Beiträge von Loge

    Edwin war damals Der Kulturchef der "Wiener Zeitung" also ein Nachfolger von Eduard Hanslick - und trotz -oder gerade wegen anderer Ausrichtung - ebenso bekannt.

    Wie haben uns 2017 bemüht, in wieder ins Forum zu bekommen - und er kam - blieb aber dann relativ rasch fern.

    Meine SUBJEKTIVE Einschätzung ist, daß er die "Reibebäume" (z.b. "Loge" vermisste, mit denen er immer Bosheiten ausgetauscht hat...)


    Also ich stünde als Eichbaum, an dem sich Edwin artgerecht wetzen könnte, durchaus zur Verfügung. :hello: Aber vermutlich möchte er einfach nicht nochmal von mir am Nasenring durchs Forum geführt werden. Dabei hatte ich den Eindruck, dass gerade ihm ein paar musiktheoretische Handreichungen oder auch mal ein gutgemeinter Klaps vors Hirn helfen würden, wenn ich nur daran denke, wie verständnislos er z.B. der Musiksprache Janaceks gegenüberstand oder uns den Mahler von Swetlanow empfahl. :hahahaha:


    Loge

    Ein Name, der in diesem Zusammenhang auch genannt werden muss, ist JAMES LEVINE, von dem es ebenfalls eine ganze Reihe sehr gelungener Mozart-Aufnahmen (Opern, Sinfonien, Konzerte) gibt.


    Loge

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    Original von Hammel


    Definitiv :D


    Was mich interessieren würd ist, warum Beethoven5 so oft genannt wird. Bitte das nicht falsch zu verstehen, ich liebe die Fünfte von Beethoven, aber in der Fünften finde ich den ersten und den (absolut genialen) dritten Satz doch besser als das Finale...


    Dem würde ich gar nicht widersprechen. Aber ich hatte Deine Ausgangsfrage bisher nicht so verstanden, dass ein Finalsatz hier nur dann als „liebster Finalsatz“ genannt werden dürfe, wenn er nicht nur der letzte, sondern zugleich auch der „beste“ Satz unter den Sätzen einer Sinfonie ist. Auch andere hier genannte Finalsätze würden dann von vornherein ausscheiden müssen (z. B. Bruckner 7 oder Mahler 2). Bei Mahler 2 ist der Finalsatz mit seinen monströsen Peinlichkeiten nüchtern nun ja auch kaum durchzuhalten.


    Sicherlich gibt es auch Finalsätze, die nicht zuletzt auch deshalb so überwältigend wirken, weil sie eben ganz bestimmten Sätzen nachfolgen, also das Ende einer vorangegangenen sinfonischen Geschichte bilden. Dies dürfte unter anderem auch bei Beethoven 5, 6 und vielleicht auch bei 9 der Fall sein. Das strahlende Finale der 5. haut einen ja gerade auch deshalb aus den Socken, weil eben dieses geisterhaft-dunkle Scherzo unmittelbar vorangegangen war, dem sich das Finale in fließendem Übergang anschließt. Ähnliches gilt für die Hirtengesänge nach dem Unwetter in der 6. Anders würde ich das aber z. B. wieder für Beethoven 7 oder auch 3 beurteilen, die in ihrer Wirkung für mich "autonomer" (oder auch "austauschbarer") erscheinen.


    Loge

    Also, an die Aufgabe würde ich nicht zu ernst herangehen. Es sollte ein Abend voll Pathos, Rührung und atemberaubenden Effekts sein. Also würde ich


    Richard Strauss: Eine Alpensinfonie


    wählen. Da hat man ein volles Orchester, da bleibt kein Auge trocken, da brennt die Luft und tobt der Saal! Und ich habe das Ding gerade gut im Ohr. Allerdings müssten es schon die Berliner Philharmoniker sein und selbst bei denen würde ich mir mindestens fünf Proben garantieren lassen, um zuvor wieder etwas den Sinn für die große Form freizulegen.


    Loge


    Das kann ich alles so wortwörtlich für mich übernehmen (und tue es deshalb auch gleich :D), nur das ich seinerzeit anstelle des Brahms noch ohne zu zögern den Verdi genannt hätte, was mir aber heute auch Bauchweh bereiten würde, weil zwischenzeitlich hinter Schubert auch Wagner, Mendelssohn und Schumann mit Macht in die Medaillenränge drängen.


    Loge

    Die wohl "besten" Werke Franz Lachners sind seine hier bisher noch gar nicht genannten Orchestersuiten, mit denen er zu Lebzeiten auch den größten Erfolg gehabt haben soll. Leider sind derzeit - soweit ich sehe - nur die Suiten Nr. 1 und 7 sowie die Ball-Suite auf CD zu haben. Insbesondere die Nr. 1 und 7 gefallen mir gut. Sie wirken insgesamt frisch und in den Fugen sehr interessant.



    Ebenso wie manche Sinfonie von Spohr, mag ich im übrigen auch Lachners Sinfonie Nr. 1 recht gerne, in der er einen sehr eigenen biedermeierlich-romantischen Ton erzeugt.


    Loge

    2. AUFZUG


    Auch den 2. Aufzug leitet Mussorgsky wieder mit einer ausgesprochen stimmungsvollen Musik ein. Zunächst leichte, luftige Klänge – es ist ein später Sommerabend im Arbeitszimmer des Fürsten Golizyn –, die aber bald von den für Mussorgsky und gerade auch diese Oper typischen, zutiefst russischen, dunkel-bedrohlichen Streicherfiguren unterbrochen werden. Während des Dialogs zwischen Golizyn und Varsonofjev wird das Lutherische Pastorentum des aus dem Moskauer „Deutschenviertel“ stammenden Varsonofjev durch deutsch-klassische Menuettklänge sehr charakteristisch untermalt. Die sich im 2. Auftritt anschließende „Prophezeiung“ der Marfa ist mit ihrer weiten melodischen Wellenbewegung bei aller Schwermut wahrlich zum Sterben schön! Wolfurt nennt sie die „Perle des Werkes“. Das Erwachen aus diesem Zauber geschieht freilich recht ernüchternd (und für diese Oper typisch) durch einen Forteschlag des Orchesters. Mit dem Erscheinen des Fürsten Ivan im 3. Auftritt ertönt wieder sein Erkennungsmotiv. Man staunt, wie es Mussorgsky gelingt, immer wieder mit sparsamen Mitteln schlagartig sehr charakteristische Stimmungen bzw. Stimmungswechsel zu erzeugen. Die Wendungen der Musik werden während der Versammlung der Fürsten freilich wieder konventioneller. Aber auch hier erweist sich Mussorgsky erneut als äußerst versierter Chor-Komponist. Ein weiterer Höhepunkt des 2. Aufzugs ist neben der Arie der Marfa sicherlich der Gesang der Sektierer, der den Hintergrund für Dosifei und Fürst Ivan bildet. Kurz vor Ende des 2. Aufzugs fällt dann anlässlich der Schilderung des Strelitzen-Aufstands durch Shaklovity übrigens das Wort „Khovanshchina“, mit dem dieser Aufzug mit einem kurzen orchestralen Nachspiel im pianissimo ausklingt.


    3. AUFZUG


    Den 3. Aufzug eröffnet ausgeprägt rhythmisch-schreitende Musik. Wir befinden uns in der Strelitzenvorstadt und hören den Chor der Sektierer. Das sich anschließende Klagelied der Marfa basiert auf einer russischen Volksweise („Die Ausgestoßene“). Gefordert ist hier ein warmer, sensibel-sinnlicher Alt, der sehr effektvoll mit der etwas grellen Sopran-Partie Susannas kontrastiert, die sich über die sündhafte Liebe Marfas zu Fürst Andrej ereifert. Der träumerische Gesang Shaklovitys im 5. Auftritt ist sehr schön, wirkt aber in seiner geschlossenen Form auch sehr italienisch-opernhaft (ich denke an „Don Carlos“), was vor allem auch an dieser Stelle, also zwischen den unmittelbar vorangegangenen und nachfolgenden Auftritten, die sehr handlungsgetrieben sind, deutlich wird. Zu seinem Höhepunkt gelangt dieser 3. Aufzug mit den Volksszenen (wieder einmal die Chorszenen!), die mit der Ankunft eines Teils der Strelitzen und der Nachricht des Schreibers vom Mord an den in Moskau Verbliebenen anheben. Es ist eine sehr dramatisch gestaltete, rhythmisch treibende bis archaisch-tobende Musik (typisch russisch eben). Wolfurt plädiert dafür, dass diese Szenen ähnlich den „Polowetzer Tänzen“ aus Borodins Oper Fürst Igor separat aufgeführt werden sollten. Fürst Ivan gelingt es, die Strelitzen zu beruhigen (natürlich zu den Klängen seines Erkennungsmotivs) und so kann auch dieser wechselreiche 3. Aufzug zu dem im Pianissimo ersterbenden Gesang der Altgläubigen ausklingen.


