche Literatur über ältere Komponisten – aber glaubst Du, er habe sich derartiges angelesen, bevor er sich ans Komponieren machte?

    Trotz seiner Belesenheit würde ich vermuten: nein. Brahms hat sein erstes musikalisches Handwerk bekanntlich als Tanzmusiker in Hamburger Kellerkneipen gelernt. Und man sollte es nicht unterschätzen: solche Musik wirklich gut zu spielen, ist alles andere als einfach.


    Ketzerisch gesprochen könnte ich mir sogar vorstellen, dass sich ein Komponist wie Wagner köstlich amüsiert hätte, wenn er gewusst hätte, was später alles über seinen „Tristan-Akkord“ geschrieben wurde.

    Letztlich geht es hier um eine bestimmte Klangwirkung: Mehrdeutigkeit, Schweben, Ausdruck unendlicher Sehnsucht. Dafür hat Wagner einen genialen Akkord mit raffinierter Stimmführung gewählt – einen Abmoll über F-Akkord, der ja eigentlich eine Umkehrung von F-Moll 5/6 ist. Und genau dieser Schwebezustand, diese harmonische Ambivalenz, dient der musikalischen Aussage. Man kann ihn analytisch sezieren – aber wirklich verstehen lässt er sich nur, wenn man ihn hört.


    Ich schreibe selbst geistliche Musik, vor allem für den katholisch-liturgischen Gebrauch. Und ich weiß sicher: Eine ausufernde Lektüre solcher musikwissenschaftlicher Werke würde mir jede Inspiration rauben. Danach bekäme ich wahrscheinlich keinen Ton mehr zu Papier...


    Ähnlich verhält es sich mit dem Proben, Üben und Interpretieren von Musik. Ich kann Dir versichern: Ein Dirigent – sei es Karajan, Abbado, Rattle oder Böhm – würde zur Vorbereitung keine Sekundärliteratur wälzen, sondern die Partitur studieren, sich Notizen machen, Einsätze und Schlagfiguren üben, eine Klangvorstellung entwickeln usw. Es geht um die Musik selbst – und, wie Daniel Barenboim es treffend sagte: eigentlich könne man über Musik gar nicht seriös reden, weil sie letztlich ein Mysterium sei.


    Daher kann ich Deinen Gedankengängen zwar folgen, aber ich kann den zitierten Stellen nicht wirklich entnehmen, warum Karajans Brahms-Interpretation aus Tokyo ein ästhetisches Missverständnis sein sollte.

    Das schlüssig herzuleiten, würde in der Tat weitere intellektuelle Klimmzüge erfordern – zu denen Du sicher besser in der Lage bist als ich. Aber ich sehe einfach nicht, wohin diese führen sollen.

    Vielmehr bleibe ich dabei, dass die von Dir angeführten Perspektiven – so interessant und legitim sie auch sein mögen – letztlich dem Bereich des Außermusikalischen zuzuordnen sind. Und gerade deshalb würde mich auch keine weitere „Beweisführung“ in meiner Einschätzung erschüttern – im Gegenteil: Häufig führt Widerspruch bei mir dazu, dass ich die von mir geschätzten Interpretationen mit umso größerer Überzeugung erneut höre.

    In diesem Sinne: Danke für das Wasser, das Du in meinen Wein gießt – es hebt oft die Nuancen hervor:)


    Ich möchte mit einem (leicht abgewandelten) Zitat unseres Dichterfürsten schließen und es damit auch bewenden lassen:


    „Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen,

    wenn es nicht in die Seele dringt,

    und mit urkräftigem Behagen

    die Herzen aller Hörer zwingt.“


    Gruß:hello:


    PS: astewes: ich versuche, morgen zu antworten.


    Glockenton

    Lieber Holger und liebe anderen Teilnehmer/Mitleser,


    vielen Dank für Deine ausführliche Antwort.

    Ich habe sie mit Interesse gelesen und möchte – bei aller Wertschätzung – doch noch einige Gedanken ergänzen.

    Vielleicht ist es hilfreich, wenn ich meine Beweggründe für den ursprünglichen Beitrag ein wenig erläutere:

    Ich bin seit vielen Jahren Mitglied dieses Forums, habe mich aber in letzter Zeit vor allem aus Zeitgründen eher zurückgehalten – nicht, weil das Interesse an klassischer Musik nachgelassen hätte, ganz im Gegenteil.

    Vielmehr habe ich oft erlebt, dass Diskussionen über Interpretationen, gerade wenn sie von mir als Musiker angestoßen wurden, schnell von der Ebene spontaner Begeisterung auf eine sehr argumentative, fast schon akademische Ebene verlagert wurden. Das ist legitim – aber nicht immer wirklich hilfreich, wie ich finde.


    Mein ursprünglicher Impuls war es auch hier (ähnlich wie bei Beethovens Eroica mit Karajan live zum 100. Jubiläum in Berlin oder Bruckner 9 unter Karajan live in Wien) meine Freude über eine späte, vielleicht zu wenig beachtete Aufnahme Karajans zu teilen – nicht, um sie gegen andere auszuspielen oder gar als „allein seligmachend“ zu erklären, sondern weil ich den Eindruck hatte, hier eine künstlerische Summe zu hören, die musikalisch wie klanglich außerordentlich stimmig wirkt – und dabei ganz und gar „Brahms“ ist.

    Gerade dieser Punkt scheint mir in der Diskussion ein wenig verloren gegangen zu sein.

    Für mich ist Brahms ja nicht in erster Linie ein Philosoph im Sinfoniengewand, sondern ein Klangdenker und ein Vermittler tiefer innerer Emotionen.

    Seine Musik erschließt sich nicht vorrangig durch semantische Analyse oder historische Zuschreibungen – sondern im Hören, im Erleben der Klangarchitektur. Und genau hier setzt meine Wertschätzung für Karajan an. Nicht weil er romantischen Bombast kultiviert – sondern weil er die dichte, gewichtige Klangstruktur, die Brahms tatsächlich schreibt, in exemplarischer Weise hörbar macht.


    Hierzu einige Thesen:


    Brahms’ Klangsprache ist nicht „klassisch“ im Sinne Beethovens, sondern organisch-verdichtet, dabei immer romantisch


    Ja, Brahms hielt formal an der Viersätzigkeit fest – aber sein Klangideal ist bereits in der ersten Symphonie zutiefst romantisch. Die dichten Mittelstimmen, die Vorliebe für dunkle Streicherfarben, die gelegentlich fast registerartige Schichtung – all das ist nicht Beethoven. Es ist Ausdruck einer romantisch verinnerlichten Klangwelt, in der sich Tiefgang, Wärme und inneres Vibrieren miteinander verbinden. Harmonisch ist Brahms deutlich komplexer als Beethoven, oft chromatisch verschattet, ja fast „verschleiert“. Wer das ignoriert und einen vermeintlich klassizistischen Brahms konstruiert, geht an der klanglichen Wirklichkeit vorbei.


