Franz Schmidt (1874-1939):
DAS BUCH MIT SIEBEN SIEGELN
Oratorium in drei Teilen nach der Offenbarung des Johannes für Soli, Chor, Orchester und Orgel mit einem Prolog und einem Epilog - Textzusammenstellung vom Komponisten
„Der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien zum 125-jährigen Bestande gewidmet“
Uraufführung am 15. Juni 1938 im großen Saal des Wiener Musikvereinsgebäudes
BESETZUNG
Johannes, Tenor
Die Stimme des Herrn, Bass
Weitere Solopartien: SATB
Chorische Besetzung: SATB
INHALTSANGABE
Der Prolog im Himmel
Johannes, der Verfasser der Offenbarung, begrüßt die Hörer mit dem Friedensgruß, einer Kompilation aus den Versen 4 bis 6 des ersten Kapitels der Offenbarung:
Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.
Und von Jesu Christo, welcher ist der Erstgeborene und der Fürst der Könige auf Erden. Der uns geliebet hat und gewaschen von den Sünden mit seinem Blut.
Und hat uns zu Priestern gemacht vor Gott und seinem Vater.
Demselbigen sei Ehre und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.
Musikalisch auffällig sind die Hornsignale in dieser Eröffnungsrede; textlich hält sich der Vortragende an die jüdische Tradition, Gottes Namen nicht auszusprechen, sondern ihn nur zu umschreiben. Gewichtig ist in dem Gruß auch die Erweiterung auf Christus, dem Johannes für dessen Erlösungstat dankt und ihn erhebt, dem neben dem Vater alle Ehre und Gewalt zukommt.
Nach dieser festlichen Einleitung wechselt die Musik in eine mystische Stimmung und rahmt mit Choralklängen und Wagner-Allusionen die Bass-Stimme des Herrn ein, der sich Erster und Letzter, A[lpha] und O[mega], Anfang und Ende, nennt. Er erhebt Johannes zu sich in den Himmel und sagt:
Ich will dir zeigen, was nachher geschehen muss.
In der ersten seiner Visionen sieht Johannes eine sich öffnende Tür, dahinter einen von einem Regenbogen umflossenen Thron, auf dem der Eine sitzt, umgeben von vierundzwanzig Ältesten in weißen Kleidern und goldenen Kronen auf den Häuptern. Dieser visionäre Blick wird von funkelnden Streicherfiguren umrahmt, die sich orchestral mit aufwändigen Farben weiten, wenn der Seher Blitze vom Thron in alle Richtungen zucken sieht, Donner und undefinierbare Stimmen vernimmt.
Johannes fallen auch sieben brennende Fackeln um den Thron, die Gottes sieben Geister versinnbildlichen sollen. Vor dem Thron breitet sich ein gläsernes Meer, kristallgleich, aus und der Evangelist sieht erstaunt
um den Thron vier Wesen; das erste war gleich einem Löwen,
das zweite gleich einem Kalbe, das dritte hatte ein Antlitz wie ein Mensch,
und das vierte Wesen war gleich einem fliegenden Adler.
Und die Wesen gaben Preis und Ehre und Dank dem, der da auf dem Throne saß.
Der Lobgesang der Fabelwesen, die das Heilig ist Gott der Allmächtige anstimmen, wird durch die Solisten gesungen, die Antwort der um den Thron versammelten Ältesten, Herr, du bist würdig, zu nehmen allein Preis, Ehre und Macht, ist dem Männerchor anvertraut, der sich, bis auf wenige instrumentale Stützakkorde, a capella äußert.
Danach vereinigen sich das Solistenquartett und der Chor zum Lobgesang
Heilig ist der Herr, Gott der Allmächtige, der da war, der da ist und der da kommt.
ehe Johannes seinen Bericht weiter führen kann: Der auf dem Thron sitzt hat in der rechten Hand ein Buch, das sowohl inwendig als auch auswendig beschrieben und mit sieben Siegeln versehen ist. Eine tenorale Engelstimme stellt die Frage, wer würdig sei, die Siegel zu brechen? Diese Frage beschäftigt auch noch weitere Engel, da sie die Frage wiederholen. Es überrascht Johannes, dass es offensichtlich weder im Himmel noch auf der Erde jemanden gibt, der sie brechen und in das Buch schauen kann.
