Heinrich Schütz (1585-1672):
HISTORIA DES LEIDENS UND STERBENS UNSERES HERRN UND HEILAND JESU CHRISTI NACH DEM EVANGELISTEN ST. MATTHÄUS
Passionsmusik für Soli und Chor a capella, SWV 479
Uraufführung am Sonntag Judica 1666 in der Dresdner Hofkirche
GESANGSSOLISTEN
Evangelist, Tenor
Jesus, Baß
Judas, Altus
Petrus, Tenor
Zwei Mägde, Soprane
Kaiphas, Baß
Pilatus, Tenor
Sein Weib, Alt
Zwei falsche Zeugen, Tenöre
INHALTLICHE INFORMATIONEN
Auch zu dieser Passionsvertonung, der musikalisch reichsten und, durch den Evangelien-Bericht bedingt, der dramatischten und lebendigsten seiner drei Passionsmusiken, schreibt Heinrich Schütz einen Programm-Hinweis:
Das Leiden unseres Herren Jesu Christi,
wie es beschreibet der heilige Evangeliste Matthäus.
Dieser feierliche Introitus ist durch große Stimmungskontraste gekennzeichnet (Mischung der großen dorischen Sext mit der kleinen Mollsext), verstärkt bei dem Wort „Leiden“ durch das zusätzlich eingefügte tiefalteriertes Es, während der Evangelisten-Name mit dissonanzenreicher Schärfe angereichert wird.
Was sich schon in der Lukas-Passion ankündigte, in der Johannes-Passion fortsetzte, ist hier zu künstlerischer Vollendung gereift: Die Wortverkündigung des Evangelisten bedient sich eines Rezitationsstils, der aus einer Mischung von Gregorianik, deutschem Liedgesang und italienischer Opernmonodie besteht. Schütz läßt den Evangelisten innerhalb der dorischen Tonart mit dem Grundton g in sehr engem Rahmen singen, nämlich vom Grundton bis zu Quinte. Nur wenn es im Evangelien-Bericht dramatische Ereignisse zu schildern gibt, weicht Schütz auch in die Tiefe oder Höhe aus.
Auffällig, aber mit dem Bericht des Matthäus (vertont wurden die Kapitel 26 und 27) zu begründen, ist die Schilderung der Jesusgestalt als die eines gepeinigten Menschen mit göttlichen Zügen. Diese Darstellung wird besonders in der Abendmahls-Szene deutlich, in der Schütz Jesu Einsetzungsworte
Nehmet, esset; das ist mein Leib (…) Trinket alle daraus;
das ist mein Blut des neuen Testaments, welches vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden
mit melodiösem Pathos versieht. Ganz anders, mit gelassener Ergebenheit, tritt Jesus dem Hörer in der Gebetsszene im Garten Gethsemane gegenüber; in der Golgatha-Szene ist der melodisch als auf- und absteigende Oktave notierte Ruf „Eli, Eli, Eli lama asabthani“ von einer dermaßen eindringlichen Suggestivkraft, das sofort Verzweiflung signalisiert wird.
Auch die anderen „Interlocutori“ werden von Schütz genauestens musikalisch porträtiert:
- Judas vermittelt durch seine mehrmaligen Wortwiederholungen den Eindruck eines ebenso aufgeregten wie verunsicherten Menschen;
- Petrus stellst sich dem Hörer auch nicht gerade als ein selbstsicherer Anhänger Jesu vor, denn seine forcierte Ausdrucksweise zeigt ebenfalls Unsicherheit an;
- ganz anders Kaiphas: der Hohepriester, Schwiegersohn und Nachfolger von Hannas, signalisiert mit seinem Baß Strenge und Würde und gewinnt als Gegner Jesu sogar Statur - zumindest bis zu jener Minute, in der Jesus ihn durch seine Selbstsicherheit so zur Verzweiflung bringt, daß er seine „Kleider zerreißt“;
- für die zwei falschen Zeugen gegen Jesus findet Schütz die interessante Variante, sie im Kanon singen zu lassen, wobei der zweite Tenor die Aussage des ersten wörtlich, wie einstudiert wirkend, wiederholt, mal einen Ton höher, mal einen tiefer.
