Den geschichtlichen Rahmen der Oper bilden die Ereignisse in der Übergangsperiode zwischen dem mittelalterlichen und dem neuzeitlichen Russland im ausgehenden 17. Jahrhundert. Russland wird von Macht- und Richtungskämpfen erschüttert. In weltlicher Hinsicht geht es um den Konflikt zwischen der Aufrechterhaltung der autokratischen Macht der alten Fürstenhäuser (das „alte Russland“) und dem neuzeitlichen, westlich orientierten Russland, wofür die Regentschaft Zar Peters des Großen (das „neue Russland“) steht. Auf geistlich-religiöser Ebene kämpfen zur gleichen Zeit und in gewisser Weise mit den Peter’schen Reformvorhaben verbunden, die offizielle, kurz zuvor reformierte russisch-orthodoxe Kirche („Neugläubige“) gegen die Mehrheit der gläubigen Russen, die diese Reformen nicht übernehmen will („Altgläubige“ bzw. Schismatiker („Raskolniki“)).
Hinzu kommt nun, dass der verstorbene Zar Fjodor III. bei seinem Tod im Jahr 1680 mit den minderjährigen Halbbrüdern Ivan und Peter keinen regierungsfähigen Nachfolger hinterlässt. Als Regentin fungiert daher Sophia, Peters Halbschwester und Gegnerin, die Ivan künftig als alleinigen Zar sehen möchte. Sophia findet Unterstützung in der von Fürst Ivan Khovansky angeführten Palastgarde, den Strelitzen, die mehrheitlich auch Altgläubige sind. Es gelingt Sophia, die Armee der Strelitzen zu einem Aufstand anzustacheln, der allerdings vereitelt wird. Am Ende setzt sich Peter als Alleinherrscher gegenüber seinem Halbbruder Ivan und den Altgläubigen durch.
Geschichtlich ist dies der erste von insgesamt drei Strelitzen-Aufständen (zwischen 1682 und 1698 ), die erst beim dritten Aufstand in einer vollständigen Unterdrückung und Massenhinrichtung der Strelitzen, d. h. mehrheitlich „Altgläubigen“ münden. Mussorgsky hat einzelne Ereignisse aus den drei Aufständen aus Darstellungszwecken praktisch zu einem Aufstand zusammengezogen.
Beim historisch ersten Strelitzen-Aufstand unter Fürst Ivan Khovansky soll dem Zaren übrigens der den Titel der Oper stiftende Ausruf „Khovanshchina“ entfahren sein, wofür folgende wörtliche Übersetzungen zu finden sind: „Khovanskerei“ oder sogar „Khovansky-Schweinerei“ oder - noch ausgefallener - „Khovanzenquark“ oder - etwas sachlicher - auch "Die Sache Khovansky" oder „Khovansky-Affäre“.
Mussorgsky hatte offensichtlich große Mühe der riesigen historischen Faktenfülle Herr zu werden und die zeitlich versetzten historischen Ereignisse zu einem einheitlichen Stoff zusammenzufügen. Und Mussorgsky ging es dabei keineswegs nur um die Schaffung einer Art Kostümfest auf historisch verbürgter Grundlage. Nein, er wollte die damaligen Positionen und Strömungen möglichst authentisch wiedergeben und so durch die Verarbeitung dieser für die folgende Entwicklung Russlands schicksalhaften Epoche einen Beitrag zur nationalen Identitätsfindung leisten. Ein Thema, dass in seinen Tagen innerhalb der russischen Intelligenz von großer Bedeutung war. Es ist auch kein Zufall, dass Mussorgsky die Arbeiten zu dieser Oper gerade im Jahr 1872 aufnahm, denn in jenem Jahr feierte Russland den 200. Geburtstag Peters des Großen.
Es gibt viele Stimmen, die meinen, dass Mussorgsky in seinen Bemühungen um die Schaffung eines bühnenwirksamen und sinnstiftenden Handlungsstrangs grandios gescheitert sei. Die Kritik ist vielfältig: Es sei schwierig, in dieser Oper überhaupt einen roten Faden zwischen den einzelnen Handlungssträngen herzustellen und es gebe zudem lose Handlungsenden. Es bliebe etwa völlig unklar, welche Bedeutung die Anklage Shaklovitys zu Beginn des 1. Aufzugs für das weitere Geschehen habe. Mussorgsky habe disziplinlos und ohne Gesamtkonzept Bilder aneinander gereiht, wie sie sich ihm bzw. seiner Kompositionsarbeit eben fügten. So fehle es dem Stück an jeglicher Spannung und dramatischer Entwicklung. Mussorgsky habe bei der Arbeit jeden Sinn für Proportionen verloren, indem Nebensächliches breit ausgeführt und Essentielles von ihm weggelassen oder wieder gestrichen wurde. Der 4. und 5. Aufzug seien viel zu kurz geraten. Die handelnden Personen würden weder als individuelle Charaktere entwickelt noch überhaupt stringent charakterisiert. Es gäbe z. B. keinerlei Erklärung dafür, dass Fürst Ivan im 1. Aufzug noch als allmächtiger Lehnsherr auftrete, im 3. Aufzug dann unvermittelt als enttäuschter, gemeiner Mann erscheine. Auch seien einzelne Personen letztlich überflüssig (Emma, Susanna). Und es fehle – worauf hier auch schon Waltrada hinwies, überhaupt an einer Hauptperson der Oper.
