Lieber Leiermann,
bei "Carmen" spielt - wenn die Handlung nicht verzerrt wird - wohl eine Verschiebung um wenige Jahrzehnte nicht so die entscheidende Rolle wie z.B. in historisch betitelten Stücken, wie etwa "Nabucco","Die Trojaner", "Julius Caesar", "Attila" u.ä., wohl aber eine örtliche Verschiebung, wie die Verlegung in ein Bordell oder ein Fitnessstudio.
Wir wollen hier aber nicht wieder eine Diskussion über das Regisseurstheater entfachen. Ich weiß lediglich von Eltern, die den Versuch gestartet haben, ihr Kind an die Oper heranzuführen, ihm auch eine Einführung gegeben haben und dann gescheitert sind, weil auf der Bühne etwas gezeigt wurde, was mit dem Stück nichts mehr zu tun hatte. Das Kind hatte danach "die Nase voll" von der Oper. Nie wieder!
Meine Enkelin, die Grundschullehrerin ist, hat es bereit im ersten Schuljahr - also mit Sechsjährigen - auf spielerische Art versucht, sie an die klassische Musik heranzuführen, indem sie Ihnen ein klassisches Stück (etwa den Frühling aus die "Vier Jahreszeiten") kurz erläutert hat und sie dazu malen ließ, was sie bei der Musik empfinden. Ich glaube auch, dass häufigeres unterschwelliges Hören von Musik zu der Erkenntnis führen kann, sich einmal damit zu beschäftigen, wenn klassische Musik im Elternhaus gepflegt würde, wofür es ja heute viel mehr Möglichkeiten als zu meiner Jugend gibt. Es fehlt eben vielfach die Berührung damit. Ich habe meiner Enkelin einiges kindgerechte Material liefern können, ich weiß nur nicht, ob ggf die GEMA etwas dagegen hat, die ja auch schon mal für das Singen von Kinderliedern in einer Kindertagesstätte Geld haben wollte.
Vielfach sind ja auch diejenigen, die kaum etwas davon kennen, der irrigen Meinung, alle klassische Musik sei "schwere" Musik, was ja auch nicht generell der Fall ist. Gut, Mahler, Strauss u.a. eignen sich wohl kaum für einen Anfänger. Ich selbst habe auch erst mit leichteren Opern angefangen, Mozart, Lortzing, Flotow, einiges von Verdi usw.. Zu den Spätwerken von Verdi (etwa Aida, Otello, Falstaff) und Puccini hingegen habe ich auch erst etwas später Zugang gefunden. Interessanterweise aber war ich in meiner Jugend ein großer Anhänger von Wagner (ausgenommen Tristan und Isolde, die ich erst mit über 50 Jahren kennen und lieben lernte).
Auch der Wiedererkennungswert spielt sicherlich als Anregung bei Jugendlichen (wie auch bei Erwachsenen) eine wesentliche Rolle. Da du gerade Carmen erwähntest: Das Torerolied z.B. ist so populär geworden, dass es auch viele kennen, die sonst wenig mit klassischer Musik zu tun haben. ("Auf in den Kampf, die Schwiegermutter naht") Wer daher die Carmen einmal kennen lernt, die ja noch weitere zündende Melodien enthält, mag in dieser Oper sicherlich manche Anregung finden, die Klassik vielleicht doch etwas näher betrachten.
Ich habe meine Begeisterung für die Oper und später auch für andere klassische Musik auch auf meine Frau übertragen, die aus einem sehr ärmlichen Elternhaus kam und nur die Dorfschule in dem kleinen Dörfchen in der Voreifel genossen hatte, wo sie statt Wissen zu erweitern von der Lehrerin überwiegend nur nur Kochen und Stricken gelernt hatten. Selbst meine Schwiegermutter war später von der klassischen Musik, die sie vor meinem Eintritt in ihren Haushalt nicht kannte, immer wieder begeistert. Und in den letzten beiden Jahren haben wir eine Freundin(Witwe), die zu Lebzeiten Ihres Mannes, der weniger daran interessiert war, dazu anregen können, mit uns in die Übertragungen aus der MET zu gehen. Und sie ist uns jedesmal dafür dankbar. Daneben machen wir jetzt auch regelmäßig "Heimkino" mit Oper, Ballett und Konzerten von DVD.
Die klassische Musik wird wohl nicht untergehen, wenn alle von uns es schaffen würden, auch nur Einzelne, die diese nicht kennen, davon zu begeistern.
Liebe Grüße
Gerhard