Lieber Glockenton,
vor "Streit" habe ich als philosophischer Liebhaber der alten Griechen so gar keine Angst! Wie schrieb doch einst Heraklit: "Der Streit ist der Vater aller Dinge..." Und ich finde es schade gerade in Foren, wenn man über die ernsthaften Fragen der Interpretation und Ästhetik nicht mehr diskutieren kann, weil man dem Streit aus dem Weg geht. Unnötig ist das Streiten dann nicht, wenn es zu einem besseren oder klareren Verständnis der Sache führt oder auch klar macht, dass man über bestimmte Dinge auch anders denken kann! 
Lieber Holger,
da bin ich ja erleichtert
Im Jazz gibt es den Begriff des dirty playing. Ich stelle mir nun vor, Du gehst mit großer Überwindung in ein Jazz-Konzert und ärgerst Dich hinterher über diese "peinliche Konzert-Katastrophe", weil die Musiker ihre Töne nur "dirty" und nicht schön und perfekt "clean" spielen können, wie Du es von Karajan gewohnt bist. Dann sprichst Du hinterher mit den Musikern. Die hören sich Deine Kritik interessiert an und geben Dir schließlich die folgende Antwort: "Wir haben Dich gut verstanden. Du beschreibst tatsächlich genau, wie wir spielen. Nur solltest Du wirklich besser in ein Karajan- oder Rattle-Konzert gehen, weil Du schlicht überhaupt nicht verstehst, worum es im Jazz eigentlich geht!"
Naja - es ist schon ein Unterschied, ob man bewusst dirty spielt ( z.B. auf gewissen Noten bei der Flöte oder dem Saxophon mit- hineinsingt, was dann einen bewusst schmutzigen Klang hervorruft, weil man ihn so haben will. Ich habe im Leben auch schon Jazz oder jazzig öffentlich gespielt und liebe es oft, dem Chick Corea zuzuhören.
Bei dem Konzertmitschnitt der Eroica wurde ja - aus welchen Gründen auch immer- ungewollt dirty gespielt. Das ist wie mit der Agogik: Entweder spielst du im Barock z.B. schwere Taktzeiten etwas länger zu Lasten der leichten Taktzeiten oder machst in der Romantik poco.rit. und dann wieder a tempo, oder du bekommst deine Noten einfach nicht zusammen, weil du keinen Puls im Körper hast, also eigentlich unrythmisch spielst, weil du unrythmisch bist.
Die Gründe für die miserable Aufführungsqualität bei dem Scherchen-Konzert mit dem Radioorchester können viele sein. Entweder können sie es nicht besser, sind quantitativ überfordert ( sehr frustrierend für Musiker) oder es waren kaum Proben möglich und das Orchester hatte die Symphonie nicht "drauf". Es ist am Ende müßig, darüber zu spekulieren.
In Ihrer Kritik setzen sie einfach das Technisch-Handwerkliche mit Ästhetik gleich. Kunst fängt aber da an, wo das schnöde Handwerk aufhört. Musik ist nicht die Perfektion eines Roboters, die das Leben in ihr tötet: Kunst ist Ausdruck und nichts als Ausdruck! Was ich mir unter größtmöglichem Ausdruck bei Beethoven vorstelle, das erreiche ich deshalb auch nicht mit den perfekt spielenden Berliner oder Wiener Philharmonikern, sondern mit so einen Rundfunkorchester, das sehr viel spielen und mehr spielen muss als so ein Elite-Orchester, als es bewältigen kann. Die Musiker machen Fehler - aber genau damit forme ich und bekomme meine Ausdrucksintensität!"
Ich hatte ja fast eine derartige Argumentationslinie erwartet, finde aber, dass sie auf schlechter Grundlage steht und deshalb ins Leere läuft.
Nein, ich setze nicht einfach das Technisch-Handwerkliche mit Ästhetik oder gar der Kunst selbst gleich.
Kunst fängt aber da an, wo das schnöde Handwerk aufhört.