    4. AUFZUG – Erstes Bild


    In diesem ersten Bild geht es um die Ermordung des Fürsten Ivan. Wir befinden uns in seinem prunkvollen Speisesaal. Das gesamte Bild ist für die Handlung praktisch bedeutungslos. Dafür ist die Musik aber recht effektvoll. Ein echtes Highlight gleich zu Beginn stellt natürlich der berühmte „Tanz der Perserinnen“ mit ausgeprägt orientalischem Kolorit und ständig wechselnden Rhythmen dar. Kein Wunder, dass der Fürst den Vortrag der Perserinnen dem der russischen Bäuerinnen vorzieht. Im Anschluss holt uns Mussorgsky mit zwei Strichen wieder in das "Hier und Jetzt" zurück. Nun soll es dem Fürsten an den Kragen gehen. Zuvor schiebt Mussorgsky aber noch einmal einen hinreißend zarten „Chor der Mädchen“ ein, um so dem unvorhergesehenen Moment der Ermordung eine umso schockierende Wirkung zu verleihen. Ein wahres Wechselbad der Gefühle!


    4. AUFZUG – Zweites Bild


    Auch dieses Bild wartet mit zwei echten Highlights auf: Den Beginn macht ein wunderbarer Trauermarsch des Moskauer Volkes in es-moll vor der Basiliuskathedrale. Hier hat Mussorgsky Musik komponiert, wie ich sie mir russischer nicht vorstellen kann. Von diesem Trauermarsch gibt es eine separate Einspielung (ohne Chor) von 1959 mit dem Philharmonia Orchestra unter Herbert von Karajan, freilich in der Instrumentierung Rimski-Korsakows, die so unendlich schön, weit, tief und russisch wirkt, dass es einen fest um den Verstand bringt. Die Einspielung in der von Abbado verwendeten Fassung lässt einen (trotz der Chorunterstützung) nur einen schwachen Abglanz davon hören. Pure Dramatik bietet sodann der letzte Auftritt dieses zweiten Bildes. Die Strelitzen sollen hingerichtet werden und erfahren erst im letzten Moment eine Begnadigung durch Zar Peter. Das Weinen der Weiber versucht Mussorgsky durch einen recht virtuosen, chorischen Koloraturgesang darzustellen. Am Ende erklingt ein triumphaler Aufmarsch der zaristischen Leibgarde in As-Dur - ausnahmsweise also ein lauter, pompöser Aktschluss.


    5. AUFZUG


    Die Szenerie bildet eine Einsiedelei inmitten eines nächtlichen Fichtenwaldes. Die Musik ist auch hier wieder äußerst stimmungsvoll gestaltet. Die tiefen Streicher und Bläser erschaffen mit ihren an- und abschwellenden Bewegungen ein anschauliches Bild von den sich im Wind bewegten Bäumen. Dazu die beschwörenden Worte Dosifeis und der mystisch entrückte Chor der Altgläubigen in prygischer Tonart. Die Musik zur Rede Marfas an Andrej klingt durch den starren 4/4 Takt und die Melodik wieder sehr nach Verdi. Von großer Wirkung ist schließlich der zunächst gewaltig anschwellende und sodann erstrebende Gesang der sich in den Flammen selbst entleibenden Altgläubigen, mit dem eine große Chor-Oper in mehreren Bildern über das russische Volk zu Ende geht.


    Loge

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    Original von santoliquido
    2) Brahms Klavierkonzert Nr. 2 mit Richter-Haaser


    Diese Aufnahme, auf die santoliquido hier so zwischen den Zeilen hinweist, und zwar ganz zu recht, ist auch meine absolute Lieblingsaufnahme des 2. Klavierkonzerts Brahms'.



    Es ist eine wenig bekannte Aufnahme. Ich selbst habe sie erst sehr spät kennen gelernt, nachdem ich schon viele der einschlägig bekannten Aufnahmen gehört hatte. So richtig war ich mit diesem Werk aber nie warm geworden. Bis ich eben diese Aufnahme mit Karajan und Richter-Haaser hörte. Sie hat für mich alle anderen weggefegt und mich dieses Werk lieben gelehrt. Die Aufnahme ist vulminant, mitreissend und gewährt ganz besondere Einblicke in dieses Werk. Einfach einzigartig! Und schon von Beginn an spürt man, dass Richter-Haaser hier nicht auf unentschieden spielen will...


    Loge

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    Original von teleton
    Ich möchte jedoch darauf aufmerksam machen, das Karajan die Sinfonie Nr.10 zwei mal auf DG aufgenommen hat.

    DG, ADD


    teleton, ich bezog mich auf diese frühere (analoge) Aufnahme aus den 60igern. Beide Aufnahmen haben ihre Vorzüge. Allerdings finde ich gerade im 2. Satz die frühere Aufnahme einmalig gelungen. Die spätere (digitale) ist da glatter, sublimierter. Das Böse, Diabolische kommt nicht so heraus. Wenn ich allein an die finsteren, unerbittlich streichenden Bässe im 2. Satz der früheren Aufnahme denke... :faint:


    Loge

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    Original von Thomas Pape
    Diese Einspielung der 10. Schostakowitsch-Sinfonie dürfte wohl kaum übertroffen werden können. Völlig begeisternd und absolut aberwitzig gespielt: der 2. Satz.


    Ganz meine Meinung! Und was Karajan im 2. Satz mit den Berlinern bietet ist nicht allein Orchestervirtuosität auf höchstem Niveau - zu hören ist also nicht nur ein Bravourstück, zu dem es in vielen anderen Aufnahmen wird und womit die eigentliche Aussage, nämlich die Dämonie Stalins zum Ausdruck zu bringen, allzu oft glänzend in ihr Gegenteil verkehrt wird -, vielmehr gelingt es Karajan hier, in der rasenden Musik und der spieltechnischen Finesse der Berliner zugleich den verbrecherischen Furor, mit dem Stalin wütete, zum Ausdruck zu bringen. Hier kann man Stalin in der Gestalt des Teufels förmlich zwischen den Stuhlreihen tanzen hören! Grandios!


    Loge

    1. AUFZUG


    Einleitung


    Die Einleitung zum 1. Aufzug ist ein bezauberndes und sehr atmosphärisches Stück Musik. Es stellt ein Naturerwachen dar. Wir hören ein frei variiertes volkstümliches Thema in E-Dur, das mit seinen zuweilen konventionellen Wendungen auch ein bisschen süßlich klingt. Von der Stimmung her, mit diesem entspannten Auf und Ab und den tremolierenden Streichern, erinnert es mich ein bisschen auch an die sich über 21 Takte erstreckende „Jahrhundertmelodie“ mit der Bruckner seine 7. Sinfonie anheben bzw. aufblühen lässt. Solche Naturschilderungen sind sehr selten bei Mussorgsky. Von E-Dur geht es über H-Dur nach D-Dur. Aber schon inmitten dieses Idylls erfährt der Hörer eine Vorahnung auf das folgende Drama, wenn sich die Musik nämlich recht unvermittelt über Fis-Dur nach Des-Dur eintrübt und unter drohenden Tamtam-Schlägen verdunkelt. Zum Ende der Einleitung erstirbt die Musik regelrecht, so wie dies Mussorgsky in dieser Oper regelmäßig auch für seine Aktschlüsse vorgesehen hat.