In diesem Augenblick sieht der Evangelist ein Lamm zum Thron des Höchsten gehen; es vom Chor enthusiastisch begrüßt:
O sehet! Dort mitten vor dem Throne (…) ein Lamm!
Dieses Lamm nimmt aus der Hand des Einen das Buch entgegen und sofort fallen die vier Wesen und Ältesten vor ihm auf die Knie, spielen ihre Harfen und lassen aus goldenen Schalen Räucherwerk aufsteigen. Die Stimmen der Heiligen und Engel loben das Lamm und halten es nicht nur für würdig, das Buch zu nehmen, es hat, so äußern sie sich, auch die Macht, die Siegel des Buches zu brechen. Mit dem Chor stimmt das Solistenquartett einen Lobgesang an:
Dir, o Herr, und dem Lamm sei Gewalt, Macht, Ehre und Lobpreis in Ewigkeit! Amen!
Der gesamte Abschnitt ist mit kontrapunktischen Finessen vertont, die jedoch mit einer spätromantischen Emphase einhergehen. Der den ersten Teil beschließende Satz wartet zunächst mit pastoraler Milde auf, ehe die Solisten und der Chor ihn mit einem gewaltigen Amen beenden.
Ein Orgelsolo, das am Beginn eine Variation des „Buch“-Themas zu Gehör bringt, ehe die Stimmung durch düstere Klänge die Oberhand gewinnt, leitet zum ersten Teil des Werkes über, das dem Öffnen der Buch-Siegel durch das Lamm gewidmet ist.
Erster Teil: Die Öffnung der ersten sechs Siegel durch das Lamm.
Nach dem Aufbrechen des ersten Siegels ertönt eine Donnerstimme, die ein dreifaches Komm ruft. Und Johannes gewahrt ein weißes Pferd, das von einem Mann mit Krone und einem Bogen geritten wird. Der Chor verkündet in strahlendem C-Dur, dass der Name dieses Reiters Das Wort Gottes lautet oder auch Treu und Wahrhaftig. Er wird für die Gerechtigkeit kämpfen, er wird siegen und anschließend Gericht halten.
Dann bricht das Lamm das zweite Siegel auf: Ein feuerrotes Ross kommt heran, dessen Reiter nur ein Ziel hat, nämlich den Menschen Krieg, Not und Leid zu bringen. Vor allen Dingen die den Reiter begleitenden Krieger stiften die Menschheit zu Mord und Totschlag an:
Tötet, erwürget, erschlaget den Feind! (...) Schonet niemand, zerstöret, verwüstet. Verschonet nichts, was euer Arm erreicht! Schlagt um euch! Mordet! Zündet an! Plündert! Schonet das Kind nicht im Mutterleib! Seid stark!
Chor-Sopran und -Alt als Mütter dieser Welt bitten in Verzweiflung und mit großer Angst um Milde und Erbarmen für sich und ihre Kinder. Doch der Reiter kennt die Worte Milde und Erbarmen nicht:
Heulende Weiber! Ihr seid des Todes! Keine Gnade für Euch und Eure Brut.
schleudert er den Winselnden entgegen. Mit Sorglosigkeit, Glück und Heiterkeit ist es vorbei; Gevatter Tod, der ja auch als Schnitter bezeichnet wird, wird in nicht allzu langer Zukunft grausame Ernte halten.
Im Gegensatz zu der dem weißen Reiter beigegebenen Musik ist dem Reiter des feuerroten Rosses und seinen Kriegern ein aggressives und ostinates Trommelfeuer mitgegeben, das vom Orchester colla parte mit fugatoartigen Klängen unterstützt wird. Darunter mischen sich die klagenden Frauenstimmen mit polyphonem Stimmengewirr.
Nach dem Öffnen dritten Siegels erscheint ein schwarzer Reiter mit einer Waage in der Hand; er bietet für alle nur eine Maß Weizen und nur drei Maß Gerste. Wer soll davon satt werden? Ein Kind klagt seiner Mutter fürchterlichen Hunger, doch die fragt, woher das Brot kommen soll, wenn die Felder wüst liegen und die Männer tot sind. Warum, so klagt die Mutter nun selber, schickt Gott diese schreckliche Not? Die Antwort bekommt sie umgehend: Die Menschheit ist sündig, ungläubig bis in den Tod; sie tragen das Siegel der Unbekehrten auf der Stirne und deshalb trifft sie der Zorn des Höchsten.