Ja, unbedingt. Aber bevor sie denn anfangen kann, diese große Kunst, muss das Handwerkliche Fundament doch stimmen. Wenn Du es mir aus meiner eigenen Erfahrung als Musiker und dem was ich im Unterricht und in der Hochschule lernte nicht glauben kannst, dann kann ich noch Alfred Brendel anführen, der sagte, dass man ein Werk so gut kennen und handwerklich beherrschen muss, dass man plötzlich frei wird. Man kann es vergleichen mit dem Gleiten, in das ein Surfbrett kommt oder dem Fahrt eines Segelbootes, wenn der Wind das Schiff vorantreibt. Karajan nannte es in einer Festrede zu Gunsten Böhms "es spielt", d.h. man ist auf einem Stadium, wo der ganze Fleiß, das Üben, das Reflektieren vergessen werden kann, weil man es in den Teil des Gehirns gearbeitet hat, aus dem Heraus man Dinge automatisiert tun kann. Es ist wie das freie Sprechen einer Sprache.
Man kann ja auch mit der menschlichen Stimme einen starken Ausdruck machen wollen, also z.B. ein Schrei, Weinen, Schluchzen, Lachen.
Aber erst wenn man die Sprache und den Text wirklich beherrscht, kann man auch einen großen künstlerischen Ausdruck hinbekommen, wie wenn ein großer Schauspieler etwas von Shakespeare oder Goethe auf der Bühne "ist". Dann spielt "es" durch ihn, wir sehen nicht mehr den Schauspieler xy, sondern die Figur.
Das Handwerkliche Können und die Perfektion ist also zunächst einmal eine unbedingte Voraussetzung und keineswegs ein Hindernis für den starken künstlerischen Ausdruck. Das wird ja immer gerne polemisch gesagt, dass man da "kalte Perfektion" gegen den" wahren Ausdruck" (in aller Schwäche...) und mit allen Fehlern stellt. Rhetorisch gesehen ist das zwar geschickt, aber was den Prozess des Musizierens angeht, trifft es meistens so nicht zu. Es gibt einen Fall, bei dem es zutrifft: ein Orchester aus Leuten, die eigentlich noch nicht wirklich gut spielen können, werden vom Dirigenten auf 100% Perfektion gedrillt, aber dieses Bemühen, alle Noten richtig und zusammen zu spielen, zerstört am Ende den künstlerischen Ausdruck.
Bei Orchestern wie den Berliner oder den Wiener Philharmonikern ist das aber absolut NICHT der Fall.
Diese ( jetzt auch) Damen und Herren sind derart gut, dass sie fehlerfrei und mit größtmöglichem Ausdruck spielen können.
Kunst fängt also da an, wo das schnöde Handwerk aufhört - richtig!
Ein schönes Gebäude eines begnadeten Architekten fängt jedoch nicht mit den kunstvollen Stuckverzierungen an den Decken der Räume an. Vielmehr steht es auf einem soliden Streifenfundament aus B25-Beton. Die künstlerische Entfaltung ist leider nichts, wenn die substanziellen Grundlagen fehlen. So brutal sind leider die Wahrheiten in unserem Musikergeschäft.
Oder noch einfacher gesagt: Gut gewollt ist noch lange nicht gut gemacht.
Ich glaube auch nicht, dass der gute Herr Scherchen mit dieser Eroica-Aufführung zufrieden war, weil er - ach wie schön- mit den Fehlern der Musiker "die Ausdrucksintensität des Werkes formen konnte". Viel eher gehe ich davon aus, dass er, der Verzweifelte, sich im Künstlerzimmer den Schweiss wegwaschend, mehr als einmal ganz ganz schlimme Worte in den Mund nahm, die dieses Forums hier nicht würdig wären...
Hier darf ich Dir verraten (was ich oben irgendwo schon getan habe), dass ich diese Cassette von einem international bekannten Dirigenten zugesandt bekommen habe. Der wird Dir ganz bestimmt in Deinem Urteil nicht zustimmen! 