    1. Auftritt


    Den 1. Auftritt eröffnet wiederum ein Tamtam-Schlag. Mussorgskys braucht nur diesen einzigen Schlag, um den Wechsel von dem friedlichen Idyll der Einleitung auf den Roten Platz zu vollziehen. Die Musik hebt in A-Dur an. Und schon hier werden an dem Gesang der Strelitzen sogleich mehrere Charakteristika der Musik dieser Oper hörbar, die ich hier vorab kurz anspreche:


    Ich hatte ja bereits erwähnt, dass es Mussorgsky in dieser Oper sehr um einen möglichst realistischen und spezifisch russischen Ausdruck geht. Daher zunächst die Entwicklung der Melodie aus der russischen Sprache heraus. Auch ohne Kenntnisse der russischen Sprache kann man ganz gut nachvollziehen, wie eng sich die der Gang und die Linie einer Melodie an Sprachrhythmus und -melodie anlehnen. Die Melodie wird quasi aus dem Wortsinn heraus entwickelt und erfährt so ihre Rechtfertigung im Realen des gesprochenen Wortes. Über diesen Weg kommt Mussorgsky - wie schon im Boris Godunov - zu einer engen und ineinander fließenden Verbindung von deklamatorischen und ariosen Teilen. Sehr schön kann man gleich in dem Gesang zu Beginn des 1. Auftritts auch die für die russische Lyrik typischen zweifachen Wiederholungen am Anfang eines Verses hören. Ein sehr berühmtes Beispiel dafür habe ich auch kürzlich im Kapitel „Smerdjakov mit der Gitarre“ in den Brüder Karamasow von Dostojewski gefunden. Gegenüber dem Boris Godunov kommt hier aber nun eine volkstümliche Note hinzu, indem ausgeprägt traditionelle Melodien und - wie Baroni es nennt - eine „Tendenz zur Geschlossenheit der Form“ zu hören sind. Mussorgsky wollte ja erklärtermaßen ein russisches Volksdrama schreiben. Als Beispiele für geschlossene Formen mit Liedcharakter (symmetrische Form, Wiederholungen) können die Chorszenen im 1., 3. und 4. Aufzug, Marfas Auftritt im 1. Aufzug und die Arie des Shaklovity im 3. Aufzug gelten. Wenn lediglich von einer Tendenz zur Geschlossenheit die Rede ist, so soll dies heißen, dass auch diese Stücke nicht im Sinne einer italienischen Arie geschlossen sind, die regelmäßig für sich stehen kann, sondern gleichwohl unselbständig in den größeren Handlungsablauf eingebunden sind. Anders als in einer typischen Arie bleibt die Zeit in den ariosen Teilen der Khovanshchina also nicht stehen, vielmehr entwickelt sich die Erzählung (trotz aller Brüche, Sprünge und Wirrungen im Ganzen) weiter. Die geschilderte Verbindung sprachrhythmisch-arioser Deklamation mit traditionellen, periodisch konstruierten Formen hat freilich auch Kritik an einer dadurch hervorgerufenen „rhythmisierten Starre“ hervorgerufen, wie sie in der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts zu hören sei. Und in der Tat erinnert manche Passage in der Khovanshchina erstaunlich an Verdi. In der zweiten Hälfte des 1. Auftritts erinnert mich die Musik in der Instrumentierung von Schostakowitsch übrigens sehr an die 1. Szene aus Puccinis "La Boheme". Geht das nur mir so?


    2. Auftritt


    Die Musik verdüstert sich bedrohlich. Der Auftritt des Schreibers im 2. Auftritt wird von einem charakteristischen, scharf rhythmisierten Motiv begleitet. Auch hierzu ein allgemeiner Hinweis: Im Gegensatz zum Boris Godunov mit seinen ausgeprägt leitmotivischen Elementen möchten z. B. Calvocoressi und Riesemann hier lieber von Reminiszenzen oder thematischen Wiederaufnahmen sprechen. Es handelt sich um charakteristische, melodische Floskeln, die in der Khovanshchina regelmäßig den Auftritt einer bestimmten Person begleiten. Baroni spricht in Abgrenzung zur Leitmotivtechnik Wagners von „Fixpunkten im ewig wechselnden Fluss der verschiedenen Episoden“. Neben dem Schreiber werden vor allem auch die Auftritte Fürst Ivans von einem sehr charakteristischen Motiv begleitet. Sofern ein solches Motiv variiert erscheint, werden dadurch Stimmungsunterschiede bei der betreffenden Person angedeutet.


    3. Auftritt


    Im 3. Auftritt kündigt sich das Erscheinen Fürst Ivans an. Sein Auftritt wird von einer mächtigen Jubelhymne in C-Dur begleitet. Die Musik wirkt marschartig, prächtig, großartig bis gewalttätig, dabei ausgesprochen russisch. Die Chöre zur Begrüßung und Lobpreisung des Fürsten bilden unbestritten die Highlights des 1. Aufzugs. Die programmatischen Kernsätze aus der Ansprache des Fürsten Ivan, der Altgläubiger ist und als Repräsentant des „alten Russlands“ fungiert, lauten: „Gottlosigkeit gärt im Lande, das alte Recht soll fallen“ und „Doch für uns kann kein Heil aus dem Westen kommen.“


    4. Auftritt


    Im 4. Aufzug ändert sich die Stimmung schlagartig. Die Musik treibt und stürmt. Wolfurt meint, dass die Musik hier zu den schwächsten Teilen des gesamten Werkes zählt. Vieles, vor allem alles um die vom Fürsten Andrej bedrängte Emma herum, klinge italienisch bzw. nach Verdi. Auch mich erinnert manches an den Verdi des „Il Trovatore“. Das Lied der Marfa hat eine schöne Melodie, allerdings erscheint mir gerade auch hier die Kritik an der „rhythmisierten Starre“ nicht zu unberechtigt. Das Lied wirkt mit seiner strengen Symmetrie aus immer gleichen Perioden in der Tat etwas dogmatisch. Aber Marfa ist ja auch eine kompromisslose Sektiererin, so dass Mussorgsky vielleicht auch hier vor allem charakteristisch sein wollte?


    5. und 6. Auftritt


    Die Musik wird hier - bis auf Emma - wieder deutlich russischer. Insbesondere Dosifej bringt ein ausgeprägt russisches Idiom in die Musik zurück. Marfas von religiöser Inbrunst getragene Worte erklingen in es-moll, einer Schlüsseltonart in diesem Werk, wie im Begleittext zur oben vorgestellten Gesamtaufnahme unter Abbado (DG) näher ausgeführt. Italienische Anklänge im 5. Auftritt erinnern nun mehr an dem späteren Verdi. Fürst Ivan wird wieder von seinem Charaktermotiv begleitet. Der 1. Aufzug klingt in einem religiösen Wechselgesang zwischen Dosifej und den Altgläubigen in andächtiger Stimmung und zugleich schicksalsschwangerem Ton aus.


    Loge

    Da hier nun schon mehrere Schreibweisen der Oper aufgetaucht sind, nur kurz etwas zur unterschiedlichen Schreibweise des Namens der Oper und der sonstigen Eigennamen:


    Die Transliteration aus dem Kyrillischen lautet: "Kovansina" (mit einer scharfen Betonung auf dem "s").


    Als Transkriptionen sind folgende Schreibweisen gebräuchlich: "Chowanschtschina" (deutsch), "Khovanshchina" (englisch). Hier und da liest man im Deutschen auch "Chowantschina".


    Für den Komponisten gibt es ebenfalls entsprechend viele Schreibweisen: "Musorgskij", "Mussorgskij", "Mussorgsky", "Mussorski"...


    Ich habe mich hier beim Namen der Oper und den sonstigen Eigennamen meistens für die englische bzw. internationale Schreibweise entschieden. Ich bin da aber kein Purist, weil Auseinandersetzungen über die richtige Schreibweise in der Sache selten weiter helfen, und verwende je nach Gewohnheit auch mal deutsche Schreibweisen (z.B. Schostakowitsch; Rimski-Korsakow).