Wie geht man nun mit einem solch vernichtenden Befund um? Soll man annehmen, Mussorgsky, dieses russische Originalgenie, sei in diesem Maße zur Konzeption eines nach überkommenen Standards halbwegs nachvollziehbaren Stoffes unfähig gewesen? Erinnert uns das nicht ein bisschen an den angeblich dringenden Korrekturbedarf, den der Freund Rimski-Koraskow (mit freilich besten Absichten) bei den vermeintlich falschen Harmonien und Instrumentierungen des „kompositorischen Dilettanten“ Mussorgsky sah? In diesem Punkt ist man ja zwischenzeitlich mehrheitlich zu einer anderen Erkenntnis gelangt. Werden also vielleicht auch im Hinblick auf die Erzählweise der Khovanshchina, dieses als russisches Volksdrama angelegten Werkes, von vornherein falsche Erwartungen und Maßstäbe von außen an das Werk herangetragen?
Es gibt Stimmen, die dieser Auffassung zugunsten Mussorgskys zuneigen und vermeintlich dramaturgische Defizite mit einer Parallele zur Erzählweise russischer Ikonenmalerei erklären, die ebenfalls von westlichen Kunstvorstellungen erheblich abweicht. Die einzelnen Aufzüge der Khovanshchina entsprächen der in einer einzelnen Ikone symbolisierten Episode. Hätte Rinski-Korsakow die Musik nicht so sehr „verwestlicht“, würden auch die Missverständnisse im Hinblick auf die die dramaturgische Erzählweise der Oper ausgeblieben sein. Die Schicksale Khovanskys, Dosifeis und Golizyns seien nicht als individuelle, persönliche Schicksale im herkömmlichen Sinne zu verstehen, sondern stünden für Ideen und Konzepte. Sie seien letztlich Symbole und darin bestehe die große Neuerung dieser Oper. (Denn selbst im Boris Godunow kann man noch von persönlichen Schicksalen sprechen.) Beide Khovanskys repräsentierten die weltliche Macht des alten Russland, Dosifei dagegen die geistliche Macht des alten Russland. Golizyn wiederum stehe für die „Westanbindung“ des neuen Russland.
Für mich sind das durchaus plausible Erwägungen. Wie schon im Eröffnungsbeitrag erwähnt, fühle ich mich bei der Beschäftigung mit der Khovanshchina permanent an die großen Romane Dostojewskis, insbesondere die Brüder Karamasow erinnert. Bezeichnenderweise gibt es dort eine Stelle, an der Ivan (der „Westler“ unter den Brüdern) gegenüber seinem Bruder Aljoscha sinngemäß äußert, dass Erzählungen, wenn sie denn wirklich russisch seien, immer voll von Widersprüchen und Schwierigkeiten seien. Und selbst gegenüber den Brüder Karamasow, diesem anerkannten Meisterwerk wird der Vorbehalt geäußert, dass die Proportionen darin nicht stimmten (z. B. sei die Sossima-Episode viel zu lang geraten; auch hier, wie bei Mussorgsky, wurde interessanter Weise der Vorwurf der Disziplinlosigkeit gegen den notorisch „Christussucher“ Dostojewski erhoben) oder dass es ein Wirrwarr von Personen gäbe bzw. Personen auftauchten und wieder verschwänden, ohne dass eine notwendige Bedeutung für die eigentliche Entwicklung ohne weiteres erkennbar würde. Ich stelle mir also die Frage, ob Mussorgsky gerade auch in der Art der Erzählung seines „russischen Volksdramas“ in besonderer Weise auf spezifische Seins- und Erlebnisweisen des russischen Volkes eingehen wollte. In seiner Musik zu dieser Oper hat er es mit dem Rückgriff auf das russische Volksliedgut jedenfalls in besonderer Weise getan!
Und wenn Baroni schreibt, die Tragik der Khovanshchina stecke nicht in den Begebenheiten, die das russische Volk erleide, sondern vielmehr darin, dass seine Möglichkeiten, diese Begebenheiten zu verstehen und zu durchschauen nicht ausreichen, sie vorauszusehen und sie zu beherrschen, so sehe ich auch darin eine Parallele zu Dostojewski. Auch dessen Romane haben letztlich kein anderes Thema als das (vergebliche) Suchen des russischen Menschen nach dem richtigen Glauben, dem richtigen Miteinander und der richtigen Zukunft, die er nicht zu lenken vermag. Und auch er, der „russischste“ der großen russischen Romanciers seiner Zeit, erzählt davon wesentlich in nicht selten rätselhaften Gleichnissen. Es sind symbolhafte Erzählungen, von denen man einen Schritt zurücktreten muss, wenn man sie über die jeweils Handelnden hinweg in ihrem Kern erfassen will. Wie gerne lässt Dostojewski doch Ideen wie „Gut“ und „Böse“, „Gott“ und „Teufel“, jeweils repräsentiert durch Personen aufeinander treffen. Und dabei liefert er dann kaum Verlässliches, Eindeutiges oder Antworten, sondern schürt Zweifel und wirft Fragen auf. All dies finde ich auch in der Khovanshchina. Diese insgesamt sowie ihre einzelnen Aufzüge legen es nahe, wie Bilder bzw. Gleichnisse verstanden zu werden. Wie die Romane Dostojewskis laufen sie ruhig und weniger Antwort gebend, als nachdenklich stimmend aus. Und wie dargestellt geht es auch hier nicht primär um individuelle Charaktere, sondern es sind Repräsentanten bestimmter Ideen und Kräfte innerhalb des russischen Volkes am Werk.
Loge