Sehr schade, dass so ein Termin nicht möglich ist. Es kann da in fachlicher Hinsicht, also bei den Grundlagen wie misslungener Intonation, oftmaliger Abwesenheit eines normal homogenen Klangbildes, eklatantem Nicht- Zusammensein und Verschlucken von Tönen keine verschiedenen Meinungen geben. Sauer intoniert ist sauer intoniert, nicht zusammen ist nicht zusammen, falscher Ton ist falscher Ton usw.
Ich sehe es auch als Mißverständniss an, das Hineinrufen wie in einer Probe ( Respekt vor dem Publikum sieht anders aus, btw.) als besonders intensiven Ausdruckswillen sich schön zu reden. Das ist doch eindeutig pure Verzweiflung und Panik angesichts der gefährlichen Lage, dass es eben nicht sicher ist, ob man das Konzert überhaupt ohne anzuhalten oder abbrechen zu müssen bis zum Ende wird spielen können.
Man hat sich hier hörbar durchgewurschtelt. In solchen für den Musiker Panik erzeugenden Situationen noch leidenschaftlichen Ausdruck hier und da einzufordern, grenzt schon bald an Unmenschlichkeit. Wie soll man expressiv spielen, wenn das Fundament wackelt, wenn man nicht die Töne sauber greifen kann, weil man nicht üben konnte, wenn man noch Probleme mit Einsätzen, der Rhytmik oder dem Zusammenspiel hat. Das geht doch einfach nicht.
Bei den Berliner Philharmonikern unter Karajan war die Situation so anders wie sie nur sein kann.
Man hat seit Jahrzehnten täglich miteinander gearbeitet, auch an diesen Werken.
Karajan brauchte ganz bestimmt nicht "EINS" brüllen, denn die wussten schon, wo die Eins im Takt war...
Er taktiert sichtbar nur, wenn es notwendig ist, wenn das Orchester es braucht, dann jedoch sehr wuchtig. Ansonsten moduliert er den Klang mit der Hand. Wie er das machte, ist bis heute den großen Dirigenten wie Thielemann oder Rattle ein Rätsel. Ebenso ist es für sie unfassbar, dass er diesen engen Kontakt zu den Musikern beim Musizieren hatte, ohne sie anzusehen.
Die Lösung für das Rätsel hat Karajan oftmals in Interviews usw. eigentlich genannt: enorme Konzentration.
Mit Hilfe diese enormen Konzentration, die er hatte und auf seine Musiker übertragen konnte, war es möglich, leidenschaftlichen Ausdruck mit großer Handwerklicher Präzision und Meisterschaft zu verbinden. Man kann übrigens nicht wirklich diese Dinge wie Expression vs Handwerk gegeneinander ausspielen. Für einen gewissen Klang - wie eben bei meiner Lieblingsstelle, die mit dem Oboensolo anfängt- braucht es eine Vielzahl von Dingen, die man handwerklich beherrschen muss, während man gleichzeitig künstlerisch und emotional expressiv spielt. Das kann man in Wirklichkeit nicht trennen.
Man kann Handwerk und künstlerische Expression nur dann trennen, wenn man mechanisch Tonleitern rauf - und runterspielt, einfach um die Skalen in die Finger zu bekommen. Dann ist es Handwerk. Aber allein schon die durchaus sehr schweren pianistischen Einspielübungen des Johannes Brahms können durchaus auch als große Kunst vorgetragen werden. Dafür muss man es dann auch spielen können...
Diese Dualität "Scherchen = Ausdrucksmusiker mit Ecken und Kanten" versus "Karajan, der alglatte und eiskalte Perfektionist, der uns brilliantes Handwerk statt expressive Kunst vorsetzte" wäre dann also nur rhetorisch- argumentativ konstruiert. Es klingt für Laien nachvollziehbar. Da diese Argumentation mit der Wirklichkeit des Musikmachens aber wenig zu tun hat, und tatsächlich ein gutes Zuhören der oben genannten Eroica unter Karajan eh diese Anwürfe von glatter Kaltperfektion entkräften sollte, scheitert dieser Argumentationsversuch dann doch eindeutig.
Da müsstest Du jetzt erst einmal erklären, warum diese Studioaufnahmen vom Niveau her unter dem von Leibowitz sind!