    Loge

    Gibt es aber nun einen Hauptdarsteller bzw. eine zentrales Individuum in dieser Oper? - Um es gleich vorwegzunehmen, und Waltrada hat schon zurecht darauf hingewiesen - nein, das gibt es nicht, jedenfalls nicht nach herkömmlichem Verständnis.


    Wer sich damit nicht abfinden will, könnte - wenn er nach einem Individuum sucht – wohl allenfalls die Khovanskys, Dosifei, Golizyn, Marfa oder Peter den Großen in Betracht ziehen.


    Die Khovanskys sind - obwohl sie im Titel stehen - als Zentralfiguren nicht geeignet, weder der Vater noch der Sohn. Der Vater hat zwar im 1.
    Aufzug einen machtvollen Auftritt, bleibt dann aber bis zu seiner Ermordung als Individualität farblos. Er fungiert als Symbol gewisser Kräfte innerhalb des russischen Volkes, die an ihm, quasi als Repräsentant, exemplifiziert werden. Auch der Sohn erscheint in seiner Individualität farblos, außerdem agiert er zu keiner Zeit bestimmend und wird am Ende in seiner Selbstvernichtung gar vollständig von Marfa dominiert.


    Auch Dosifei und Golizyn sind nicht als individuelle Schicksale ausgestaltet, sondern fungieren - wie schon erwähnt - ebenfalls als Repräsentanten widerstreitender Kräfte und Bewegungen innerhalb es russischen Volkes.


    Marfa kommt als zentrale Figur schon eher in Betracht. Aber auch sie bleibt abseits ihres bedingungslosen Sektierertums ebenfalls ohne ausgeprägte Individualität. Stattdessen wird auch sie in ihrem Hang zur kollektiven Selbstvernichtung zum Symbol des russischen Volkes.


    Peter der Große schließlich erscheint zwar nicht auf der Bühne, wirkt dafür aber umso machtvoller im Hintergrund. Er ist die bestimmende Kraft, die dem russischen Volk gegen alle widerstreitenden Kräfte die Richtung weist. Aber es ist eben nicht greifbar. Er wirkt fast wie ein Gott oder eine Naturgewalt.


    Es bleibt also dabei, eine einzelne Person als zentrale Figur weist die Oper nicht auf. Es fällt aber auf, dass alle vorstehend Genannten in ihrer Bedeutung auf das russische Volk bezogen sind. Und nach zutreffender Ansicht steht eben dieses russische Volk in seinen Teilen und als Ganzes im Zentrum allen Geschehens dieser Oper und nimmt die Stelle des individuellen Helden ein. Einen ersten Hinweis darauf gibt schon der eingangs erwähnte Untertitel der Oper. Sodann ist festzustellen, dass die Khovanshchina eine regelrechte "Choroper" ist und so Volkes Stimme einen breiten Raum einräumt. Auch im übrigen ist die Musik in besonderem Maße darauf angelegt, den russischen Menschen (als Teil der Volksmasse) möglichst realistisch und authentisch zu erfassen. Es sind häufige Rückgriffe auf russisches Volksliedgut nachgewiesen worden. Weiten Teilen des Notentextes liegt eine spezifisch russische "Grammatik" zugrunde. Auf die Eigenheiten der russischen Erzählweise in dieser Oper und Parallelen etwa zu Dostojewski bin ich schon eingegangen.


    Und natürlich ging es Mussorgsky nicht darum, Geschichte zu erzählen. Zu meinen, in Ermangelung eines „Helden“ handele es sich bei der Khovanshchina eben primär um eine Geschichts-Oper, ist reichlich platt und würde die Oper letztlich zu einem Kostümfest degradieren, was es gerade nicht sein will. Wenn Mussorgsky geschichtliche Abläufe bzw. Begebenheiten faktennah nachzeichnet, so ist dies bei ihm, wie auch sonst in der Literatur (ausgenommen natürlich Geschichtswerke mit literarischem Rang), niemals Selbstzweck, sondern der Hintergrund, die Kulisse, vor dem sich Schicksale russischer Menschen abspielen, die er für die Gegenwart und Zukunft des russischen Volkes nutzbar machen wollte. Die Ilias will nicht den Krieg um Troja, sondern den griechischen Helden darstellen (nicht ohne Grund besteht der Großteil der Dichtung aus charakteristischen Äußerungen der Protagonisten). Der „Held“ der Ulysses ist ebenfalls nicht „Dublin“ oder die „Odyssee“. Und in Moby Dick geht es natürlich nicht primär um „den Walfang“ oder „das Aggressionsverhalten eines verhaltensauffälligen Pottwalmännchens mit Pigmentstörung“...


    Indem Mussorgsky in der Khovanshchina also


    - die traditionelle Erzählweise weitgehend durch Bildmontagen mit symbolischen Inhalten ersetzt,
    - an die Stelle des herkömmlichen individuellen Helden das russische Volk als eine im Schicksal vereinte Masse setzt und
    - diesem Kollektiv dann wiederum eine – auch für die Ausgestaltung einer Person übliche – charakteristische Ausdrucksweise verleiht,


    wird er zu einem Neuerer in der der Oper. Es ist in dieser Form ein geradezu revolutionäres Konzept, das sodann für nachfolgende Kunsttendenzen - vor allem in den Jahren vor und nach der Oktoberrevolution - in Russland von großer Bedeutung sein wird: Auch in Romanen bzw. Romanfragmenten wie "Der Fall von Dair" von Malysin, "Heimatland" oder "Rußland, in Blut gewaschen" von Veselyj, "Der eiserne Strom" von Potok oder dem Stück "Masse-Mensch" von Tollers tritt (vor einem konkreten geschichtlichen Hintergrund) stets der Protagonist "Masse" an die Stelle des individuellen Helden. Individuen begegnen auch hier nur als Archetypen oder Symbolfiguren für Kräfte innerhalb des Volkes. Eine sprachlich-stilistische Entsprechung findet dies auch hier stets in der Erfassung möglichst volksnaher Ausdruckswelten, dem spezifischen Sprachrhythmus russischer Dialekte und sonstigen volksnahen Ausdrucksformen. All dies finden wir auch schon in der Khovanshchina Mussorgskys.


    Loge

    Den geschichtlichen Rahmen der Oper bilden die Ereignisse in der Übergangsperiode zwischen dem mittelalterlichen und dem neuzeitlichen Russland im ausgehenden 17. Jahrhundert. Russland wird von Macht- und Richtungskämpfen erschüttert. In weltlicher Hinsicht geht es um den Konflikt zwischen der Aufrechterhaltung der autokratischen Macht der alten Fürstenhäuser (das „alte Russland“) und dem neuzeitlichen, westlich orientierten Russland, wofür die Regentschaft Zar Peters des Großen (das „neue Russland“) steht. Auf geistlich-religiöser Ebene kämpfen zur gleichen Zeit und in gewisser Weise mit den Peter’schen Reformvorhaben verbunden, die offizielle, kurz zuvor reformierte russisch-orthodoxe Kirche („Neugläubige“) gegen die Mehrheit der gläubigen Russen, die diese Reformen nicht übernehmen will („Altgläubige“ bzw. Schismatiker („Raskolniki“)).


    Hinzu kommt nun, dass der verstorbene Zar Fjodor III. bei seinem Tod im Jahr 1680 mit den minderjährigen Halbbrüdern Ivan und Peter keinen regierungsfähigen Nachfolger hinterlässt. Als Regentin fungiert daher Sophia, Peters Halbschwester und Gegnerin, die Ivan künftig als alleinigen Zar sehen möchte. Sophia findet Unterstützung in der von Fürst Ivan Khovansky angeführten Palastgarde, den Strelitzen, die mehrheitlich auch Altgläubige sind. Es gelingt Sophia, die Armee der Strelitzen zu einem Aufstand anzustacheln, der allerdings vereitelt wird. Am Ende setzt sich Peter als Alleinherrscher gegenüber seinem Halbbruder Ivan und den Altgläubigen durch.


