Erst jetzt finde ich die Zeit, hier weitermachen zu können.
Wir waren immer noch bei der ersten Arie.
Harnoncourt:
Das Orchester spielt gewohnt sehr an der Gestik der Klangrede orientiert. Was haben die Figuren zu bedeuten, wie spielt man Artikulation, Phrasierungsdynamik, Einzeltondynamik, expressiver Vibratoeinsatz, welche Auswirkungen hat die harmonische Progression auf die Dynamik, welcher Affekt(e) wird hier zum Ausdruck gebracht? All diese Fragen und wohl (noch viel mehr) hat man sich gestellt und ist zu ausdrucksfreudigen, eben "Harnoncourtigen" Lösungen gekommen.
Als diese Aufnahme herauskam, schwang auch immer ein gewisser pädagogischer Effekt mit. Kein Mensch hatte vorher diese Kantate auf alten Instrumenten und vor allem mit dem historisch inspirierten, aber durchaus auch sehr persönlich durch Harnoncourt geprägten Interpretationsstil gehört. Der klangliche und musikalische Unterschied zu früheren Richter/Rilling-etc- -Aufnahmen wird gewaltig gewesen sein.
Demgegenüber nehmen Herreweghe und Suzuki in ihren wesentlich später entstandenen Aufnahmen diesen Neuheitsaspekt zurück. Die Verwendung von alten Instrumenten hat sich durchgesetzt - es klingt einfach überzeugender- und etwas von dem Wissen über barocke Artikulation, Phrasierung und Dynamik hat sich dankenswerterweise herumgesprochen. Suzuki und Herreweghe können sich mehr auf den expressiven Teil, auf die Textauslegung konzentrieren und versuchen, durch eine weichere und "luxuriösere" Klangästhetik tiefere Schichten der Komposition freizulegen, was ihnen bei dieser Eingangsarie auch gelingt.
Man muss natürlich sehen, dass bei Harnoncourt der Knabensopran Wilhelm Wiedl sang, während bei den Anderen in ihrer Ausbildung wesentlich weiter gekommene erwachsene Sängerinnen eingesetzt werden.
Der Junge hat dem gegenüber naturgemäß hörbare Nachteile hinsichtlich Linie, Luft, Intonation und auch innerer Reife.
Exkurs:
Es gibt in diversen Bachforen es Internets - aus meiner Sicht hoffnungslos durchgeknallte- Puristen, die die Verwendung solcher "Barocksängerinnen" als Sündenfall anprangern und es ebensowenig vertragen können, dass selbst Harnoncourt später - wie all die anderen- auf gemischte professionelle Chöre und professionelle, erwachsene Sängerinnen und Sänger setzte.
In halte das für einen großen Blödsinn, denn es sollte doch um eine bestmögliche Aufführung dieser hochwertigen Musik gehen. Die Ergebnisse Koopmans, Herreweghes, Suzukis und auch Veldhovens legen doch ganz klar dafür Zeugnis ab, dass die Idee, es mit Kindern und Knabenchören zu versuchen, zu mehr oder weniger nicht zufriedenstellenden Ergebnissen führte. Das kann man oft und durchaus zweifelsfrei beim vergleichenden Anspielen der Aufnahmen nachvollziehen, wenn man denn so etwas wie Intonationsschwierigkeiten, hackende Phrasierungen aufgrund musikalischer und technischer Schwierigkeiten und noch viel mehr hören kann. Einige hören es tatsächlich nicht, reden aber meinungsstark mit. Was soll man machen...
Natürlich war der Junge hochmusikalisch, und ja, ich könnte es nicht so singen, wie er es konnte, bin aber auch nicht Sänger sondern nur ein orgelnder Chorleiter...
Hätte ich so einen in unserer Kirche, dürfte er per sofort im Kirchenchor mitmachen. Aber hier reden wir ja von anderen internationalen Maßstäben.
3. Aria, Sopran "
Ich esse mit Freuden mein weniges Brot"
Der affektive Wechsel zur Eingangsarie ist sehr deutlich und wurde durch das überleitende Rezitativ vorbereitet.
Hier hört man dann das "Vergnügen"; jene vergnügliche Zufriedenheit, vielleicht auch eine gewisse fröhliche Geschäftigkeit, vor allem in der Violinstimme.
Suzuki:
Hier wird ein recht hohes Tempo gespielt und gesungen. Hört man erst Herreweghes Aufnahme und wechselt dann zur Suzuki-Einspielung, kann einem dieses Tempo geradezu absurd schnell vorkommen. Verzichtet man allerdings auf diese direkten Quervergleiche, dann fällt einem weniger auf, wie schnell es eigentlich ist, denn die Beteiligten spielen trotzdem nicht hektisch und beherrschen das Material souverän.
Wie Harnoncourt lässt auch Suzuki den Auftakt der Melodie an die darauffolgende Note bilden, was der Figur einen ländlich-tänzerischen Charakter verleiht. Mich überzeugt es.
Wie gesagt ist das technisch-musikalische Niveau sehr hoch und überzeugend.