Das ist ja nun nicht richtig so. Diese Studioaufnahmen mit Scherchen kenne ich gar nicht, und habe mich ausdrücklich nicht auf sie bezogen, also muss ich das gar nicht erklären. Mein Satz war doch klar: es geht nur um eben jene Live-Aufführung, über die wir hier reden. Und da gibt es ja offensichtlich eine CD, die das dokumentiert, was ich aus Beitrag 459 des Klassikfans1 entnahm.
Aus diesem Grunde wunderte es mich, dass so ein Konzert seinen Weg auf eine CD geschafft hat. Wäre ich Scherchen, hätte ich jede Verbreitung dieser Aufführung strengstens untersagt....
Ebenso sehr wundert es mich, dass das 100-Jahr-Jubiläumskonzert des BPO es NICHT auf die CD und die Blue-ray etc. geschafft hat, denn das wäre ein echter Gewinn.
Ich werde Karajan immer verteidigen, wenn man ihn darauf reduziert, nur einen "Sound" zu produzieren. Das ist für mich dann Ressentiment verdächtig. Eine eigene Klangästhetik zu kreieren, ist wirklich eine Leistung! Nur darf der Rausch auch nicht zum Selbstzweck werden und die eigentliche Aussage der Musik verdecken. Wenn ich mich nur daran berausche, wie perfekt Karajan seine Instrumentengruppen ausbalanciert, aber nicht mehr über den Sinn nachdenke, der in der Musik selber steckt, dann ist irgend etwas in so einer Rezeption schief gelaufen!
Das ist alles richtig, aber ich kann Dir versichern, dass sich mir beim Hören der Symphonie unter Karajan schon der Sinn des Werkes erschließt, ich mich also nicht nur an Klangbalance und edel-schönem Klangbild berausche. Ja, ich berausche mich durchaus , aber an der Musik selbst, an den Melodien, an den Harmonien, an den Rhythmen und an den Aussagen dieses Werkes, der durch den Zusammenhang und durch die Details erkennbar wird. Ich behaupte jetzt einmal, die Sprache der Musik auch hier und da etwas zu verstehen. Es kann von ihm Karajan Aufnahmen geben, wo einen das Gefühl von "Klangstrom als Selbstzweck beschleicht". Doch das trifft auf diese Live-Eroica, die ja zum 100. Jubiläum des Orchester sicherlich mit besonders großer künstlerischer Hingabe und keineswegs mit kalter Routine heruntergedudelt wurde, ganz sicher nicht zu. Gerade deswegen mag ich ja auch dieses Ton- und Bilddokument so sehr. Hier wird mit großer Leidenschaft und mit enormen Ausdruckswillen- und -kraft ein sehr einzigartiger Beethoven geradezu zelebriert. Es ist ein Hochfest der Kunst, ein Glücksfall für den Beethoven-Freund.
Wenn man nun andere Ansätze, wie z.B. von Abbado oder Harnoncourt dem entgegenstellt, dann kann ich das als selbstverständlich legitim verstehen. Man kann und darf das Werk auch anders auffassen, und das kann ich dann auch mögen, vor allem Harnoncourt, der diese ganzen Dinge, die Du als humoristisch und dergleichen beschreibst, sehr deutlich herausspielt. Er lässt z.B. vor dem bewussten TamTamTam am Anfang des Finalsatzes auch etwas zeitliche Luft, so dass diese Stelle deutlicher in der von Dir gewünschten Richtung verstanden werden kann. Vielleicht würde Dir seine Sicht auf die Eroica gefallen.
Aber: Er und die Musiker des Chamber Orchestra of Europe können dieses Ausdruck ( und der enorme Ausdruckswille Harnoncourts ist ja zurecht legendär) auch auf die Bühne bringen, und wie!
Die Voraussetzungen dafür sind hier vorhanden. Bei dem italienischen Radioorchester war es bei diesem Konzert keineswegs so. Deswegen finde ich, dass man so eine Aufnahme nicht ernsthaft gegen ein derart in allen Aspekten gelungenes Konzert wie es das BPO zum 100. Jubliläum spielte, anführen kann. Das ist dann für mich nicht mehr im Bereich dessen, was man diskutieren kann.