    Geschichtlich ist dies der erste von insgesamt drei Strelitzen-Aufständen (zwischen 1682 und 1698 ), die erst beim dritten Aufstand in einer vollständigen Unterdrückung und Massenhinrichtung der Strelitzen, d. h. mehrheitlich „Altgläubigen“ münden. Mussorgsky hat einzelne Ereignisse aus den drei Aufständen aus Darstellungszwecken praktisch zu einem Aufstand zusammengezogen.


    Beim historisch ersten Strelitzen-Aufstand unter Fürst Ivan Khovansky soll dem Zaren übrigens der den Titel der Oper stiftende Ausruf „Khovanshchina“ entfahren sein, wofür folgende wörtliche Übersetzungen zu finden sind: „Khovanskerei“ oder sogar „Khovansky-Schweinerei“ oder - noch ausgefallener - „Khovanzenquark“ oder - etwas sachlicher - auch "Die Sache Khovansky" oder „Khovansky-Affäre“.


    Mussorgsky hatte offensichtlich große Mühe der riesigen historischen Faktenfülle Herr zu werden und die zeitlich versetzten historischen Ereignisse zu einem einheitlichen Stoff zusammenzufügen. Und Mussorgsky ging es dabei keineswegs nur um die Schaffung einer Art Kostümfest auf historisch verbürgter Grundlage. Nein, er wollte die damaligen Positionen und Strömungen möglichst authentisch wiedergeben und so durch die Verarbeitung dieser für die folgende Entwicklung Russlands schicksalhaften Epoche einen Beitrag zur nationalen Identitätsfindung leisten. Ein Thema, dass in seinen Tagen innerhalb der russischen Intelligenz von großer Bedeutung war. Es ist auch kein Zufall, dass Mussorgsky die Arbeiten zu dieser Oper gerade im Jahr 1872 aufnahm, denn in jenem Jahr feierte Russland den 200. Geburtstag Peters des Großen.


    Es gibt viele Stimmen, die meinen, dass Mussorgsky in seinen Bemühungen um die Schaffung eines bühnenwirksamen und sinnstiftenden Handlungsstrangs grandios gescheitert sei. Die Kritik ist vielfältig: Es sei schwierig, in dieser Oper überhaupt einen roten Faden zwischen den einzelnen Handlungssträngen herzustellen und es gebe zudem lose Handlungsenden. Es bliebe etwa völlig unklar, welche Bedeutung die Anklage Shaklovitys zu Beginn des 1. Aufzugs für das weitere Geschehen habe. Mussorgsky habe disziplinlos und ohne Gesamtkonzept Bilder aneinander gereiht, wie sie sich ihm bzw. seiner Kompositionsarbeit eben fügten. So fehle es dem Stück an jeglicher Spannung und dramatischer Entwicklung. Mussorgsky habe bei der Arbeit jeden Sinn für Proportionen verloren, indem Nebensächliches breit ausgeführt und Essentielles von ihm weggelassen oder wieder gestrichen wurde. Der 4. und 5. Aufzug seien viel zu kurz geraten. Die handelnden Personen würden weder als individuelle Charaktere entwickelt noch überhaupt stringent charakterisiert. Es gäbe z. B. keinerlei Erklärung dafür, dass Fürst Ivan im 1. Aufzug noch als allmächtiger Lehnsherr auftrete, im 3. Aufzug dann unvermittelt als enttäuschter, gemeiner Mann erscheine. Auch seien einzelne Personen letztlich überflüssig (Emma, Susanna). Und es fehle – worauf hier auch schon Waltrada hinwies, überhaupt an einer Hauptperson der Oper.


    Wie geht man nun mit einem solch vernichtenden Befund um? Soll man annehmen, Mussorgsky, dieses russische Originalgenie, sei in diesem Maße zur Konzeption eines nach überkommenen Standards halbwegs nachvollziehbaren Stoffes unfähig gewesen? Erinnert uns das nicht ein bisschen an den angeblich dringenden Korrekturbedarf, den der Freund Rimski-Koraskow (mit freilich besten Absichten) bei den vermeintlich falschen Harmonien und Instrumentierungen des „kompositorischen Dilettanten“ Mussorgsky sah? In diesem Punkt ist man ja zwischenzeitlich mehrheitlich zu einer anderen Erkenntnis gelangt. Werden also vielleicht auch im Hinblick auf die Erzählweise der Khovanshchina, dieses als russisches Volksdrama angelegten Werkes, von vornherein falsche Erwartungen und Maßstäbe von außen an das Werk herangetragen?


    Es gibt Stimmen, die dieser Auffassung zugunsten Mussorgskys zuneigen und vermeintlich dramaturgische Defizite mit einer Parallele zur Erzählweise russischer Ikonenmalerei erklären, die ebenfalls von westlichen Kunstvorstellungen erheblich abweicht. Die einzelnen Aufzüge der Khovanshchina entsprächen der in einer einzelnen Ikone symbolisierten Episode. Hätte Rinski-Korsakow die Musik nicht so sehr „verwestlicht“, würden auch die Missverständnisse im Hinblick auf die die dramaturgische Erzählweise der Oper ausgeblieben sein. Die Schicksale Khovanskys, Dosifeis und Golizyns seien nicht als individuelle, persönliche Schicksale im herkömmlichen Sinne zu verstehen, sondern stünden für Ideen und Konzepte. Sie seien letztlich Symbole und darin bestehe die große Neuerung dieser Oper. (Denn selbst im Boris Godunow kann man noch von persönlichen Schicksalen sprechen.) Beide Khovanskys repräsentierten die weltliche Macht des alten Russland, Dosifei dagegen die geistliche Macht des alten Russland. Golizyn wiederum stehe für die „Westanbindung“ des neuen Russland.


    Für mich sind das durchaus plausible Erwägungen. Wie schon im Eröffnungsbeitrag erwähnt, fühle ich mich bei der Beschäftigung mit der Khovanshchina permanent an die großen Romane Dostojewskis, insbesondere die Brüder Karamasow erinnert. Bezeichnenderweise gibt es dort eine Stelle, an der Ivan (der „Westler“ unter den Brüdern) gegenüber seinem Bruder Aljoscha sinngemäß äußert, dass Erzählungen, wenn sie denn wirklich russisch seien, immer voll von Widersprüchen und Schwierigkeiten seien. Und selbst gegenüber den Brüder Karamasow, diesem anerkannten Meisterwerk wird der Vorbehalt geäußert, dass die Proportionen darin nicht stimmten (z. B. sei die Sossima-Episode viel zu lang geraten; auch hier, wie bei Mussorgsky, wurde interessanter Weise der Vorwurf der Disziplinlosigkeit gegen den notorisch „Christussucher“ Dostojewski erhoben) oder dass es ein Wirrwarr von Personen gäbe bzw. Personen auftauchten und wieder verschwänden, ohne dass eine notwendige Bedeutung für die eigentliche Entwicklung ohne weiteres erkennbar würde. Ich stelle mir also die Frage, ob Mussorgsky gerade auch in der Art der Erzählung seines „russischen Volksdramas“ in besonderer Weise auf spezifische Seins- und Erlebnisweisen des russischen Volkes eingehen wollte. In seiner Musik zu dieser Oper hat er es mit dem Rückgriff auf das russische Volksliedgut jedenfalls in besonderer Weise getan!