    Brahms selbst liebte satte, dunkle Klangfarben


    Seine Orchestrierung ist voller Hinweise darauf: die besondere Rolle der tiefen Streicher, das Gewicht in der Mittelstimmenführung, die Neigung zu doppelgriffigem Spiel in tiefen Lagen – all das spricht gegen ein „schlankes“, durchhörbares Klangbild à la Norrington oder vielleicht auch Gardiner.

    Man kann aus Brahms keine späte Mozart-Sinfonie machen und ihm aus seiner Vorliebe für klassische Formen ein klassizistisches Klangideal unterstellen.

    Karajans Klangideale – Substanz, Wärme, Weite, Saturation – stehen dem näher als viele historisierende oder nüchterne Ansätze. Das ist keine Ideologie, sondern schlicht musikalisch folgerichtig. Es ergibt sich für mich klar aus der Partitur, aus der Stimmführung, aus der harmonischen Struktur, aus der Instrumentierung und der seelisch-emotionalen Aussage, die sich aus den Noten selbst ergibt.


    Klang und Interpretation sind kein Beiwerk – sie sind Teil der musikalischen Wahrheit


    Du, Holger, argumentierst meinem Eindruck nach eher semantisch, aus dem Verhältnis von Werk und Interpretation heraus. Aber dabei gerät leicht aus dem Blick: Klang ist nicht äußere Hülle, sondern konstitutives Element der Musik. Eine Interpretation, die den klanglichen Gehalt nicht mit-transportiert, verfehlt das Werk – selbst wenn sie formal korrekt ist. Der sogenannte „Karajan-Klang“ ist hier z.B. kein Selbstzweck, sondern Ausdruck einer inneren Notwendigkeit – jedenfalls in seinen besten Momenten. Und gerade bei Brahms scheint mir das besonders hörbar und erfahrbar zu sein.


    Brahms ist nicht einfach zwischen Beethoven und Wagner zu verorten – er ist eine eigene Welt


    Die Vorstellung, Brahms sei „klassizistisch“ und Wagner/Bruckner „modernistisch“, ist historisch wirksam – aber musikalisch und auch klanglich unzureichend. Brahms war kein Klangpurist sondern vermittelte durch seine Kompositionen die Schönheit des reifen Genusses. Und mit der Aussage kratze ich nur an der Oberfläche dessen, was er wirklich in seinen Noten "sagt". Man berichtet, dass sich Leute bei ihm beschwerten, dass er nicht viel sprach und nichts erklärte.

    Seine Antwort:


    " Ich spreche durch meinen Musik".


    Diese seine Musik lebt von der Spannung zwischen Formstrenge und expressiver Fülle – und die Ausführung dieser Spannung verlangt eben mehr als nur simple Texttreue: Sie verlangt eine konkrete klangliche Umsetzung. Gemeint ist hiermit weniger eine ideologisch/sachlich anmutende Positionierung, sondern eine konkrete Realisierung für die Ohren der Zuhörer.


    Gerade deshalb irritieren mich Vergleiche mit Aufnahmen, die bei aller formalen Richtigkeit für mein Empfinden nicht das musikalische Gewicht und die organische Kraft der Karajan’schen Lesart besitzen. Natürlich kann man andere Deutungen vorziehen – auch ich höre Böhm mit großem Respekt –, aber wenn ich höre, wie bei Karajan in Tokyo das Allegro der 1. Sinfonie mit innerer Glut aufgeladen ist, wie sich der Spannungsbogen organisch entwickelt, wie Klang, Struktur und Ausdruck eine Einheit bilden – dann erscheint mir das als gelebte Musik, nicht als Thesenarbeit.

    Hier erlebe ich eine glutvolle Innenspannung, ja, eine inneres Leben und Pulsieren, wie ich es z.B. bei Böhm sehr viel weniger höre. Ich möchte mich dem vernichtenden Urteil Celibidaches über Böhm nicht anschließen, der behauptete, dass Böhm in seinem Leben niemals einen Takt Musik dirigierte. In dieser Einseitigkeit ist für mich die Aussage zwar polemisch überspitzt, aber ich höre manchmal gewisse Ansätze, bei denen ich geneigt bin, seinem Urteil zuzustimmen. Für Böhms Schubert gilt das definitiv nicht. Fakt ist aber auch, dass Celibidache zwar Karajans Eitelkeit anprangerte (war er denn nicht auch etwas eitel...?), seine Begabung und Musikalität aber nie in Zweifel zog. So einen Satz wie zu Böhm kam ihm über Karajan dann doch nicht über die Lippen...


    Wenn wir in Brahms’ Partituren schauen – und hören –, zeigt sich eine eigenständige, warmdichte Klangwelt, die ihre eigenen Gesetze hat.

    Aus eben dieser musikalischen Struktur heraus erlebe und verstehe ich Brahms als einen Komponisten, der sehr wohl ein tiefes Bedürfnis nach Klangfülle, Wärme, innerer Bewegung und orchestraler Gravität hatte.

    Karajan gelang es meines Erachtens in der besagten Tokyo-Aufnahme, genau diese Dimension einzufangen – mit einem Klangbild, das Brahms’ Neigung zu dunklem, sattem Timbre ebenso Rechnung trägt wie seiner strukturellen Durchdringung. Die musikalischen Übergänge sind dabei keineswegs verschwommen, sondern organisch gestaltet, unter einem großen, atmenden Bogen gehalten. Wenn also gesagt wird, Karajan dirigiere Brahms hier „wie Bruckner“, dann mag das auf bestimmte interpretatorische Gemeinsamkeiten zielen – aber es trifft das Wesen der Darbietung, wie ich sie höre, nicht. Brahms ist hier Brahms – nur vielleicht einer, der nicht auf analytische Transparenz getrimmt wurde, sondern einer, der aus seiner klanglichen Substanz heraus leuchtet und bewegt.

    Karajans Klang erscheint mir hier nicht „bombastisch“, sondern eher als musikalisch geradezu notwendig, weil er den sich aus der musikalischen Struktur herzuleitenden Tiefgang hörbar, ja greifbar macht. Ein kongenialer Dirigent wie Karajan fungiert hier als ein Werkverwirklicher. Seine Brahmsinterpretationen sind nicht nur Illustration, sie sind eine konkret erfahrbare Realisierung des künstlerischen Impulses des Komponisten.