Bei dem von Dir angeführten Abbado-Konzert ist es anders. Mich überzeugt dieser recht zurückhaltende Ansatz nicht, aber es wurde auf jeden Fall sehr gut und in sich schlüssig gemacht. In sich ist das Konzept sogar ganz hervorragend umgesetzt worden, weswegen ich selbstverständlich auch so ein Dokument als vergleichbares Gegenbeispiel ansehen kann, auch wenn ich da den energetischeren Stil Karajans als für die Eroica besser geeignet empfinde.
Es gibt ja Richard Wagners Schrift über das Dirigieren. Da stilisiert er sich selbst als der Antipode zu Mendelssohn. Mendelssohn dirigierte anders als Wagner immer eher zügige Tempi und ein gleichmäßiges Grundtempo. Leibowitz dirigiert also in der Mendelssohn- und nicht der Wagner-Tradition. Du als Wagnerianer wirst das selbstverständlich alles als "gehetzt" empfinden. Das ist aber nur Ausdruck Deiner Prägung! 
Das gleichmäßige Grundtempo ist ein sehr deutliches Kennzeichen des karajanschen Beethovenstils, ja seines gesamten Musizierens. Das Verzögern und Antreiben, die langen Fermaten usw..... die wirst Du vor allem bei Thielemann ( weniger bei Celibidache) und eben bei Furtwängler finden. Von daher stehen dann Furtwängler und Thielemann in eben dieser Wagnertradition.
Was mich anbetrifft: ich bin durchaus zum Wagnerianer geworden und habe heute in der Messe harmonisch usw. viele Anklänge an Wagners Stil gespielt, gerade was den Parsifal angeht. Aber ich bin auch sehr geprägt von Harnoncourts Klangrede, die ein besseres Verständnis der sprechenden Musik ermöglicht. Karajans Stil ist für mich da kaum einzuordnen. Er dirigiert seinen eigenen Karajan-Stil, den ich aus Platzgründen hier nicht noch weiter beschreiben möchte. Auch der prägte mich auch, weil er ja der Herzog des Legatos ist und die großen Zusammenhänge verstehbar machen konnte ( viele andere Gründe mehr). Aber auf den Wagnerianer alleine möchte ich mich hier nicht reduziert sehen. Ich passe nicht in jene Schubladen und bin kein Opfer meiner eigenen Prägung, welche mir den Blick auf die große künstlerische Wahrheiten anderer Musiker grundsätzlich verstellt. Ich habe von sehr unterschiedlichen Interpretations und Kompositions/Arrangier-Schulen gelernt und integriere das in meinen eigenen Stil auf der Orgel und etwas auch auf dem Klavier. Da bin ich schon noch musikalisch wach im Kopf.
Der Grund, warum ich die Leibowitz-Aufnahme als verhetzt empfinde: Verschiedene Tongruppen so wie der harmonische Rhythmus dieses Werkes brauchen ein gewisses Tempo, um ihre gestisch-kinetischen Energien aufnehmen und wieder abgeben zu können. Es funktioniert nicht, wenn es zu langsam gespielt wird, aber eben auch nicht, wenn man es zu schnell angeht. Dann herrscht eine gewisse Rastlosigkeit vor, und die einkomponierten Akzente können nicht mehr ernst genommen werden. Man erfährt sie als irritierenden Ausdruck von motorischer, gar notorischer Nervosität, weil die menschliche Möglichkeit, sie imaginär als geatmet, gar gesungen auffasen zu können, entfernt wurde. Das, so finde ich, wird dem Werk des Humanisten Beethovens nicht gerecht, und das wird die Zeiten auch eher nicht überdauern können.