    Und wenn Baroni schreibt, die Tragik der Khovanshchina stecke nicht in den Begebenheiten, die das russische Volk erleide, sondern vielmehr darin, dass seine Möglichkeiten, diese Begebenheiten zu verstehen und zu durchschauen nicht ausreichen, sie vorauszusehen und sie zu beherrschen, so sehe ich auch darin eine Parallele zu Dostojewski. Auch dessen Romane haben letztlich kein anderes Thema als das (vergebliche) Suchen des russischen Menschen nach dem richtigen Glauben, dem richtigen Miteinander und der richtigen Zukunft, die er nicht zu lenken vermag. Und auch er, der „russischste“ der großen russischen Romanciers seiner Zeit, erzählt davon wesentlich in nicht selten rätselhaften Gleichnissen. Es sind symbolhafte Erzählungen, von denen man einen Schritt zurücktreten muss, wenn man sie über die jeweils Handelnden hinweg in ihrem Kern erfassen will. Wie gerne lässt Dostojewski doch Ideen wie „Gut“ und „Böse“, „Gott“ und „Teufel“, jeweils repräsentiert durch Personen aufeinander treffen. Und dabei liefert er dann kaum Verlässliches, Eindeutiges oder Antworten, sondern schürt Zweifel und wirft Fragen auf. All dies finde ich auch in der Khovanshchina. Diese insgesamt sowie ihre einzelnen Aufzüge legen es nahe, wie Bilder bzw. Gleichnisse verstanden zu werden. Wie die Romane Dostojewskis laufen sie ruhig und weniger Antwort gebend, als nachdenklich stimmend aus. Und wie dargestellt geht es auch hier nicht primär um individuelle Charaktere, sondern es sind Repräsentanten bestimmter Ideen und Kräfte innerhalb des russischen Volkes am Werk.


    Loge

    Die von Joseph II. gepostete Einspielung der Khovanschina unter Claudio Abbado ist aus meiner Sicht sehr zu empfehlen. Dies schon der hier zugrunde gelegten Fassung(en) wegen. Denn wie der Boris Godunow so hat auch die Khovanshchina eine komplexe Bearbeitungs- und Instrumentierungsgeschichte. In groben Zügen:


    Mussorgsky selbst hatte das Libretto sowie die Klavierfassung mit Stimmen und Instrumentierungsangaben bis auf das Finale fertig gestellt. Eine anschließende Kürzung des Librettos hat er nicht mehr in die Klavierversion eingearbeitet. Baroni (Musik-Konzepte) meint, dass Mussorgsky die Arbeit an dem Werk insgesamt nicht als endgültig betrachtete. In dieser ursprünglichen Fassung gliederte sich die Handlung in sechs Szenen.


    Nicolai Rimski-Korsakow fertigte nach dem Tod Mussorgskys dann eine recht eigenmächtige Bearbeitung des Werkes an, die sich vom Original neben Streichungen und einer Gliederung in fünf Aufzüge vor allem durch eine vollere, geschmeidigere Instrumentierung und geänderte Harmonien unterscheidet. Derlei Eingriffe betrachtete Rimski-Korsakow auch hier letztlich als Freundschaftsdienst, da ihm z. B. die ungewohnten Harmonien als handwerkliche Mängel erschienen. Darüber hinaus hat Rimski-Korsakow im Gegensatz zu Mussorgskys Vorlage die Aufzüge fast immer bombastisch und im forte enden lassen. Das nachkomponierte Finale bildet ein Triumphmarsch(!). – Das ist insofern durchaus kurios, als mal jemand festgestellt hat, dass wohl kein anderer Komponist so viele Aktschlüsse im pianissimo komponiert habe wie Mussorgsky. Und das sollte doch wohl etwas bedeuten! – Diese Fassung lag sodann bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein fast ausnahmslos allen Bühnenaufführungen und Einspielungen dieser Oper zugrunde.


    Im Jahr 1913 fertigte Igor Strawinsky (in Zusammenarbeit mit Maurice Ravel) für eine Aufführung an der Pariser Oper eine weitere Bearbeitung (vor allem Neu-Instrumentierung) an, in der er die von Rimski-Korsakow vorgenommenen Streichungen rückgängig machte und ein ruhiges, ersterbendes Finale auf Grundlage der Materials Mussorgskys hinzukomponierte. Aufgrund der Weigerung Fjodor Iwanowitsch Schaljapins, die Rolle des Dosifej in der neu bearbeiteten Fassung zu singen, war man gezwungen, für diese Aufführung schließlich eine Mischfassung zugrunde zu legen, die in der Folgezeit so nicht überzeugen konnte.


    In den 50er Jahren schließlich erfolgte eine geringfügige Bearbeitung und anschließend auch Neu-Instrumentierung der Oper durch Dimitri Schostakowitsch. Schostakowitsch hatte sich hierfür sehr eng an die Klavierfassung Mussorgskys gehalten und auch im übrigen versucht, den instrumentalen Vorstellungen Mussorgskys zu entsprechen. Neben einzelnen Ergänzungen Schostakowitschs und einem weiteren Final-Entwurf (erneut lauter und aufwühlender, als es die von Mussorgsky geäußerten Pläne nahelegen) sind es vor allem gewisse „Härten des 20. Jahrhunderts“, die zuweilen an seiner Fassung beanstandet werden. Die Schostakowitsch-Version wurde erstmals 1986 in der Einspielung unter Emil Tschakarow (Sofia National Opera, SONY) und sodann auch 1991 in der Einspielung unter Valery Gergiev (Kirov, Philips) zugrunde gelegt.


    Zeitlich dazwischen – nämlich 1989 – wurde für die Wiener Staatsoper unter der Leitung Claudio Abbados gewissermaßen eine Schostakowitsch/Strawinsky Fassung zugrunde gelegt (es ist die von Joseph II. gepostete Einspielung). Claudio Abbado schreibt dazu im Begleitheft: „Im Prinzip benützen wir die sehr nahe an Mussorgsky heranführende Instrumentation Schostakowitschs. Was dieser aber ergänzt oder gegen die Absichten Mussorgskys instrumentiert hat, wird nicht verwendet. Außerdem haben wir die in einigen Episoden von Mussorgsky noch selbst besorgte Instrumentation, die in Leningrad aufbewahrt wird, auch an den motivischen Analog-Stellen eingesetzt. […] Die Aufführung an der Wiener Staatsoper hält sich an die von Mussorgsky selbst vorgenommenen Kürzungen. Diese wurden leider weder von Rimski-Korsakow noch von Schostakowitsch berücksichtigt, obwohl unmissverständlich ist, welche Streichungen Mussorgsky als notwendig befunden hat. […] Das Resultat zeigt, dass Strawinskys Finale im Vergleich zu den anderen den Ideen Mussorgskys am nächsten kommt. Daher wurde für die Aufführung an der Wiener Staatsoper und für die vorliegende Aufnahme das Finale Strawinskys gewählt.


    Loge

    MODEST MUSSORGSKY


    (1839 – 1881)



    KHOVANSHCHINA


    Musikalisches Volksdrama in fünf Aufzügen



    Die „Khovanshchina“ ist Modest Mussorgskys vorletzte Oper. Der Arbeit an Libretto und Musik erstreckte sich vom Sommer 1872 bis in das Jahr 1880 und wurde von Mussorgsky als äußerst langwierig und mühsam empfunden. Schon der Untertitel des Werkes weist auf den hohen Anspruch und die große Anlage hin: Mussorgsky wollte nichts Geringeres als ein „musikalisches Volksdrama“, ja eigentlich DAS Musikdrama für das russische Volk schreiben. Zu diesem Zweck arbeitete er sich durch einen gewaltigen Berg geschichtlicher Abhandlungen und Chroniken. Mehrfach hatte er das Gefühl, in dem herangezogenen geschichtlichen Material förmlich zu ertrinken. Viel ist seit dem erstmaligen Erklingen der Oper 1886 - übrigens in einer bearbeiteten Fassung Nicolai Rimski-Korsakows (hierzu in einem späteren Posting mehr) - über Handlung und Dramaturgie der Khovanshchina diskutiert worden, vor allem die Frage, ob Mussorgsky sich an seinem riesenhaften Plan „überhoben“ habe (auch hierzu in einem späteren Posting mehr).


    Es ist tatsächlich nicht leicht auf den Punkt zu bringen, worum es in diesem Werk eigentlich geht. Bis heute werden Lösungen zu der Frage angeboten, ob und wie sich die Teilhandlungen der einzelnen Aufzüge wohl zu einem Einheit stiftenden Sinn des Ganzen zusammenführen lassen. Lässt sich in dem Werk ein halbwegs stringenter Handlungsstrang im Sinne einer an westlichen Erzählformen orientierten Dramaturgie ausmachen? Wollte Mussorgsky mit dieser Oper überhaupt eine abgeschlossene Botschaft verkünden? Muss man „Russe“ ein, um das Werk vollständig verstehen zu können? Spricht Mussorgsky hier wesentlich in Symbolen? Erinnert uns das an Dostojewski, dessen Romane zuweilen dem Vorwurf ausgesetzt sind, nicht sorgfältig und stringent konstruiert zu sein? - Eine sinnvolle Inhaltsangabe zu verfassen, ist jedenfalls nicht einfach und kaum sinnvoll in Kurzfassung zu leisten. Ich verweise daher auf einschlägige Darstellungen in Operführern.