Das Duett zwischen der verhärmten Mutter und ihrem weinenden, hungernden Kind erinnert mit dem meisterlich-kontrapunktischen Spiel zwischen Englischhorn und Fagott an Johann Sebastian Bach - natürlich im spätromantischen Gewand.
Nachdem das Lamm das vierte Siegel des Buches geknackt hat, bemerkt Johannes ein fahles, hinkendes Ross: Auf der Mähre sitzt der Tod und in seinem Gefolge befindet sich das Totenreich. Zwei Solisten (Tenor und Bariton), die sich als Überlebende bezeichnen, äußern sich befremdet:
Was ist es, das sich da regt? Ein Mensch, wie du, wenn du ein Mensch bist. Ein Bruder? Im Tode sind wir alle Brüder. Ja, noch leben wir; doch nichts mehr lebet außer uns.
Das Ross trabt mit seinem Reiter weiter über große Leichenfelder, und den Brüdern des Todes, der Reiter auf dem feuerroten Ross und der auf dem schwarzen Ross wird
die Macht gegeben, zu morden die Menschen durch das Schwert, durch Hunger,
durch die Pest und die wilden Tiere der Erde.
Doch verhieß uns der Herr: Wer aber ausharrt bis ans Ende, der wird gerettet werden.
Gedämpfte Posaunen und Xylophonklänge bestimmen den Ausdruck dieses Duetts, das in seinem musikalischen Gestus die zweite Wiener Schule zum Vorbild hat.
Beim Öffnen des fünften Siegels erkennt Johannes unter dem Altar die Seelen der um ihres Glaubens willen verfolgten und ermordeten Menschen. Diese Märtyrer erwarten das Strafgericht für ihre Peiniger im Leben und sie fragen, wann ihnen endliche Genugtuung für ihre Leiden werde. Ihr Gesang ist eine von drei großen Chorfugen des Oratoriums:
Herr, du heiliger und wahrhaftiger, bis wann denn richtest du und rächest unser Blut
an denen, die auf der Erde wohnen? Herr, bis wann richtest du?
Doch dieser Tag ist noch nicht gekommen, lediglich weiße Kleider erhalten sie als Trost, und der Herr spricht, von choralhaftem Bläserklang unterstützt:
Ruhet noch und wartet eine kleine Weile, bis dass eure Zahl voll ist und
eure Mitknechte und Brüder zu euch kommen, die auch getötet werden, gleich wie ihr.
Dann will ich richten und rächen euer Blut an denen,
die auf der Erde wohnen und die gesündigt haben an euch!
Das sechste Siegel kündet von Naturkatastrophen, die der Komponist vom Orchester und Chor mit hochexpressiver Ausdruckskraft darstellen lässt: Zunächst erschüttert ein gewaltiges Beben die Erde, zusätzlich erscheint der Mond rot wie Blut und ein gewaltiger Sturm mit schrecklichem Brausen fällt die stärksten Bäume. Ein Hagelsturm zerstört alles, was noch blüht, und das Meer steigt und steigt, lässt die Menschheit in höhere Regionen flüchten. Dann lässt ein Feuer ungeheuren Ausmaßes die Wälder und die Luft erglühen; die Sterne fallen auf die Erde herab wie die Früchte des Feigenbaumes, und selbst die Sonne bringt keine Helligkeit, denn das große Gestirn ist
schwarz wie ein härener Sack, wie ein Bußkleid. Und der Himmel schwindet,
er schwindet dahin. Rennet und fliehet! O Schrecken! Grauen!
Der Tag der Vergeltung ist gekommen. Die Menschen rufen angsterfüllt, dass die Berge über sie fallen sollen, damit sie vor dem gerechten Zorn Gottes verborgen sind, denn wer kann vor seinem Angesicht bestehen?
Die äußerst komplizierte (in erweiterter Tonalität geschriebene) Fuge bei der Darstellung des steigenden Meeresspiegels ist für jeden Chor eine Herausforderung, die der Komponist durch das colla parte begleitende Orchester etwas abzumildern versucht. Der musikalisch überaus beeindruckende Abschnitt beendet diesen Teil des Oratoriums. Abermals dient ein Orgel-Solo als Überleitung zum nächsten Teil; die Musik greift zurück auf Motive, die der Schilderung der die Erde überflutenden Wassermassen dienten.
Zweiter Teil: Die Öffnung des siebenten Siegels, die sieben Posaunen, der Triumph Gottes.