    Man mag über Karajan streiten – aber sein Brahms ist hier definitiv kein ästhetisches Missverständnis.

    Im Gegenteil: Es ist eine aus dem Vollen schöpfende Musik, die nicht erklärt, sondern wirkt. Und genau darauf kommt es wohl am Ende des Tages an, denn warum sollte man sich eine Musik anhören, wenn es nicht um deren Wirkung ginge?


    Wenn es um große Musik geht, sind Klang und Musikalität aus meiner Perspektive die entscheidend Faktoren – weniger philosophische Theorien oder Zuschreibungen, so interessant und bereichernd sie für eine intellektuelle Diskussion auch sein mögen.

    Man kann sicher auch eine Symphonie durch die philosophie Brille versuchen zu lesen, sollte dabei aber meiner Ansicht nach im Auge behalten, dass romantische Musik vor allem sinnenhaft und klanglich-gefühlt wirkt – und dass eine Interpretation, die rein über rhetorisch-philosophische Konzepte "funktioniert" oder "stimmig" ist, den Hörer im schlimmsten Fall hinter einer intellektuellen Fassade zurücklassen kann.


    Ich habe mir einige der als Gegenbeispiele "in Stellung gebrachten" Aufnahmen in Auszügen angehört und fand vieles daran ernüchternd, gar enttäuschend. Doch möchte ich mich auf eine Diskussion darüber nicht einlassen, weil es mir weniger gefällt, zu vereissen, als zu loben, was mich möglicherweise von einem amerikanischen YouTube-Rezensenten unterscheiden mag...


    Gerade wenn es um Musik der deutschen Romantik geht, finde ich, dass diese Musik auch klar und unmittelbar ergreifen und erfüllen kann und sollte, auch ohne intellektuelles Übersetzen.

    Wenn man durch die Musik in alle möglichen seelischen Welten und Zustände versetzt werden möchte, ist Brahms trotz seines Festhaltens an klassischen Formen ein idealer Komponist, vielleicht sogar menschlich ansprechender als der in Blöcken schreibende Bruckner. Karajan konnte bei den Brahms-Symphonien - und hier insbesondere bei diesen Aufführungen der Ersten in Tokyo- als ein für meine Begriffe kongenialer Vermittler fungieren.


    Eine abschließende Bemerkung:

    Wenn ich sehe, wie sich bei meinen sporadischen Postings immer recht schnell alternative Aufnahmen ins Feld geführt werden, die (für mein Empfinden) gar nicht einmal notwendigerweise dieselbe Qualität erreichen (vor allem Abbado ausgenommen) frage ich mich schon, ob es in diesen Diskussionen immer wirklich ums Hören geht – oder eher um das bessere Argumentieren.

    Manchmal scheint es, als müsse die Begeisterung erst durch den Filter theoretischer Reflexion validiert werden – dabei darf sie doch auch einfach aus der Musik selbst erwachsen.

    Das möchte ich – ganz ohne Polemik – anmerken.


    Vielleicht dürfen wir ja alle hin und wieder mehr einfach Hörer sein.




    Gruß:hello:

    Glockenton

    Lieber Holger,


    wenn Du es so empfindest, dann ist es eben so für Dich – und das will ich Dir weder ausreden noch madig machen. Wahrnehmung ist immer auch Interpretation, und die Deine ist klar geprägt von einem bestimmten philosophischen Weltzugang. Ich glaube aber, dass gerade Musik, zumal solche wie die von Brahms, sich eben nicht vollständig durch begriffliche oder ideologische Raster fassen lässt.


    Einige analytische Gedanken zur musikalischen Substanz:


    Der Beginn der 1. Sinfonie war, soweit ich weiß, ursprünglich so gar nicht vorgesehen. Brahms plante den Einsatz wohl erst beim Allegro. Umso faszinierender ist es, dass dieses düstere, elegisch aufgeladene Portal später dann doch hinzukam – ein großartiger Einfall! Es wirkt wie ein feierlicher, aber innerlich aufgewühlter Einzug.


    Als Organist fällt mir besonders der Orgelpunkt C auf, über dem sich eine Folge von spannungsgeladenen Harmonien aufbaut. Ich will das kurz skizzieren – in Bruchstrichnotation über dem konstanten Basston C:

    C – C7 (ohne Terz) – E° (ohne Grundton) – Fis-moll → D – Fm6 – C^42 – As usw.

    Alles - wie gesagt- über dem Orgelpunkt C, bis sich diese Spannung schließlich in die Dominante G-Dur auflöst – freilich nicht direkt, sondern durch den typisch brahms’schen Umweg über einen Bb-5+-Akkord. Das hat fast etwas von einem „gebremsten Ausatmen“.

    Mit einer kräftigen Registrierung auf der Orgel wäre das schon stark – Brahms setzt aber noch eins drauf: Durch den 6/8-Takt entsteht eine vorwärtsdrängende, fast rudermäßige Bassfigur, verstärkt durch die Pauke. Die Musik wirkt wie ein schwerer Tanker, der durch innere Unruhe, durch diesen unerbittlichen Puls,in Bewegung gerät.

    haut da die schwere Pauke mit ihrem Schlegel dem armen musikalischen Ich auf den Kopf, als wolle sie sagen: "Es geht nicht weiter, es geht nicht weiter, Du kommst nicht vom Fleck!"

    Es geht nicht weiter – oder gerade doch?

    Dein Eindruck einer lähmenden Stagnation ist eine legitime Lesart. Doch ich würde behaupten: Gerade die ständige Folge von Vorhalten und harmonischen Umdeutungen lässt den Eindruck entstehen, dass es sehr wohl weitergeht – nur eben nicht linear, sondern als eine Art tastendes, innerlich ringendes Fortschreiten. Das ist typisch Brahms: Schmerz und Hoffnung, Stillstand und Drang – alles ist gleichzeitig da.


    Ein besonders schöner Moment:

    Nach dem Erreichen der G-Dur-Dominante (die übrigens fast „pedalhaft“ wirkt, obwohl kein G liegt), erscheinen die Töne Ab – H – F – Ab. Man erwartet eine G-Umkreisung – doch was wir anschließend hören, ist der Akkord Db7. Dieser harmonische „Fehltritt“ ist von wunderbarer Intelligenz: Er lässt uns die Musik als psychologischen Raum erleben, in dem Erwartungen bewusst gebrochen werden.

    Das ist keine Philosophie, das ist Musikpsychologie im besten Sinne. Oder, wenn man will: metaphysische Gestaltung durch Klang.


    Warum nun Karajan (für mich)?


