Lieber Holger und liebe anderen Teilnehmer/Mitleser,
vielen Dank für Deine ausführliche Antwort.
Ich habe sie mit Interesse gelesen und möchte – bei aller Wertschätzung – doch noch einige Gedanken ergänzen.
Vielleicht ist es hilfreich, wenn ich meine Beweggründe für den ursprünglichen Beitrag ein wenig erläutere:
Ich bin seit vielen Jahren Mitglied dieses Forums, habe mich aber in letzter Zeit vor allem aus Zeitgründen eher zurückgehalten – nicht, weil das Interesse an klassischer Musik nachgelassen hätte, ganz im Gegenteil.
Vielmehr habe ich oft erlebt, dass Diskussionen über Interpretationen, gerade wenn sie von mir als Musiker angestoßen wurden, schnell von der Ebene spontaner Begeisterung auf eine sehr argumentative, fast schon akademische Ebene verlagert wurden. Das ist legitim – aber nicht immer wirklich hilfreich, wie ich finde.
Mein ursprünglicher Impuls war es auch hier (ähnlich wie bei Beethovens Eroica mit Karajan live zum 100. Jubiläum in Berlin oder Bruckner 9 unter Karajan live in Wien) meine Freude über eine späte, vielleicht zu wenig beachtete Aufnahme Karajans zu teilen – nicht, um sie gegen andere auszuspielen oder gar als „allein seligmachend“ zu erklären, sondern weil ich den Eindruck hatte, hier eine künstlerische Summe zu hören, die musikalisch wie klanglich außerordentlich stimmig wirkt – und dabei ganz und gar „Brahms“ ist.
Gerade dieser Punkt scheint mir in der Diskussion ein wenig verloren gegangen zu sein.
Für mich ist Brahms ja nicht in erster Linie ein Philosoph im Sinfoniengewand, sondern ein Klangdenker und ein Vermittler tiefer innerer Emotionen.
Seine Musik erschließt sich nicht vorrangig durch semantische Analyse oder historische Zuschreibungen – sondern im Hören, im Erleben der Klangarchitektur. Und genau hier setzt meine Wertschätzung für Karajan an. Nicht weil er romantischen Bombast kultiviert – sondern weil er die dichte, gewichtige Klangstruktur, die Brahms tatsächlich schreibt, in exemplarischer Weise hörbar macht.
Hierzu einige Thesen:
Brahms’ Klangsprache ist nicht „klassisch“ im Sinne Beethovens, sondern organisch-verdichtet, dabei immer romantisch
Ja, Brahms hielt formal an der Viersätzigkeit fest – aber sein Klangideal ist bereits in der ersten Symphonie zutiefst romantisch. Die dichten Mittelstimmen, die Vorliebe für dunkle Streicherfarben, die gelegentlich fast registerartige Schichtung – all das ist nicht Beethoven. Es ist Ausdruck einer romantisch verinnerlichten Klangwelt, in der sich Tiefgang, Wärme und inneres Vibrieren miteinander verbinden. Harmonisch ist Brahms deutlich komplexer als Beethoven, oft chromatisch verschattet, ja fast „verschleiert“. Wer das ignoriert und einen vermeintlich klassizistischen Brahms konstruiert, geht an der klanglichen Wirklichkeit vorbei.
Brahms selbst liebte satte, dunkle Klangfarben
Seine Orchestrierung ist voller Hinweise darauf: die besondere Rolle der tiefen Streicher, das Gewicht in der Mittelstimmenführung, die Neigung zu doppelgriffigem Spiel in tiefen Lagen – all das spricht gegen ein „schlankes“, durchhörbares Klangbild à la Norrington oder vielleicht auch Gardiner.
Man kann aus Brahms keine späte Mozart-Sinfonie machen und ihm aus seiner Vorliebe für klassische Formen ein klassizistisches Klangideal unterstellen.
Karajans Klangideale – Substanz, Wärme, Weite, Saturation – stehen dem näher als viele historisierende oder nüchterne Ansätze. Das ist keine Ideologie, sondern schlicht musikalisch folgerichtig. Es ergibt sich für mich klar aus der Partitur, aus der Stimmführung, aus der harmonischen Struktur, aus der Instrumentierung und der seelisch-emotionalen Aussage, die sich aus den Noten selbst ergibt.