Genauso überzeugend, ob dramatisch oder ruhig, immer jedoch mit großem Ausdruck vertont, wirken die Chöre auf den Hörer:
- das Urteil der Schriftgelehrten und Ältesten „Er ist des Todes schuldig“ fällt durch einen Quintfall auf, der, wird er nur energisch genug vorgetragen, wie ein unumstößliches Urteil klingt;
- wenn Judas reuig vor die Hohenpriester tritt um die Silberlinge zurückzugeben, die ihn jedoch nicht nur gleichgültig zurückweisen, sondern sich hauptsächlich Sorgen um die weitere Verwendung des 'Blutgeldes' machen, dann beschränkt sich Schütz auf kurze Sätze (die nur den Alt- und Männerstimmen anvertraut sind), die einen unheimlichen Eindruck hinterlassen;
- die Juden treten als erregte und gemeine Masse auf, die mit zynischem Unterton den geschlagenen Christus fragt „Weissage uns, Christe, wer ist's, der dich schlug“ und konkret bedrohlich wirkt;
- die ihre Rufe nach der Freilassung von Barrabam durch verschachtelte Imitationen und mehrmaligen Namens-Wiederholungen Unruhe auszudrücken in der Lage sind;
- die mit naturalistischem Geschrei zweimal „Laß ihn kreuzigen“ regelrecht herausbrüllt und in nur drei kurzen Takten das wütende Volk eindringlich zu schildern vermag;
- durch einfache Wortdeklamation als geniale Charakterstücke geformt drückt Schütz den Spott der Juden und der Kriegsknechte („Gegrüßet seist du, der Juden König“ oder das gehässige „Der du den Tempel Gottes zerbrichst und bauest ihn in dreien Tagen, hilf dir selber! Bist du Gottes Sohn, so steig herab vom Kreuz!“) aus;
- dagegen erscheinen die mit lyrisch gebundenen Melismen vertonten Worte der Soldaten „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen“ dem Hörer wie ein beruhigendes Lied, das mit gebetsmäßigem Klang schon auf die Zukunft des Ostergeschehens hinweist.
Auch in den Äußerungen der Hohenpriester, die Pilatus bitten, das Grab Jesu bewachen zu lassen
Herr, wir haben gedacht, daß dieser Verführer sprach, da er noch lebete:
Ich will nach dreien Tagen wieder auferstehen. Darum befiehle, daß man das Grab verwahre bis an den dritten Tag,
auf daß nicht seine Jünger kommen und stehlen ihn
und sagen zu dem Volke: Er ist auferstanden von den Toten; und werde der letzte Betrug ärger, denn der erste
findet Schütz eine Ausdrucksweise, die das Wunder der Auferstehung vorweg nimmt.
Der „Beschluß“ dieser Passionsmusik, dessen Text die letzte Strophe des Passionschorals „Ach, wir armen Sünder“ aufnimmt, die Musik dazu von Schütz jedoch in Form einer Motette neu komponiert wurde, ist von schlichter Erhabenheit, mit einem Zug zur Mystik, die jeden Vergleich mit der Musik Bachs in seinen Passionen standhält:
Ehre sei dir, Christe, der du littest Not,
an dem Stamm des Kreuzes für uns den bittern Tod
In feierlicher Form, in der Grundtonart g-Moll, aber in liedhafter Vortragsweise, setzt der Chor mit der ersten Verszeile ein; dabei wird der Name „Christe“ mit einer bis zur neunten Stufe aufsteigenden Gesangslinie der Bässe hervorgehoben. Das in der zweiten Zeile angesprochene Leiden Jesu drückt Schütz mit fast schmerzhaft wirkenden Dissonanzen aus. Erst danach, sozusagen im zweiten Teil, wird die motettische Form voll wirksam:
und herrschest mit dem Vater dort in Ewigkeit:
wird dreimal im homophonen Stil und großem Klangreichtum wie ein Triumphchor wiederholt. Die nachfolgende Textzeile
hilf uns armen Sündern zu der Seligkeit.
läßt Schütz zuerst zweistimmig von den Frauen anstimmen, ehe sich die Tenöre und Bässe anschließen und die Motette schlicht und gebetshaft ausklingen lassen - könnten. Doch Schütz hält es für wichtig, zur Abrundung noch den Lobgesang hinzuzufügen:
Kyrie eleison, Christe eleison, Kyrie eleison
und komponiert einen ebenso ruhigen wie kunstvollen Ausklang, der von der Subdominante bis zur Dur-Parallele der Tonika in weichen Modulationen durchläuft; darin zeigt sich der „Stammvater der teutschen Musik“ als ein wahrer Meister, der die alte motettische Kunst mit einer in die Zukunft weisenden Fülle an musikalischen Gedanken zu verbinden weiß.