    Ich finde: All das – diese komplexe, tief empfundene Harmoniksprache, das Wechselspiel von Ruhe und Bewegung – gelingt Karajan in der Tokyo-Aufnahme von 1988 besonders gut, aber auch schon 1981.

    Schon der Beginn zeigt, dass es hier um Gewicht, Ernst und Tiefe geht. Der saftige Klang kommt aus der Tiefe, die Pauke ist kein Effekt, sondern Teil der Bewegung.

    Bei Celibidache ist manches natürlich ebenfalls gelungen – er modelliert wunderbar organisch –, aber Karajans Zugang wirkt für mich zwingender, weil er nicht nur musikalisch, sondern auch klanglich eine „Welt“ schafft. Man spürt bei ihm: Das ist kein bloßes Einleiten eines Satzes – das ist eine Pforte zu einem seelischen Kosmos.


    Noch ein kleiner, laienhafter philosophischer Einschub:

    Musik ist, so scheint mir, eine Kunst des Übergangs. Wer sie auf einen ideologischen oder semantischen „Punkt“ festnageln will, verfehlt am Ende ihr Wesen. Das wäre etwa so, als würde man ein Gedicht danach beurteilen, ob es „wahr“ ist. Viel entscheidender ist, ob es einen Raum öffnet. Karajans Interpretation tut das für mich – sie öffnet einen Raum des Ausdrucks, des Staunens, des sehr existenziellen Nachfühlens.

    Deshalb finde ich es etwas unglücklich, eine solche Interpretation schon nach wenigen Takten „semantisch“ einordnen oder gar verwerfen zu wollen. Man sollte sich das ganze Werk in dieser Lesart anhören – gerade bei einem Dirigenten wie Karajan, dessen Stärke die große Form und die klangdramatische Entwicklung ist.


    Mein Fazit:

    Für mich ist dieser Beginn kein Missverständnis, sondern ein Geniestreich. Brahms, durch Karajan, klingt wie ein Portal zu einer inneren Landschaft.

    Ich erkenne darin kaum etwas von Beethoven (siehe das bekannte Zitat des Herrn von Bülow) – sondern bereits zu diesem Zeitpunkt alles von Brahms.


    Gruß:hello:

    Glockenton

    Hallo Christian B.,


    da habe ich mich dann wohl vertan, vielen Dank für den Hinweis!

    Ich dachte tatsächlich, die Berliner hätten das Werk nur einmal mit dem schon späten Karajan in Japan aufgeführt. Da die Klangqualität dieses alten YouTube-Videos leider bescheiden ist, habe ich nicht in angemessener, sondern nur mit mittlerer Lautstärke und mit Lautsprechern gehört. Heutzutage muss der Klang über YouTube übrigens nicht mehr zwangsläufig schlechter sein, als z.B. die CD-Qualität, weil das mp4-Format so eine Art Container ist, der jedwede Art der Video-und Audioqualität beinhalten kann - so las ich es vor einiger Zeit jedenfalls.


    Aber es zeigt sich ja auch, dass es hier eine Kontinuität gab, eine behutsam betriebene Weiterentwicklung der über Jahrzehnte gemeinsam erarbeiteten Interpretation.

    Einen direkten Vergleich mit der CD habe ich also aus o.g. Gründen in der Tat nicht angestellt.


    Fakt ist jedenfalls, dass mir beim damals intensiveren Zuhören der CD mittels Kopfhörer auffiel, dass die Musiker sich hier in so eine Art Rausch spielten, vielleicht auch deshalb, weil sie ahnten, dass es sich um ein nicht mehr wiederholbares Ereignis handelte, oder auch, weil sie sich an das fulminante Erlebnis des Jahres 1981 erinnerten.


    Aber auch die Version des 1981 aufgenommenen Videos hatte offensichtlich eine grandiose Wirkung auf die Musiker selbst und auch auf das Publikum, und das durchaus mit guten Gründen. Wenn ein Publikum tatsächlich gierig ist, genau diese Musik mit genau diesen Musikern zu hören, glaube ich daran, dass die Musiker und auch der Dirigent diese Bereitschaft der Anwesenden auch spüren, sich bewusst auf die Musik einlassen zu wollen. Da liegt dann eine gewisse Elektrizität in der Luft, die eben den Zauber der ganz großen Musik ausmacht.

    Ich kann mir vorstellen, dass es nicht so einfach war, überhaupt an Karten für dieses Ereignis zu kommen...


    Nur nebenbei: mit einer ziemlichen Wehmut stelle ich immer wieder fest, dass unsere Musik der deutsch-europäischen Hochkultur möglicherweise in Japan ein größeres und interessierteres Publikum hat, als in unseren Breitengraden. Ich kann es nicht empirisch belegen, aber ich gewinne jedenfalls des Öfteren einen entsprechenden Eindruck.


    Für mich haben diese o.g. Live-Aufführungen also einen besonderen Wert, auch wenn ich einmal bei sehr genauen Vergleichen mit der dritten digitalen Studioeinspielung Karajans bemerkte, dass die Perfektion in bestimmten Aspekten dort teilweise noch höher ist. Dennoch finde ich es faszinierend, wenn sich eine gewisse, wissentschaftlich kaum nachweisbare Atmosphäre des Verzaubertseins, der kollektiven Hochspannung nicht nur an der abschließenden Publikumsreaktion feststellen lässt, sondern auch nach Jahren beim Hören über die Konserve noch empfunden werden kann. Das wird sich vor allem dann einstellen, wenn man sich die Zeit und Ruhe gönnt, diesen Tonträger in einem Stück zu hören, denn es war ja Karajans besondere Gabe, einen großen dramatischen Bogen vom ersten bis zum letzten Ton zu spannen.


    Gruß

    Glockenton

    In diesem Beitrag habe ich 2017 die Live-Aufführung der Ersten von Brahms mit den Berliner Philharmonikern unter Herbert von Karajan sehr gelobt.

    Was soll ich mit dem Abstand einiger Jahre sagen? Ich bleibe dabei!

    Es gibt auf YouTube ein Video, bei dem man auch sehen kann, wie Karajan mit seinen Musikern live diese außergewöhnliche Aufführung musiziert.



    Leider ist das Video von recht bescheidener Tonqualität. Glücklicherweise habe ich die CD, die ich denjenigen, die so etwas noch schätzen, sehr empfehlen kann.

    Da ich das Video dennoch in voller Länge neulich sah und hörte, ist mir natürlich auch die Reaktion des japanischen Publikums am Ende des Konzerts aufgefallen: Sie konnten den Ausklang des letzten Akkords nicht abwarten und brüllten geradezu hemmungslos ihre miterlebte Anspannung heraus.