    Trotz aller dramaturgischen Fragen ist die Khovanshchina musikalisch ein überaus faszinierendes Werk. Sie gilt einerseits als Mussorgskys „russischste“ Oper, andererseits darf man sie aus gewissen Gründen aber auch seine „italienischste“ nennen! Hinzu kommt eine ganz eigene musikalische Erzählweise Mussorgskys (auch hierzu in einem späteren Posting mehr). Infolge der zahlreichen, frappierenden Anklänge an Verdi erscheint es verwunderlich, dass die Khovanshchina in der Popularität bei uns hinter dem Boris Godunow zurücksteht, der meines Erachtens insgesamt musikalisch schwerer zugänglich ist. Daneben bietet die Khovanshchina wunderbar atmosphärische Vorspiele, wirkungsvolle Chöre und hinreißende Lieder (auch hierzu in einem späteren Posting mehr). Populär ist daneben vor allem der „Tanz der Perserinnen“.


    Loge

    Gewiss, die Neujahrskonzerte unter C. Kleiber (1989, 1992) sind eine ganz feine Sache. Auf ihre Weise nicht zu toppen! Auf gleicher Höhe, wenn auch in anderer Weise, bewegt sich aber das Neujahrskonzert unter Karajan (1987), das hier schon von Glockenton angeführt worden ist und zu "Gramophone's 100 Greatest Classical Recordings of All Times" zählt. Bekanntlich bilden die Neujahrskonzerte dieser beiden Dirigenten, von denen Michael Gielen sagt, dass sie "die zwei Genies unter den Dirigenten der Nachkriegszeit" waren und für die allein die Wiener bei kurzfristig erklärter Bereitschaft zur Übernahme eines zusätzlichen Dirigats sogar eine längst vergebene Abonnementreihe erweiterten, auch hier eine Extraklasse. Ich würde daher gleich folgende Box empfehlen:



    Dann hat man beisammen, was man braucht! :D


    Loge

    Zweifellos eine weitere Referenzeinspielung ist diese 8. Sinfonie Bruckners unter Leitung desjenigen Künstlers, den die Wiener trotz aller schwierigen Jahre mit ihm am Ende zu ihrem "Ehrendirigenten" wählten. Eine beinahe singuläre Auszeichnung bei dem Wienern!


    Vermutlich, weil sie ihn trotz allem eben einfach netter fanden als z. B. Bernstein, Solti oder C. Kleiber... :hahahaha:



    Loge


    Klingsors Liste scheint mir mit Übersicht zusammengestellt und wohl abgewogen. Ich schließe mich ihr gerne an. Alle wesentlichen Genres sind mit den wichtigsten Komponisten vertreten. Richtig ist es – wie man auch immer zur Grand opéra stehen mag – mit Meyerbeer den Hauptvertreter dieses bedeutenden Zweigs der Oper des 19. Jahrhunderts aufzunehmen. Mahler gehört mit seinem Schaffen viel mehr dem 19. als dem 20. Jahrhundert an. Janacek und Debussy gehören dagegen mehr ins 20. Jahrhundert. Dvorak und Smetana sind letztlich weniger wichtige Vertreter der „deutschen Musik“ mit regionalem Lokalkolorit. Ich neige dazu, zusätzlich noch Johann Strauß (Sohn) aufnehmen zu wollen.


    Loge

    Zitat

    Original von Wulf
    Ich finde, diesen Taubheits-Bonus, den Loge schon versucht hat anzuführen, um gewisse Verhältnisse gerade zu rücken, hat Beethoven gar nicht nötig.


    Lieber Wulf,


    den hat Beethoven gewiss nicht nötig. Ich wüsste aber auch nicht, wo ich derlei je angeführt haben sollte.


    Loge

    Folgende Anekdote ist noch bezeichnender:


    Ingmar Bergman schildert seine Begegnung mit Herbert von Karajan anlässlich der Salzburger Festspiele 1983, in deren Rahmen Bergman Molières Don Juan inszenierte:


    "Ich wurde eingeladen, Herbert von Karajan zu besuchen, der im Großen Festspielhaus eine Premiere der Neuinszenierung des Rosenkavalier vorbereitete, seiner stolzesten Schöpfung.


    Er ließ mich mit seinem Wagen abholen. Man führte mich in sein privates Büro im Innern des gewaltigen Baus. Er kam einige Minuten zu spät, ein kleiner, zartgliedriger Mann mit einem zu großen Kopf. Er hatte vor einem halben Jahr eine schwere Rückenoperation hinter sich gebracht und zog das eine Bein nach. Ein Mitarbeiter stützte ihn. Wir setzten uns in einen bequemen Raum, der in ausgesucht schönen grauen Farbtönen gehalten war und unpersönlich, kühl und elegant wirkte. Assistenten, Sekretärinnen und Mitarbeiter zogen sich zurück. Eine halbe Stunde später wartete die Probe des Rosenkavalier mit Orchester und Solisten.


    Der Maestro kam sofort zur Sache. Er wollte mir mir als Regisseur Puccinis Oper Turandot für das Fernsehen verfilmen. Er sah mich mit seinen hellen kalten Augen an. (Normalerweise bin ich der Meinung, dass Turandot eine unangenehme, unhandliche, pervertierte Suppe ist; ein Kind ihrer Zeit.) Ich wurde in den hypnotisch hellen Blick des kleinen Mannes hineingesogen und hörte mich sagen, es sei eine große Ehre, Turandot habe mich schon immer fasziniert, die Musik sei rätselhaft, aber bezwingend, und ich könnte mir nichts Anregenderes vorstellen, als mit Herbert von Karajan zusammenzuarbeiten.


    Die Produktion wurde für das Frühjahr 1989 ins Auge gefasst. Karajan nannte eine Reihe Stars der Opernwelt, schlug mir einen Bühnenbildner und ein Studio vor. Der Film sollte auf einer Plattenaufnahme basieren, die er für den Herbst 1987 plante.


    Plötzlich war alles unwirklich. Die Produktion von Turandot war das einzig Wirkliche. Ich wusste, dass der Mann vor mir fünfundsiebzig Jahre war, ich selbst war zehn Jahre jünger. Ein einundachtzigjähriger Dirigent und ein einundsiebzigjähriger Regisseur sollten dieser mumifizierten Absonderlichkeit gemeinsam Leben einhauchen. Das Groteske des Projekts kam mir nicht in den Sinn. Ich war rettungslos fasziniert."


    DAS IST CHARISMA – und zwar in größter Potenz, das selbst vor einem „Größten“ einer anderen Zunft seine magische Wirkung entfaltet!


    An Dirigenten mit ähnlich charismatischem Potential wie Karajan fallen mir nur Toscanini, Furtwängler, Bernstein und C. Kleiber ein, aber die sind auch schon alle tot. Diese fünf sind wahrlich "Super-Charismatiker".


    Zu den lebenden Dirigenten:


    Als größten Charismatiker unter den lebenden Dirigenten würde ich Boulez bezeichnen, wobei sich das Charisma hier wohl mehr aus seinem Nimbus des bedeutenden Komponisten, als seinem zwischenzeitlich ebenfalls ganz beachtlich entwickelten Können als Dirigent speist.


    Als charismatisch in schon jungen Jahren würde ich z. B. Maazel, Muti, Rattle und Nagano bezeichnen, wobei die beiden erstgenannten ihr Charisma vielleicht nicht altersgemäß weiterentwickelt haben.


    Ein gewisses Charisma im Alter haben sich Harnoncourt und Abbado erworben. Aber das lässt sich ja in diesem Beruf offenbar kaum vermeiden, wenn man nur alt genug wird.