Mein Zitat
"Warum erzähle ich das? Weil diese zweite Interpretation meines Erachtens auch ganz schnell wieder in der Vergessenheit verschwinden wird, was bei Solti oder gar bei Böhm nicht der Fall sein dürfte. Karajans Sternstunden ( und diese Eroica ist zweifelsohne eine ) sind bis heute zurecht legendär umschwärmt ( auch sein Neujahrskonzert, oder seine letzte Bruckner 8 in der Carnegie-Hall mit den Wienern)
bezog sich auf einen mir unbekannten HIP-Dirigenten, dessen Spielweise ich beim Anhören einer BBC-Dokumentation über die Interpretation der Jupiter-Symphonie Mozarts im Vergleich zu Soltis Einspielung kennenlernen und erleiden musste. Es ist sachlich tatsächlich falsch, das in einem Zitatkasten mit meinen Aussagen zur Beethoven-Eroica unter Leibowitz zusammenzustellen.
Mir war mit dem Exkurs zur Jupiter-Symphonie etc. wichtig herauszustellen, dass es durch die Zeiten verschiedene Interpretationsmoden gibt, die kommen und wieder gehen. Mode hat ja sprachlich etwas mit "modern" zu tun.
Für mich ist tatsächlich Karajans Beethovenweg ziemlich modern aber gleichzeitig teilweise auch zeitlos, eben weil er hauptsächlich sein eigenes Verständnis dieser Musik ( welches an sein Grundverständnis jeder Musik gekoppelt war) umsetzte, und weil er Dinge tat, die immer auch ihre Gültigkeit behalten werden.
Er hat, so wie ich es sehe, weder Furtwängler noch Toscanini zum direkten Vorbild gehabt, sondern seinen Stil mit den Jahren als akribischer Arbeiter selbst entwickelt. Als 10-jähriges Kind war ich begeistert, als mein Vater eine neue LP ins Haus kaufte. Es war die 5. von Beethoven mit Karajan. Natürlich kannte ich die Musik schon von anderen Platten, aber Karajans Weg habe ich als wirklich "modern" (nicht modisch) verstanden, während mir die langsam wuchtigen Furtwängler-Sachen dagegen als "alt" und überholt im Sinne des "Gaslichts" vorkamen.
Doch wann überdauert ein Stil, eine Mode usw. die Zeiten? Wenn es richtig gut ist, auf seine Art, und wenn es aus dem Werk heraus gesehen, auch verteidigt werden kann.
Das ist bei Furtwängler für die Fans immer der Fall, für mich jedoch eher manchmal. Das Gleiche gilt für mich, wenn es um Karajan geht. Er hat jedoch Vieles hinterlassen, was auch heute noch nicht nur Bestand hat, sondern hier und da als unerreicht gelten kann. Wer z.B. seine DG-Aufnahme mit der "Finlandia" ( Sibelius) kennt, sollte wissen, was ich meine.
Hinsichtlich der sich erschöpfenden Schocks bei der 39 -41 von Mozart bei der Live-Aufführung mit Harnoncourt und dem Concentus waren wir uns damals in der Bewertung sehr einig, was man auch bei Tamino nachlesen kann.
Da wundert es mich, dass Du das jetzt argumentativ anders herum angehtst. Dialektik?
Und von daher sind die scharfen Kontraste ff - pp etc. auch keine bloß affektiven Knalleffekte. Wenn man das so als barocke Affektivität interpretiert (Harnoncourt etc.), wie Du das immer tust, dann verkennst Du auch hier den Ausdruck von Subjektivität, der eben nicht barock, sondern originärer Beethoven ist. Als musikhermeneutischen Schlüssel hat man da u.a. Friedrich Schiller zur Verfügung, das, was Schiller das "Sentimentalische" nennt. Zum Sentimentalischen gehört die Überspanntheit: das Subjekt ist in einem Moment himmelhoch jauchzend und gleich im nächsten zu Tode betrübt. Und genau das hebt die zeitgenössische Beethoven-Rezeption auch hervor (siehe mein Zitat!) Wenn man das ästhetisierend glättet, dann ist das ästhetisch betrachtet eben eine Glättung gerade auch des "Klassischen" bei Beethoven! Das kennzeichnet eine romantisierende Interpretation, welche die Affektiertheit verabscheut.