    Das Gefühl des kollektiv durch die seelischen Hoch und Tiefs der Partitur durchgerissen zu werden, musste sich irgendwie entladen, was mich sehr bewegen konnte.

    Gerade beim eigentlich überaus gesitteten und zurückhaltenden japanischen Publikum sagt das wirklich sehr viel aus.

    Ich bin davon überzeugt, das alle spürten, einer sehr seltene Brahms-Sternstunde des Orchesters und des Dirigenten miterlebt zu haben, wobei man dazu erwähnen muss, dass Karajan und die Berliner diese Symphony sehr gut kannten, oft probten und spielten, und das eigentlich immer auf absolutem Spitzenniveau.


    Interessant fand ich auch zwei japanische Kommentare unter dem Video, die ich in der Google-Übersetzung hier einmal anführen möchte. Vor allem der zweite Kommentar scheint meine Bewertung zu unterstützen:


    "Ich zitterte am ganzen Körper und hatte das Gefühl, gleich in Tränen auszubrechen"


    "Nach der Aufführung strahlte TBS einen Clip aus, in dem sich mehrere Orchestermitglieder hinter der Bühne aufgeregt unterhielten. Sie sagten, es sei eine wundervolle Brahms-Aufführung gewesen, wie sie nur alle zehn Jahre stattfindet.

    Karajan ist wirklich erstaunlich, wie gut er die Mitglieder des Superorchesters, der Berliner Philharmoniker, bewegen kann."


    Jemand auf Tamino schrieb in einem anderen Thread einmal, dass diese Brahms-Aufführung Karajans wie die Essenz seines Musizierens wirkt, frei aus dem Gedächtnis zitiert. Ich glaube, dass es Joseph II war, aber ich finde den Text jetzt leider nicht.

    Aber ich bin da durchaus der gleichen Meinung.


    Heute erlebt man einen solchen Klang, eine solche zum Ende hindrängende Spannung und..... (hier käme noch sehr Vieles)....schlichtweg ein solches Brahms-Musizieren nicht mehr. Der eine oder andere wird das wahrscheinlich auch noch gut finden, ich jedoch nicht, aber mir ist auch klar, dass es auch damals eben nur einen Karajan gab und es dass man heute etwas Vergleichbares auf keinen Fall erleben kann.

    Ich weiß, dass es sich schwer nach einem rückwärtsgewandtem Denken alter Männer anhört ("früher war alles besser....") aber ich kann ja nicht etwas anderes behaupten, wenn es doch tatsächlich so ist, jedenfalls nach meinem, und nicht nur meinem persönlichem Dafürhalten.


    Gruß

    Glockenton



    Anda/Karajan wurde in der Jesus-Christus-Kirche in Berlin-Dahlem aufgenommen.

    Das dachte ich mir - danke für den Hinweis. Ich mag diesen breiten, reichen und räumlichen Orchesterklang, der von warm bis brilliant ertönen kann, aber das Scharfe und Schrille nicht beinhaltet. Das hat zwar auch viel mit unzähligen langen Proben zu tun, aber am Ende hätte es in einem schlechten Raum niemals so klingen können. Laut Wikipedia wird dieser Raum wohl noch heute als Tonstudio genutzt.


    Gruß

    Glockenton

    In die Aufnahmen mit Klemperer und Friscay konnte ich nur hineinhören. Friscay gefiel mir besser, wobei bei ihm die Aufnahmequalität schon stereo und auch sonst technisch besser ist, als bei der nicht nur vom gar nicht so edlen Mono her schon „historisch“ zu nennenden Aufnahmequalität der Klemperer-Einspielung.


    Doch auch bei Friscay ist ein vergleichbarer (technischer und spieltechnischer) Standard wie bei Karajans Einspielung oder rein aufnahmetechnisch auch heutigen Aufnahmen noch nicht erreicht. So klingt z.B. der Flügel in f oder ff-Passagen merkwürdig blechern hinsichtlich der metallischen Obertöne, was teilweise vielleicht auch am damaligen Pianotechniker gelegen haben könnte.


    Auch hinsichtlich der musikalisch-handwerklichen Präzision, des edlen Orchesterklangbilds und vieler anderer Dinge ist für meine Begriffe die CD mit Anda/Karajan eindeutig überlegen. Alle musikalischen und klanglichen Parameter erklingen hier wie ideal austariert, sich in klassischer Balance befindend.


    Ich musste merkwürdigerweise an die alten DG-Aufnahmen der Beethoven Sonaten für Cello und Klavier mit Gulda und Fournier denken. Auch die ist in jeder Hinsicht eine mustergültig perfekte Aufnahme, dabei überhaupt nicht steril oder dergleichen, sondern mit hoher Musikalität und mit Sinn für Eleganz, Balance und Ästhetik eingespielt.


    Um zum Brahms-Klavierkonzert Nr. 2 in B-Dur zurückzukommen:


    Wenn man es mit der anerkannten Referenzaufnahme mit Gilels/Jochum vergleicht, erlebt man tatsächlich einen Vergleich auf höchstem Niveau. Hier kann man das Eine- oder Andere bevorzugen – es ist wirklich schwer, und ich bin froh, beide Einspielungen hören zu können. Vielleicht mag ich den langsamen Satz mit dem Solocellisten ein ganz wenig mehr mit Borwitzky und Jochum. Gegen Ende dieses Satzes lassen die Musiker uns erfahren, wie ergreifend eine absteigende diatonische Durtonleiter im Brahmschen Zusammenhang doch klingen kann. Da gibt es viele Stellen, bei denen man einfach den Atem anhält.



    Wie unterschiedlich die Berliner Philharmoniker heute gegenüber der Karajan-Ära klingen, das kann man beim Hineinhören in z.B. diesen Live-Mitschnitt hören:



    https://www.youtube.com/watch?v=ChBknUk8Z5o&t=162s



    Ja, es ist schon alles sehr gut und auf höchstem Niveau, aber das Orchester klang früher tatsächlich ziemlich anders. Diese klangliche Magie, die der Orchestererzieher Karajan damals bei guten Aufnahmen und Konzerten erzielen konnte, fehlt mir hier. Hätte ich die o.g. CD nicht kennengelernt, würde mir bei diesem Konzert mit Trifonov/Petrenko vielleicht gar nichts fehlen, aber nun kenne ich ja diese alte Einspielung und auch die schöne Aufnahme mit Gilels/Jochum. Auch von der pianistischen Perfektion her sind die Beiträge der Herren Gilels und Anda einfach noch eine Etage höher anzusiedeln, wenn ich einmal die ersten schnellen Passagen miteinander Vergleiche. Wenn Barenboim/Dudamel auf YouTube antreten, klingt es jedoch noch rustikaler.