    Loge

    Hier ist eine aufschlussreichere Anekdote zum Thema, die Michael Gielen (der Karajan ästhetisch in mancher Hinsicht ablehnend gegenübersteht) unlängst in einem Interview berichtet hat:


    „GIELEN: Als er [Karajan] in Wien Direktor war, hat er mich zweimal an die Skala geschickt, für ihn Wagner-Einstudierungen vorzuprobieren mit dem Orchester, und ich hab’ einmal sechs Orchesterproben Walküre gemacht und einmal sechs Orchesterproben Tristan, damit er sich dann mit der Drecksarbeit nicht beschäftigen muss, wenn er kommt. Das Orchester war sehr gut damals, die kannten die Stücke gut, und nach diesen sechs Proben war das sehr sauber.


    STS: Er war zufrieden mit Ihnen?


    GIELEN: Ja, das glaub’ ich schon. Er hat jedenfalls nichts dagegen gesagt. Aber, als er kam und selber dastand – ich bin diesen Tag noch dort geblieben, weil ich erleben wollte, was da passiert -, da fing er an mit dem Vorspiel zum dritten Akt Tristan, die spielten ’ne Minute, und dann hat er abgebrochen und hat irgendwas gesagt, was kein Mensch verstehen konnte, hat irgendwas gemurmelt, schnell und nicht sehr deutlich, und dann noch mal, und da klang’s schon anders, und derselbe Vorgang noch einmal – und dann klang es so, wie eben nur das Orchester bei Karajan klingt, obwohl er technisch überhaupt nichts gesagt hat. Das ist was Besonderes. Das können die wenigsten Kapellmeister, und davor muss man schon den Hut ziehen. Ich weiß nicht, woher das nun kommt…“


    Loge

    Zitat

    Original von Kurzstueckmeister
    hat das karajan nicht aufgenommen?
    ?(


    Nein, hat er nicht, jedenfalls nicht ganz, sondern nur die "Tänze der persischen Sklavinnen" und das Vorspiel zum 2. Bild des 4. Aktes. Ach, hätte dieser große Dirigent die Oper doch nur eingespielt, wenn auch damals freilich noch in der Fassung von Rimsky-Korsakow. Denn ich schwöre Dir, lieber Kurzstückmeister, wenn Du mal in die Aufnahme des Vorspiels zum 2. Bild des 4. Aktes, das er 1959 mit dem Philharmonia Orchestra aufgenommen hat, reinhörst, wird es Dich rücklings wegknallen. Das ist SO russisch, tief, dunkel, weit, erhaben und schön, wie man es sich nicht besser denken kann. Da kannst Du auch mal hören, was ein perfektes Tempo ausmacht. Z. B. im Vergleich mit der insgesamt auch ganz vorzüglichen Gesamteinspielung Abbados (nicht Rimsky-Korsakow Fassung).


    Loge

    Abgesehen von den allzu bekannten Verdächtigen, von denen hier schon viele genannt wurden und deren Nennung ich mich oftmals anschließen kann, möchte ich noch den Beginn von Mussorgskys Khovanshchina nennen. Das Vorspiel ist mit „Morgendämmerung über der Moskwa“ überschrieben und setzt unglaublich zart und atmosphärisch ein. Mehr noch als ich mich beim Beginn des Rheingolds in die Tiefen des Rheins versetzt fühlen kann, entsteht hier vor meinem inneren Auge das Bild aufsteigenden Morgennebels über einer ruhig dahin fließenden Moskwa. Wenn man die Oper schon kennt und weiß, welche dunklen und archaischen Dramen sich hier anschließend in Klängen entfalten werden, können dieser Beginn und auch das gesamte Vorspiel mit seinen süßlichen, beinahe kitschigen Melodien (aus dem man denn auch per drohendem Glockenschlag geradezu herausgerissen wird) sehr rührend sein.


    Loge

    Fraglos eine Referenz unter den vielen herausragenden Einspielungen der Berliner vor allem auch unter Karajan ist diese hier:



    Unvergleichlich transparenter Klang- und Farbenzauber. Nicht ohne Grund werden diese Aufnahmen bei Gramophone unter den ALL TIME 100 geführt.


    Loge

    Alfred stellt eine Frage, die reichlich provokant und in dieser Fassung für einen sinnvollen Thread ungeeignet ist, weil er das „nicht“ am Ende ausgelassen hat, und schon beginnt hier eine muntere Auseinandersetzung über diese falsche Frage, die offenbar fast alles ausblendet, was es zum Einfluss Beethovens an unzähligen eigenen Äußerungen von Komponisten und an ebenso unzähligen Untersuchungen und Stellungsnahmen von Seiten der Musikwissenschaft gibt. Dazu sind schon ganze Schrankwände voll geschrieben worden! Die Floskel, „sein Einfluss ist kaum zu überschätzen“, gilt vor allen anderen für Beethoven. Beethoven, der natürlich selbst vielfachen Einflüssen ausgesetzt war, ist DER Ausgangs- bzw. Orientierungspunkt für fast alles, was danach kam.


    Zu beachten ist dabei, dass ein solcher Einfluss in ganz unterschiedlicher Weise (und unterschiedlich deutlich) wirksam werden kann, etwa durch Anlehnung, Weiterentwicklung oder auch durch Abgrenzung(!). Sinnvoller erschiene es mir herauszuarbeiten, welcher Komponist möglicherweise NICHT beeinflusst ist bzw. sich NICHT mit seinem Schaffen auseinandergesetzt hat. Das wären dann ganz wenige. Um mal bei großen Namen zu bleiben: Schubert oder Chopin haben sich ganz bewusst (und zum Teil vergeblich) abzugrenzen versucht. Und selbst dabei wird ein schier erdrückender Einfluss wirksam! Komponisten wie Mussorgsky und Janacek haben eine gewisse Autonomie angestrebt. Jedenfalls bei Janacek ist aber eine direkte Auseinandersetzung mit Beethoven bekannt.


    Und man muss bei der Frage des Einflusses wiederum innerhalb des enorm weit gespannten Schaffens Beethovens unterscheiden. Die von Beethoven geschaffene sinfonische Form etwa ist schon für die direkt nachfolgenden großen Komponisten wie Liszt, Schumann oder Mendelssohn und sodann auch für Brahms (vor allem in dessen 4. Sinfonie), Bruckner, ja selbst für Mahler Ausgangs- bzw. Orientierungspunkt. Der Einfluss z. B. der späten Streichquartette ist nicht nur bei Schumann, sondern noch 100 Jahre später in der Musik der Wiener Schule oder bei den Streichquartetten Bartoks unmittelbar wirksam. Die Variationskunst Beethovens wiederum hat bei Komponisten wie Brahms oder Reger großen Einfluss ausgeübt. Das ließe sich lange fortführen.


    Und was der Lullist hier äußerst, ist in der Tat grotesk.


    Loge

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    Original von Wulf
    Aber es soll ja speziell um einen Vergleich Ravel-Debussy gehen und da möchte ich schon die Frage anbringen, ob Debussy musikgeschichtlich nicht doch die bedeutendere Person ist und durchaus in einem Atemzug mit den ganz Großen genannt werden darf bzw. muss.


    Na, na, na, lieber Wulf! Was ist denn das überhaupt für eine Frage, die da in Dir arbeitet und ans Forumslicht treibt? Und so suggestiv formuliert! Aber ich kann Dich da durchaus beunruhigen: Mit den „ganz Großen“ in „einem Atemzug“? Also wirklich in ein und demselben Atemzug? Z. B. mit Bach, Mozart, Beethoven oder vielleicht auch Wagner? Nein, lieber Wulf, das insgesamt leider nicht. Ravel aber auch nicht.


    Loge

    Zitat

    Original von Wulf
    Ich gebe offen zu, daß Böhms Dirigate viel zu hochwertig sind, als daß man sie als schlecht bezeichnen könnte.


    Lieber Wulf,


    Deine rückhaltlose Offenheit in diesem Punkt beeindruckt. Und dann noch dieses überaus großzügige Gesamturteil! Das wird den Karl auf seiner Wolke sicher sehr glücklich machen. :)


    Loge