Klang und Interpretation sind kein Beiwerk – sie sind Teil der musikalischen Wahrheit
Du, Holger, argumentierst meinem Eindruck nach eher semantisch, aus dem Verhältnis von Werk und Interpretation heraus. Aber dabei gerät leicht aus dem Blick: Klang ist nicht äußere Hülle, sondern konstitutives Element der Musik. Eine Interpretation, die den klanglichen Gehalt nicht mit-transportiert, verfehlt das Werk – selbst wenn sie formal korrekt ist. Der sogenannte „Karajan-Klang“ ist hier z.B. kein Selbstzweck, sondern Ausdruck einer inneren Notwendigkeit – jedenfalls in seinen besten Momenten. Und gerade bei Brahms scheint mir das besonders hörbar und erfahrbar zu sein.
Brahms ist nicht einfach zwischen Beethoven und Wagner zu verorten – er ist eine eigene Welt
Die Vorstellung, Brahms sei „klassizistisch“ und Wagner/Bruckner „modernistisch“, ist historisch wirksam – aber musikalisch und auch klanglich unzureichend. Brahms war kein Klangpurist sondern vermittelte durch seine Kompositionen die Schönheit des reifen Genusses. Und mit der Aussage kratze ich nur an der Oberfläche dessen, was er wirklich in seinen Noten "sagt". Man berichtet, dass sich Leute bei ihm beschwerten, dass er nicht viel sprach und nichts erklärte.
Seine Antwort:
" Ich spreche durch meinen Musik".
Diese seine Musik lebt von der Spannung zwischen Formstrenge und expressiver Fülle – und die Ausführung dieser Spannung verlangt eben mehr als nur simple Texttreue: Sie verlangt eine konkrete klangliche Umsetzung. Gemeint ist hiermit weniger eine ideologisch/sachlich anmutende Positionierung, sondern eine konkrete Realisierung für die Ohren der Zuhörer.
Gerade deshalb irritieren mich Vergleiche mit Aufnahmen, die bei aller formalen Richtigkeit für mein Empfinden nicht das musikalische Gewicht und die organische Kraft der Karajan’schen Lesart besitzen. Natürlich kann man andere Deutungen vorziehen – auch ich höre Böhm mit großem Respekt –, aber wenn ich höre, wie bei Karajan in Tokyo das Allegro der 1. Sinfonie mit innerer Glut aufgeladen ist, wie sich der Spannungsbogen organisch entwickelt, wie Klang, Struktur und Ausdruck eine Einheit bilden – dann erscheint mir das als gelebte Musik, nicht als Thesenarbeit.
Hier erlebe ich eine glutvolle Innenspannung, ja, eine inneres Leben und Pulsieren, wie ich es z.B. bei Böhm sehr viel weniger höre. Ich möchte mich dem vernichtenden Urteil Celibidaches über Böhm nicht anschließen, der behauptete, dass Böhm in seinem Leben niemals einen Takt Musik dirigierte. In dieser Einseitigkeit ist für mich die Aussage zwar polemisch überspitzt, aber ich höre manchmal gewisse Ansätze, bei denen ich geneigt bin, seinem Urteil zuzustimmen. Für Böhms Schubert gilt das definitiv nicht. Fakt ist aber auch, dass Celibidache zwar Karajans Eitelkeit anprangerte (war er denn nicht auch etwas eitel...?), seine Begabung und Musikalität aber nie in Zweifel zog. So einen Satz wie zu Böhm kam ihm über Karajan dann doch nicht über die Lippen...
Wenn wir in Brahms’ Partituren schauen – und hören –, zeigt sich eine eigenständige, warmdichte Klangwelt, die ihre eigenen Gesetze hat.
Aus eben dieser musikalischen Struktur heraus erlebe und verstehe ich Brahms als einen Komponisten, der sehr wohl ein tiefes Bedürfnis nach Klangfülle, Wärme, innerer Bewegung und orchestraler Gravität hatte.