    Natürlich, wenn es um den viel größer und symphonisch-räumlicher wirkenden Klang der „alten“ Berliner Philharmoniker geht, dann es kann zum Teil auch am Aufnahmeraum liegen. Ob Jochum und Karajan nun in der Berliner Jesus-Christus-Kirche aufnahmen oder in der 1963 eröffneten Philharmonie aufnahmen, kann ich über TIDAl leider nicht feststellen. Aber ich gehe davon aus, dass die von mir bemerkten Unterschiede nicht nur dem Raum geschuldet sind. Da ist eine kontinuierliche Arbeit an einem Klangideal mit verbunden, die in diesem Fall auch hörbar wird.


    Vielleicht ist die Zeit nun auch fast vorbei, in der man sowohl in musikalischer als auch in sonstiger Hinsicht mustergültig perfekte Aufnahmen produzieren will. Ich kann mir vorstellen, dass es Kostengründe sind, die da heute eine Rolle spielen. Der Markt hat sich verändert…


    Ob man deswegen heute so viele Live-Mitschnitte hat?


    Egal, ich freue mich jedenfalls, die oben besprochene CD gefunden zu haben. Wem die von mir angesprochenen Dinge wichtig sind und auf körperliche Tonträger Wert legt, der sollte sich so eine CD noch besorgen, will ich meinen.


    Gruß

    Glockenton


    PS: Spezialgruß an Holger :hello: Ich hoffe, es geht Dir gut!

    Ich sehe gerade: wie man YouTube richtig einfügt, habe ich offensichtlich vergessen...

    Es ist schon eher selten, dass ich für mich bei bekanntem Repertoire noch eine echte Entdeckung mache. Gerade neuere Aufnahmen, ob nun auf Tonträger oder YouTube, hinterlassen bei mir, wenn es um das 2. Klavierkonzert des Herrn Brahms geht, doch eher einen etwas enttäuschten, wenn nicht gar ratlosen Eindruck zurück.


    Da ich ja die allgemein aus sehr guten Gründen als Referenz angesehene Einspielung mit Gilels/Jochum als meinen jahrzehntelangen Maßstab ansah, war das Thema für mich sozusagen „geklärt“.


    Nun bin ich – dem Zufalls-Algorithmus von TIDAL sei es gedankt – auf diese Aufnahme hier mit Anda/Karajan gestoßen:







    Diese überzeugt mich, ja begeistert mich sogar noch ein kleines bisschen mehr als die eh schon traumhafte Aufnahme des Duos Gilels/Jochum.


    Was sind nun in meinen Ohren die Vorzüge dieser 1968 entstandenen Aufnahme?


    Der Pianist steht technisch vollkommen über den unglaublichen technischen Herausforderungen. Dieser unglaubliche Grad der manuellen Perfektion ermöglicht es ihm, eine klassische Balance aus allen möglichen pianistischen Parametern wie Dynamik, Pedaleinsatz, Agogik und sehr viel mehr zu erreichen. Der musikalische Ausdruck bleibt keineswegs im Sinne einer „kalten Perfektion“ auf der Strecke, ganz im Gegenteil. Die mitunter sperrigen Klavierfiguren des Komponisten werden mit einer wunderbar fließenden Eleganz vorgetragen. Im Forte spielt er zwar objektiv laut, aber keineswegs hart oder gar brutal.


    Dieser ästhetische Ansatz findet seine Entsprechung im von Karajan dirigierten Orchesterpart: ein sehr warmer Klang, der jedoch auch bei Bedarf strahlend werden kann, herrlich aufblühend in den Blechbläsern, ein für mich immer noch unerreichtes Legato und ein in sich ruhendes, meinem Empfinden nach wirklich perfekt ausbalanciertes Tempo kommen hier zusammen.


    Karajans Orchester-Ästhetik funktionierte für Brahms oft sehr gut – hier jedenfalls passt für mich alles.


    Man hört hier einen die Jahrzehnte und vielleicht noch länger überdauerten, geradezu zeitlosen Brahms. Es sind nicht Gegensätze von zwei Auffassungen, sondern ein gemeinsamer ästhetischer Ansatz, der mich hier so überzeugen kann.


    Sehr schön finde ich übrigens, dass die Aufnahmetechnik überhaupt nicht nach 1968 klingt. Auch mit hochwertigen Kopfhöreranlagen wie z.B. einem Stax L300, einem DT1770pro/Dt 1990pro von Beyerdynamics oder dem K712 von AKG kann ich jedenfalls nicht wahrnehmen, dass die Aufnahme 57 Jahre alt sein soll. Der Flügel klingt sogar noch etwas räumlicher und voller als bei der ebenfalls guten DG-Gilels-Aufnahme, und das Orchester klingt ähnlich „groß“ und räumlich aufgefächert, vielleicht noch ein bisschen angenehmer und voller.


    Geza Anda kannte ich gar nicht - wie ignorant von mir...



    Also: falls jemand die Aufnahme nicht kennt, kann ich sie nur empfehlen.

    Ich bitte mir nachzusehen, dass ich hier kaum noch schreibe. Mein Leben besteht hauptsächlich aus dem Schreiben von Noten und dem Üben/dem Aufführen derselben. Aber wenn ich etwas wie hier finde, bei dem ich das Gefühl habe, etwas halbwegs Sinnvolles sagen zu können, dann fand ich den Gedanken gut, meine persönliche Entdeckung mit dem Forum zu teilen.


    Gruß

    Glockenton

    Nun habe ich in den letzten Jahren die ein oder andere Aufnahme gehört und immer auch wieder verglichen.


    Am Ende ist es dann doch so, dass ich bei den Empfehlungen aus meinem Beitrag vom 04.04.2017 bleibe.


    Karajan, Abbado, Rattle, Wand - zu denen kehre ich immer wieder zurück. Karajan wurde in diesem Thread bereits erwähnt? Nun, das hat er auch verdient!

    Gerade bei Brahms empfinde ich einen vollen Klang, eine überlegene Ökonomie im Expressiven und einem großen dramatischen Bogen mit perfekter Orchesterbalance und weichen Übergängen als wohltuend.

    Karajan hat den Brahms so intensiv geprobt, dass die Musik am Ende nicht gespielt wurde, sondern "es" hat gespielt. "Es" lief von alleine, was über die Summe von gut aufeinander eingespielten Spitzenmusikern hinausgeht. In Tokyo sind sie z.B. über sich hinausgewachsen. Wunderbar und irgendwie auch nicht zu erklären.