INFORMATIONEN ZUM WERK
Der Brauch, die Passionsgeschichte nach den vier Evangelisten an vier Tagen in der Karwoche mit verteilten Rollen zu singen, hatte sich früh in der Kirche des Mittelalters etabliert. Der Zweck war sicherlich, das Geschehen für das des Lateinischen nicht mächtige Volk deutlich zu machen.
Dabei sang ein Geistlicher die erzählenden Partien, ein anderer die Worte Jesu, ein dritter die der übrigen Personen, die Äußerungen des Volkes wurden chorisch wiedergegeben. An den Anfang kam ein Chorsatz, der wie ein Programm-Plakat den Hörer informieren sollte. Dieser Text war, mit unwesentlichen Änderungen, stets der gleiche: „Das Leiden unsers Herren Jesu Christi, wie uns das beschreibet der heilige Evangelist...“. Den Schluß der Passion bildete ein Dankeschor und auch hier waren die Worte stets gleich: „Dank sei unserm Herrn Jesu Christo, der uns erlöset hat durch sein Leiden von der Hölle“.
Die reformatorische Kirche behielt zwar diese Besonderheit bei, wenngleich Luther auf diese Art des musikalischen Gottesdienstes keinen großen Wert legte. Aber sein musikalischer Berater Johann Walther hatte schon im Jahre 1530 für den kirchlichen Gebrauch die Passionsgeschichten nach Matthäus und Johannes mit deutschen Text eingerichtet und die erstere für den Palmsonntag, die letztere für den Karfreitag bestimmt. Tatsächlich hatte diese Tradition bis tief ins 18. Jahrhundert Bestand; in Leipzig wurde die Tradition erst im Jahre 1766 abgeschafft.
Heinrich Schütz hat sich in seinen drei Passions-Historien genauestens an die Tradition gehalten, weist jedoch in der musikalischen Struktur schon die Zukunft. Die wesentliche Neuerung besteht in der Abschaffung des Choraltons für die Soliloquenten, die dafür eine mannigfaltige melodische Bewegung erhielten. Das drückte eine lebendige persönliche Empfindung aus, und nicht mehr jene Ruhe, die man bis dahin gewohnt war. Das zeigte sich übrigens auch in den neuartigen und ungebräuchlichen Wort- und Satzwiederholungen beim Chorgesang: vor allen Dingen in den dramatischen Passagen bemerkte man plötzlich Lebhaftigkeit und Schärfe des Ausdrucks. Sicherlich wurde das durch die Entwicklung der konzertierenden Musik möglich.
Während Schütz für seine ältere Lukas-Passion den lydischen, für die Johannes-Passion den phrygischen Modus wählte, verwendete er hier die dorische Kirchentonart. Als liturgische Musik hatte das Werk im Gottesdienst der Dresdener Schloßkirche ihren festen Platz. Diese Passion war ursprünglich für den Sonntag Judica bestimmt, dem 5. Sonntag in der Passionszeit. Nach den Änderungen der gottesdienstlichen Gepflogenheiten geriet das Werk in Vergessenheit und wurde erst zu Beginn der 1880er Jahre auf Anregung Spittas durch Arnold Mendelssohn mit instrumentalen Zusätzen in Bonn wiederaufgeführt. In der Originalfassung, also ohne Instrumente, erklang sie erstmals wieder 1929 auf dem zweiten Heinrich-Schütz-Fest in Celle.
© Manfred Rückert für Tamino-Oratorienführer 2012
unter Hinzuziehung folgender Quellen:
Textfassung der Matthäus-Passion
Otto Brodde, Heinrich Schütz - Weg und Werk, Kassel 1979
Oratorienführer von Oehlmann, Pahlen, Harenberg