Herreweghe:
...wählte hier ein etwas langsameres Tempo, welches eigentlich sofort überzeugen kann.
Im Unterschied zu Harnoncourt und Suzuki lässt er immer den 16`-Violon ( den Kontrabass) im Continuo mitgehen, wodurch das Klangbild voller wird, was ein Vorteil ist. Nachteilig kann dabei sein, dass ein ausdrucksvoller und individuell sprechender Continuobass leichter zu realisieren ist, wenn nur ein Violoncello plus Orgel eingesetzt wird.
Hier jedoch finde ich es durchaus ok - es ist ein wichtiger Aspekt des Herreweghe-Sounds.
Harnoncourt:
... musste bei der Tempowahl vielleicht doch etwas Rücksicht auf den Knabensolisten nehmen.
Instrumental finde ich es ebenfalls sehr schön, unter anderem auch deshalb, weil ich den Klang der Geige und des Violoncellos per sofort wie das Timbre eines Sängers als Alice und Nikolaus Harnoncourt identifizieren kann. Die hatten einen sehr eigenen Ton und eine mit ihnen auch von dieser Erde verschwundenen persönlichen Spielweise, die man schätzen kann. Es gibt allerdings im Kantatenwerk Arien, bei denen dieser Aspekt deutlicher hervortritt und mir dementsprechend wichtiger wird, als hier.
5. Schlusschoral:
"Ich leb indes in dir vergnüget"
Suzuki:
Da erst hier ein mehrstimmiges Vokalensemble von Bach verlangt wird, hat sich Suzuki dafür entschieden, den Schlusschoral solistisch singen zu lassen.
Die kantable und klangnervige Weise in der das hier geschieht, liegt für mich vor dem, was ich von Interpreten kenne, die grundsätzlich OVVP bevorzugen.
Hier gibt es nichts zu meckern: perfekte Intonation, schöne Linien, auch gut vom Orchester gespielt.
Herreweghe:
Die Verwendung von solistischen Sängern hätte wahrscheinlich nicht zum "Herreweghe-Sound" gepasst. Da Herreweghe mit dem Collegium Vocale Gent über eines der besten Bach-Gesangsensembles dieser Welt verfügt, ist das auch keineswegs zu kritisieren.
Man singt im Vergleich zu Suzuki etwas zügiger, auch nüchterner, ohne dabei diese "milde Spiritualität" zu verlieren.
In diesem Fall ziehe ich die sehnigere, "nervigere" Version Suzukis vor, die mit auch bei aller Gradlinigkeit etwas emotionaler engagierter klingt.
Aber Herreweghes Choräle sind ja meistens Musterbeispiele dafür, wie man es machen sollte - bloß nicht in die Falle der Überinterpretation einzelner Worte etc. gehen. Von daher: auch dieser Choral ist wieder einmal ganz vorzüglich gelungen.
Harnoncourt:
Hier singt der Tölzer Knabenchor.
Im Laufe der Harnoncourt-Aufnahmen gibt es wesentlich unkantablere Choräle, d.h. es ist so schlecht nicht.
Merkwürdig kann einem vorkommen, dass der letzte Ton von Phrasen irgendwie unnatürlich kurz daherkommt.
Ebenso klingt für mein Dafürhalten die dynamische Gestaltung "2 und 2" ( to og to, wie es im Norwegischen heißt), also schwer-leicht, schwer-leicht immer noch zu gewollt, wenn auch nicht mehr so übertrieben wie bei vorhergehenden Aufnahmen.
Fazit:
Dem Musiker empfehle ich, alle drei Aufnahmen zu kennen und zu studieren. Dem "normalen" und "geneigten" Hörer hingegen empfehle ich, sich die Suzuki- und die Herreweghe-Aufnahmen zuzulegen.
Zwar sehe ich in der Summe und nur hier sehr leichte Vorteile für Suzuki, aber die Herreweghe-CD stellt in ihrer Gesamtheit einen wirklichen Höhepunkt der Bach-Einspielungen Herreweghes dar, was vor allem an der Kantate "Christus der ist mein Leben" liegt, aber nicht nur.
Auch aufnahmetechnisch sind die Einspielungen Suzukis und Herreweghes ganz hervorragend gelungen, ebenfalls von der Sängerbesetzung her.
Zudem bin ich sehr froh, dass ich mich nicht zwischen diesen superben Aufnahmen entscheiden muss.
Ich konnte aus Zeitgründen in dieser Form nicht alle Sätze der Kantate besprechen, aber denke, es wird wohl möglich sein, sich anhand meiner Beschreibungen ein Bild zu machen.
Wer TIDAL, Spotify, Quobuz oder Apple-music hat, kann ja problemlos selbst hineinhören, wobei ich nur bei TIDAL sicher weiß, dass die Einspielungen auch vorhanden sind.
LG
Glockenton
PS: mit "nervigem" Klangbild beim Schlusschoral unter Suzuki meinte ich nicht, dass der Klang auf die Nerven geht, sondern energetisch ist, also "Nerven hat" bzw. "feinnervig" ist.