    Karajan hat stundenlang andere Komponisten wegen des Klangs geprobt, bis er einen gewissen Klang im Orchester sozusagen greifbar hatte.

    Dann sagte er: ..."so, und jetzt spielen wir eine Brahms-Symphonie." Für solche Dinge mussten die Musiker immer verfügbar sein - es waren tatsächlich andere Zeiten.

    Ich zitiere das jetzt aus dem Kopf. Um in der Karajan-Biographie nachzulesen, müsste ich erst einmal das Buch finden...aber ich hoffe einmal, dass man es mir glaubt.


    Seine zwei BPO-Nachfolger profitierten von seiner sehr intensiven Arbeit am Klang und rührten auch nicht daran.


    Was ich dann vor einigen Monaten auf dem TV-App der Berliner vom aktuellen Dirigenten hörte, fand ich enttäuschend, auch wenn natürlich handwerklich auf zweifelsfreiem Spitzenniveau gespielt wurde: zu schnell, zu hektisch, immer wieder dieses "schau mal hier und jetzt da...." und vor allem klang das Orchester leider nicht mehr so, wie unter Karajan, Abbado und Rattle, sondern irgendwie kleiner, nicht so kraftvoll und warm strahlend.

    Ich glaube jetzt nicht, dass es an den Musikern liegt.


    Besser klingt es mir dann schon, wenn das aktuelle BPO unter Barenboim Brahms spielt. Altersbedingt sitzt er oft nur da und macht mehrere Takte lang eigentlich gar nichts - naja, so ist es eben ;)

    Wir werden ja alle nicht jünger...

    Aber er überträgt dann wohl doch auf die ein oder andere Weise seinen "Geist" aufs Orchester - und genau darauf kommt es ja an, wenn man von einem Orchester spricht, dass dieses Musik wirklich spielen kann.


    LG:hello:

    Glockenton

    Ich habe es hier gefunden.


    Du musst etwas weiter `runterscrollen, dann kommt es bei 25-23 und 26-2


    LG:hello:

    Glockenton


    (Sorry für die späte Antwort, habe leider viel zu tun)

    Die Entstehungsgeschichte von op. 34 ist etwas anders: Die erste Fassung war ein Streichquintett, bei dem Clara der Klavierklang fehlte. Daraufhin schrieb Brahms die Version für zwei Klaviere und vernichtete die Quintett-Fassung. Aber so leicht war Clara nicht zufriedenzustellen, denn jetzt beklagte sie plötzlich das Fehlen der Streicher. Brahms' salomonische Lösung war dann die Fassung für Klavier und Streichquartett (also Klavierquintett). Daraufhin hatte er endlich seine Ruhe :).


    Dazu hatte ich weiter oben etwas geschrieben: Brahms hat sie ursprünglich für ein Klavier zu vier Händen geschrieben und dann noch drei weitere Fassungen folgen lassen: ein Arrangement für Klavier solo, eine erleichterte Fassung ebenfalls für Klavier solo und eine Bearbeitung von fünf Walzern (Nr. 1, 2, 11, 14, 15) für zwei Klaviere.

    Das ist ja interessant - danke für die Richtigstellung. Ich meinte, es in einem Beilagetext zu einer CD andersherum gelesen zu haben, aber auch die soeben durchgeführte Internetrecherche zeigt ja sofort, dass es tatsächlich so war, wie Du es beschreibst.

    Wahrscheinlich erinnerte ich mich falsch.


    Dass in der Fassung für zwei Klaviere "einige der schönsten Gedanken verloren gingen" (wie Clara Schumann wohl äußerte) kann ich gar nicht so finden, wobei ich die ursprüngliche reine Streicherversion so nicht kenne, sondern das Stück in der Fassung mit zwei Klavieren vor vielen Jahren kennen- und liebenlernte.


    Ich fand im letzten Jahr zwar auch die ein oder andere schöne Aufnahme als Streichquintett (nicht die alte DG-Aufnahme mit Pollini), aber der Grund dafür, dass ich die Fassung für zwei Klaviere für mich immer noch am besten finde, liegt vielleicht darin, dass es mir -verglichen mit der Hörerfahrung des Klavierquintetts- irgendwie reizvoller erscheint, wenn man sich den singenden Duktus von Streichern oder anderen Instrumenten beim Hören oder Spielen des Pianos einfach nur vorstellt.

    Das ist dann vielleicht so ähnlich wie bei irgendwelchen Buchverfilmungen, bei denen dann einige Literaturfans nicht selten über die filmische Realisierung enttäuscht sind.

    Gut, wie immer hinkt auch dieser Vergleich, aber es geht so ein wenig in diese Richtung. Die perkussiv-rhytmischen Elemente (z.B. des Scherzos) können ja mit dem Klavier naturgemäß richtig gut dargestellt werden.


    Zudem empfinde ich den Gesamtausdruck/eindruck mit rein pianistischen Mitteln (die Brahms ja als hervorragender "Von-Haus-aus-Pianist" sehr effektiv einsetzt) als einheitlicher, sowohl vom Notensatz her, als auch von der klanglichen Seite her betrachtet.


    Wer dieses Werk nur als Klavierquintett kennt und liebt, dem kann ich empfehlen, das Werk in der Fassung für zwei Klaviere kennenzulernen.


    Und ja, dass z.B. der Walzer Nr. 15 in der volltönenden Besetzung für zwei Klaviere gesetzt ist, das freut mich sehr.


    Wie ich schon erwähnte, finde ich, dass man dem Erlebnis des Musizierens auf zwei Klavieren als Hörer näher kommt, wenn man sich entsprechende CDs oder das Streaming-Gegenstück mit einem guten Kopfhörer anhört. Dann sitzt man dann mehr in der Musik drin...


    Ich kaufte mir seinerzeit von der Deutschen Grammophon die "Complete Edition (CD) 46 CDs" als Box, eigentlich hauptsächlich, weil ich die op34- Kontarsky-Aufnahme sonst als CD nicht mehr finden konnte (ich hatte sie als vorher als LP).

    Aber gut, da sind auch hervorragend gespielte Symphonien mit Karajan etc. enthalten und noch viel mehr.


    Auch sehr schön finde ich diese op-34- Aufnahme, die es jetzt wahrscheinlich nur noch in der Box gibt (konnte sie früher noch als Einzel-CD bekommen):



    Für andere Einspielungen konnte ich mich bisher jedenfalls nicht wirklich erwärmen.


    LG

    Glockenton

    Mein Lieblingskomponist für Musik auf zwei Klavieren ist dann wohl Brahms, wobei mir die f-moll-Sonate op. 34b, die eigentlich op. 34a heißen müsste, weil sie zuerst für genau diese Besetzung entstand. Auch die Haydn-Variationen sind ursprünglich eine Komposition für zwei Klaviere. In beiden Fällen ziehe ich die Versionen für zwei Klaviere gegenüber dem Streichquintett ( war Claras Idee) oder dem Symphonieorchester vor.