Nein, so sehe ich das doch gar nicht. Auch Harnoncourt würde sich dageben verwahren, dass es ihm bei Mozart um affektive Knalleffekte ginge. Da geht es um eine aus seiner Sicht in die Extreme getriebene Klangrede, eine Rhetorik, die geradezu ausdruckssüchtig ist, nach Ausdruck giert. Wenn ich das höre, gebe ich ihm zwar von der Artikulation, der Phrasierung und durchaus auch bei den Tempi recht, finde aber, dass ein Weniger bei den FF-Akzenten etc. mehr gewesen wäre.
Auch bei diesem Konzert gerät das Fundament eines kultivierten Orchesterspiels ins Wanken. So sind die armen Musiker oftmals einfach nicht zusammen, zwar nicht so katastrophal ohrenfällig wie bei diesem oben genannten Radioorchester, aber eben doch. Auch ein homogener Orchesterklang wird dann zunehmend als abwesend vermisst.
Das ist bei Harnoncourts früheren Mozart-Aufnahmen nicht so. Und der Concentus unter Harnoncourt hat auch früher in unzähligen sehr guten Aufnahmen bewiesen, dass man den starken Ausdruck auch ohne Abstriche bei den Grundlagen hinbekommen kann. Für mich liegt der Grund für diesen unkultivierten Mozart-Klang dieses einen Konzerts auch darin, dass Harnoncourt im Alter etwas aus der Balance zwischen den verschiedenen Aspekten, die es auszutarieren gilt, geraten sein mag. Auf der CD ist es übrigens schon besser, warum auch immer. So live ist der Mitschnitt dann wohl doch nicht. Nur die Live-Übertragung bei Arte hat es dann deutlich gemacht.
Damals waren wir uns darüber einig....
Doch zurück zu Beethoven:
Natürlich verstehe ich den Unterschied von Mozarts und Beethovens Klangsprache. Beethoven verwendete noch die Elemente der von Monteverdi und Schütz herkommenden Klangrede um sie mit ihren ureigenen Mitteln letztendlich zu überwinden, siehe das sangliche Thema im Schlusssatz der Neunten. Aus Sicht eines Barockkomponisten oder auch aus Haydns Sicht müsste Beethovens Klangrede als Verballhornung derselben geklungen haben.
Wir jedoch hören heute sozusagen mit anderen Ohren, weshalb ich eine bewusste Betonung der für die damalige Zeit unerhörten Schocks nicht so gut finde. Man kann es spielen, aber nicht mit dem schulmeisterlichen Zeigefinger.
Warum meinst Du, Barockmusik transzendiere die Zeit nicht?
Das habe ich doch gar nicht behauptet. Die Barockmusik Bachs transzendiert oft und weist über seine eigene Zeitepoche hinaus, was insbesondere bei der Kunst der Fuge der Fall ist, bei der er stilistisch oft in die Vergangenheit ging, aber gerade im letzten Ricercare Dinge schrieb, die erst wieder bei Schönberg auftauchen.
Er ist in vielen Werken so gut, dass es mehr ist, als nur Barockmusik. Bei seinen Klavierwerken empfinde ich es deshalb als möglich, diese auf dem Steinway zu spielen, obwohl er das Instrument nicht kennenlernen konnte. Auch der Steinway steht für eine gewisse Zeitlosigkeit. Man kann auf ihm Gibbons, Jazz, Pop.....alles Mögliche spielen, und es kann überzeugen. Sein Klang mischt sich nicht mit Orchesterinstrumenten, sondern beim Spielen kommen Vorstellungen von Streichern, einer Oboe, einer Klarinette oder vom Schlagwerk auf, je nach Können und Spielweise.
Die Barockmusik eines Heinrich Schütz transzendiert in das Werk Brahms und sogar Wagner hinein. Bei Brahms ist es sehr deutlich zu erkennen, z.B. beim Requiem bei der Stelle "Ja, der Geist spricht...." im letzten Chor "Selig sind die Toten", ein Text den auch Schütz ganz wunderbar, aber doch auch sehr anders in Musik umsetzte. Bei Brahms sind es da z.B. die Bläsereinsätze, ganz wunderbar in Abbados zwei Aufnahmen mit den Berliner Philharmonikern zu hören.