Karajan gelang es meines Erachtens in der besagten Tokyo-Aufnahme, genau diese Dimension einzufangen – mit einem Klangbild, das Brahms’ Neigung zu dunklem, sattem Timbre ebenso Rechnung trägt wie seiner strukturellen Durchdringung. Die musikalischen Übergänge sind dabei keineswegs verschwommen, sondern organisch gestaltet, unter einem großen, atmenden Bogen gehalten. Wenn also gesagt wird, Karajan dirigiere Brahms hier „wie Bruckner“, dann mag das auf bestimmte interpretatorische Gemeinsamkeiten zielen – aber es trifft das Wesen der Darbietung, wie ich sie höre, nicht. Brahms ist hier Brahms – nur vielleicht einer, der nicht auf analytische Transparenz getrimmt wurde, sondern einer, der aus seiner klanglichen Substanz heraus leuchtet und bewegt.
Karajans Klang erscheint mir hier nicht „bombastisch“, sondern eher als musikalisch geradezu notwendig, weil er den sich aus der musikalischen Struktur herzuleitenden Tiefgang hörbar, ja greifbar macht. Ein kongenialer Dirigent wie Karajan fungiert hier als ein Werkverwirklicher. Seine Brahmsinterpretationen sind nicht nur Illustration, sie sind eine konkret erfahrbare Realisierung des künstlerischen Impulses des Komponisten.
Man mag über Karajan streiten – aber sein Brahms ist hier definitiv kein ästhetisches Missverständnis.
Im Gegenteil: Es ist eine aus dem Vollen schöpfende Musik, die nicht erklärt, sondern wirkt. Und genau darauf kommt es wohl am Ende des Tages an, denn warum sollte man sich eine Musik anhören, wenn es nicht um deren Wirkung ginge?
Wenn es um große Musik geht, sind Klang und Musikalität aus meiner Perspektive die entscheidend Faktoren – weniger philosophische Theorien oder Zuschreibungen, so interessant und bereichernd sie für eine intellektuelle Diskussion auch sein mögen.
Man kann sicher auch eine Symphonie durch die philosophie Brille versuchen zu lesen, sollte dabei aber meiner Ansicht nach im Auge behalten, dass romantische Musik vor allem sinnenhaft und klanglich-gefühlt wirkt – und dass eine Interpretation, die rein über rhetorisch-philosophische Konzepte "funktioniert" oder "stimmig" ist, den Hörer im schlimmsten Fall hinter einer intellektuellen Fassade zurücklassen kann.
Ich habe mir einige der als Gegenbeispiele "in Stellung gebrachten" Aufnahmen in Auszügen angehört und fand vieles daran ernüchternd, gar enttäuschend. Doch möchte ich mich auf eine Diskussion darüber nicht einlassen, weil es mir weniger gefällt, zu vereissen, als zu loben, was mich möglicherweise von einem amerikanischen YouTube-Rezensenten unterscheiden mag...
Gerade wenn es um Musik der deutschen Romantik geht, finde ich, dass diese Musik auch klar und unmittelbar ergreifen und erfüllen kann und sollte, auch ohne intellektuelles Übersetzen.
Wenn man durch die Musik in alle möglichen seelischen Welten und Zustände versetzt werden möchte, ist Brahms trotz seines Festhaltens an klassischen Formen ein idealer Komponist, vielleicht sogar menschlich ansprechender als der in Blöcken schreibende Bruckner. Karajan konnte bei den Brahms-Symphonien - und hier insbesondere bei diesen Aufführungen der Ersten in Tokyo- als ein für meine Begriffe kongenialer Vermittler fungieren.
Eine abschließende Bemerkung:
Wenn ich sehe, wie sich bei meinen sporadischen Postings immer recht schnell alternative Aufnahmen ins Feld geführt werden, die (für mein Empfinden) gar nicht einmal notwendigerweise dieselbe Qualität erreichen (vor allem Abbado ausgenommen) frage ich mich schon, ob es in diesen Diskussionen immer wirklich ums Hören geht – oder eher um das bessere Argumentieren.
Manchmal scheint es, als müsse die Begeisterung erst durch den Filter theoretischer Reflexion validiert werden – dabei darf sie doch auch einfach aus der Musik selbst erwachsen.
Das möchte ich – ganz ohne Polemik – anmerken.
Vielleicht dürfen wir ja alle hin und wieder mehr einfach Hörer sein.
Gruß
Glockenton