    Brahms nutzt den fetten und orchestralen Klang voll aus, der mit zwei Flügeln möglich ist. Seine pianistisch-rhythmischen Texturen sind sehr fein und wirkungsvoll, sehr oft mit Polyrhythmik gewürzt.


    Allerdings mag ich es gar nicht, wenn man das zu schnell oder auch mit zu schwankender Agogik spielt. Meine Lieblingsaufnahme ist nach wie vor die DG-Einspielung mit den Kontarsky-Brüdern.

    Argerich ist ja z.B. immer sehr fähig, und zweifellos eine Pianistin, vor der man sich nur verneigen kann, aber im Falle der Haydn-Variationen geht ihr dann m.E. doch "der Gaul durch". Es entfernt sich für mich zu weit von der Vorstellung, auf den Klavieren ein komprimierte Orchestermusik zu spielen.


    Hier die Haydn-Variationen mit den Kontarskys (die f-moll-Sonate konnte ich auf YouTube nicht finden):




    Es muss ein Traum sein, beide Stücke ( also Haydn-Variationen und f-moll-Sonate) ernsthaft spielen zu können. Technisch empfinde ich sie als sehr herausfordernd. Der dafür nötige Übeaufwand hat sich bisher mit meinem Leben nicht vereinbaren können, bei dem ich gezwungen bin, ständig andere Dinge zu üben und auch zu setzen. Zudem kenne ich gar keinen, mit dem ich das (dann auch noch gerne) spielen könnte.

    Aber gerade bei der f-moll-Sonate ist es ja so, dass es eigentlich schon eine Art Symphonie für zwei Klaviere ist. Die Wucht der Aussage ist definitiv schon symphonisch, wie ich finde.

    Wenn man also niemals in die Lage kommt, eine Brahms-Symphonie zu dirigieren, so kann man doch mit dieser Literatur ein ähnlich berauschendes Erlebnis machen - theoretisch, denn als ausübender Pianist muss man ja immer konzentriert sein, d.h. man kann sich nicht zu sehr dem Genuß hingeben.

    Auch die Walzer von Brahms sind ja enorm schön, wobei ich jetzt aus dem Stegreif eher annehme, dass sie für Klavier vierhändig geschrieben wurden.


    Ich habe mehrfach schon die "Petite Suite" von Debussy auf zwei Klavieren gespielt, was immer ein sehr tolles Erlebnis war. Eigentlich ist es ja für Klavier zu vier Händen geschrieben, aber ich mochte es schon sehr, dass man sein eigenes Pedal etc. kontrollieren konnte und nicht mit dem Partner sozusagen zu dicht "ins Gehege" kam.


    Vor vielen Jahren hörte ich einmal in der Bielefelder Musik- und Kunstschule ein Werk für zwei Klaviere von Rachmaninoff. Ich weiß nicht mehr, was es war, aber ich erinnere mich sehr genau, wie gut ich es fand, was mich umso mehr überraschte, weil ich damals gegenüber russischer Musik nicht gerade wenig Vorurteile hatte....


    Das klangliche Wohlgefühl des Spielens mit zwei Klavieren kommt für mich bei den Aufnahmen eigentlich nicht wirklich heraus. Es klingt dann erstaunlich dünn im Verhältnis zum erlebten Klang beim Spielen - mein subjektiver Eindruck.


    LG

    Glockenton

    Ehrlich gesagt ist mir schleierhaft, wie man nahtlos den Übergang von Walzer- und Marschseligkeit zu norwegischen Postkarten-Idyllen hinbekommt, aber das mag ganz allein mein Problem sein.

    Ich fürchte es ist dann wohl so, denn für mich ist das überhaupt kein Problem, nämlich dann, wenn man eine philosophisch-ästhetische Metaebene mitdenkt und mitfühlt.

    Ob man nun Traditionsbewusstsein im Klangbild der Wiener Philharmoniker oder dasjenige der historischen Architektur sich anschaut: wenn man dieses Dinge erkennt und schätzt, dann sieht man da Gemeinsamkeiten.

    Ein edler und angenehmer Orchesterklang und ein dementsprechendes Dirigat passt zur ästhetischen Erfahrung dafür empfindsamer Menschen, wird als natürlich und genießbar empfunden, sozusagen als Balsam für die Seele.

    Ebenso wird ein in die Landschaft oder ins Stadtbild passendes Gebäude als "Balsam für die Seele" empfunden.

    Das Gegenteil ist bei kratzigem Klang oder einer farblich und von der Form her als hässlich und die Umgebung (sei es eine Landschaft oder eine Stadt) gestalteten Architektur der Fall.


    Wieso ist das so schwierig?

    Ich mag auch diesen Ausdruck " norwegische Postkarten-Idyllen" nicht wirklich. Darin steckt ja bald eine ganze Welt von Herablassung. Postkarten sind meistens bei blauem Himmel aufgenommene Fotos, bei denen man dann mit Adobe oder dergleichen die Sättigung geschmacklos auf- bzw. überdreht hat. Man denkt an eine billig-heuchlerische Verkaufswelt, die weniger auf das Wahre als vielmehr auf das "Billig-Schöne" aus kommerziellen Gründen abzielt.

    Wer jedoch die norwegischen Fjorde erlebt hat und dort - wie ich- ernsthaft Landschaftsfotografie betrieb, der wird diesen verächtlichen Ausdruck " norwegische Postkarten-Idylle" nicht verwenden.

    Ist denn etwas gegen eine Idylle zu sagen? Eine der schönsten Partituren für Orchester überhaupt ist das "Siegfried-Idyll" von Richard Wagner.

    Stellt man in diese Landschaften einen schwarzen "bösen" Klotz, dann ist das eine Beleidung für das Auge.


    Zudem bin ich in einer Facebook-Gruppe "Arkitekturoppøret" aktiv. Dort habe ich tatsächlich viele neue Gebäude gesehen, die von der Atmosphäre - weniger von der Form her, die war immer klotzig- an die Burg des guten Herrn Vaders erinnern, was nicht nur von mir, sondern von sehr vielen Norwegern so formuliert wurde.

    Ich kann das hier nicht posten und will auch nicht zu sehr vom Musikthema abschweifen. Aber man kann mir schon glauben, dass ich hier nicht dummes Zeug von mir gebe.


    Muss jetzt leider gehen, deswegen soll das genügen.



    LG:hello:

    Glockenton