Sollte man nun Schütz deshalb so wie Brahms spielen dürfen?
Nein, weil Brahms doch seine Schütz-Liebhaberei in seinen Brahms-Stil integrierte. Noten können ähnlich sein ( nicht harmonisch, Brahms ist da natürlich romantischer).
Aber es ist von der Spielweise und der Kompositionstechnik doch aufgrund des langen Zeitabstands sehr entfernt. Schütz sollte man mit alten Instrumenten und historisch informiert aufführen, so wie es Frieder Bernius oder Hans-Christoph Rademann machen.
Jetzt wirst Du dann einwenden, warum man dann einen Wagner-ähnlichen Klang bei Beethoven spielen dürfe, so wie es Karajan tat, wenngleich er nicht in dieser wuchtigen und agogischen Furtwängler-Thielemann-Tradition stand.
Weil die Beziehung zeitlich und stilistisch gesehen Wagner-Beethoven nicht so weit auseinander ist, wie Schütz-Brahms. Das gilt nun nicht grundsätzlich, sondern in gewissen Aspekten.
Ohne Noten und Taktangaben kann man das nicht belegen. Das würde hier zu weit gehen. Es gibt da eine Hörner-Stelle aus dem Trauermarsch zu gehenden Bässen und ebenso gehenden Orchesterakkorden, welche auch harmonisch usw. von Wagner hätte sein können. Es ist natürlich anders herum richtig. Wagner benutzte diesen "Trick" auch deshalb, weil er es von Beethoven her kannte.
Beethoven steht als eine Art Brücke zwischen der rhetorischen Musik vom Barock bis zu ihm hin. Seine Musik ist eindeutig auch rhetorisch. Aber, er hat seinen anderen Brückenarm auch in die späteren Stile ausgestreckt.
Ich muss da vorsichtig sein, wenn man von "der Romantik" spricht, weil es sie von der harmonischen und stilistischen Analyse her schlichtweg nicht gibt. Jeder Komponist hat seinen sehr speziellen stilistischen Weg gefunden, romantisch zu schreiben.
Man kann da auch nicht mit dem Kalender dahergehen und sagen, da gab es aber doch noch Schubert und Mendelssohn etc.
Die romantischen Komponisten habe sich von den Alten das ausgesucht, was ihnen als verändertes Element ihres individuellen romantischen Stils gut gefiel. Von daher sind sich Beethoven und Wagner schon nahe, wenn auch Jahre und andere Komponisten und andere äußere Musikformen dazwischen zu liegen scheinen.
Auch das Apodiktische in der Aussage haben Beethoven und Wagner gemeinsam.
Moderne hat bei mir durchaus auch seinen Stellenwert. Ich habe oft etwas von Debussy gespielt, mit großem Vergnügen. Zudem bin ich ein Fan von Durufly und eben auch dem teilweise an Bartok erinnernden Chick Corea. Von allen habe ich schon Sachen auf eigene Intitiative hin aufgeführt. Auch hier möchte ich nicht so gerne irgendwo hingesteckt werden.
Damit will ich es hier belassen.
Sicherlich gäbe es bessere Momente, um aus einer Diskussion auszusteigen. Aber ich spielte heute meine letzte Messe ( mit vielen Anklängen an Parsifal-Harmonik...) vor dem Urlaub. Ab jetzt muss ich mich auf die große Fahrt mit Campingwagen usw. von Sarpsborg nach Bodø vorbereiten.
Während der nächsten drei Wochen kann ich zwar hin und wieder Tamino mitlesen, aber nicht schreiben, weil ich keinen PC mitnehme und solche Texte auf keinen Fall mit dem Mobiltelefon schreiben könnte. Zudem würde ich Schwierigkeiten mit meiner Frau bekommen....
Alles Gute nach Münster
und auch einen schönen Sonntag an alle
Glockenton