Der Evangelist Johannes erzählt seine Visionen weiter: Er sieht eine schöne Frau, von der Sonne umkleidet, unter ihren Füßen die Sichel des Mondes und auf dem Haupt eine Krone aus zwölf Sternen. Außerdem ist sie eines gesegneten Leibes, vulgo schwanger, und vor ihr steht ein feuerroter Drache mit sieben Köpfen, auf jedem ein Diadem tragend, der auf die Geburt des Kindes wartet, um es umgehend zu verschlingen. Doch dazu kommt es nicht, denn nach der Geburt eines Knaben wird das Kind zum Thron Gottes erhoben, während die Mutter in die Wüste flieht, wo sie durch des Herrn Gebot eine Stätte vorfindet, die sie ernähren wird.
Der neugeborene Knabe soll dereinst alle Völker weiden und sie mit eisernem Stabe vor dem Bösen beschützen, aber auch kämpfen und siegen für Gerechtigkeit und Wahrheit. Doch es gibt Streit im Himmel, großen Streit sogar, zwischen dem Erzengel Michael und seinen Engeln auf der einen, und dem Drachen und seinen Engeln auf der anderen Seite. Dieser Streit geht zu Gunsten Michaels und seinem Anhang aus; der Drache aber, den man Teufel und Satan nennt, wird mit seinem Anhang aus dem Himmel verbannt und auf die Erde geworfen, wo er das niedergekommene Weib und deren ganze Nachkommenschaft verfolgen darf.
Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, dass der Komponist die Schilderung des Kampfes zwischen Michael und dem Drachen und ihrem jeweiligen Anhang dem Orchester zuweist, und dabei seine große, auf bunt-effektvolle Instrumentierungskunst abzielende Wirkung unter Beweis stellt. Kein Hörer wird sich dem martialischen Klang dieser Darstellung entziehen können.
Dann sieht Johannes den Himmel sich öffnen und den Reiter auf dem weißen Ross, den er König der Könige, Herr der Herren und das Wort Gottes nennt, gefolgt von himmlischen Heerscharen aufziehen: Und der Reiter tötet alle, die dem Drachen gefolgt waren. Plötzlich erscheint ein weiterer Engel mit dem Schlüssel des Abgrunds und einer großen Kette. Der Engel hat die Macht, den Drachen anzuketten und ihn für tausend Jahre in einer tiefen Kluft zu verschließen. Damit ist Satan erst einmal außer Gefecht gesetzt.
Nun wird es still, merkwürdig still im Himmel: Johannes bemerkt in seiner neuen Vision sieben Engel vor dem Thron des Höchsten; jeder von ihnen erhält eine Posaune, die sie, so drückt es der Seher aus, nacheinander blasen. Allerdings erklingt keine fröhliche Musik, denn sie kündigen wieder Katastrophen an:
eine jegliche der Posaunen verkündete viel Wehe über die Welt und über die Menschen.
Eine Aussage, die der Solo-Alt nicht einfach nur kommentiert, sondern bestätigt. Der Chor äußert sein Wissen noch viel deutlicher:
So bestraft Gott der Herr die sündige Menschheit.
Zwei Solisten, Alt und Tenor bestätigen diese neuen und ungeheuren Katastrophen: Ein glühender Berg stürzt ins Meer, wodurch alles Leben erlischt. Der Chor kommentiert
Großer Gott, gerecht sind deine Gerichte!
Danach stürzt ein brennender Stern, mit dem Namen Wermut, auf die Erde. Alles Wasser wird zu Wermut und wer davon trinkt, muss sterben.
Ein Vokalquartett bringt ein viertes Weh zu Gehör: Sonne, Mond und Sterne erlöschen, denn der alles Beherrschende will die Menschheit das Fürchten lehren. Ein großer Chorsatz berichtet vom Einsatz der fünften Posaune, die das Gericht Gottes ankündigt. Aus einem Abgrund steigt nicht nur schwarzer Rauch empor, sondern Heuschrecken ohne Zahl ziehen über die Erde und peinigen die Menschen wie Skorpione. All der Leiden müde, wollen die Menschen nur noch sterben, doch der Herr sucht sie weiter heim, entlässt sie nicht aus ihren Qualen.
Diesen Chorsatz hat der Komponist bei den Worten Die Posaunen verkünden Gottes Strafe für die Sünden dieser Welt für eine umfangreiche Chorfuge genutzt, deren enormer Schwierigkeitsgrad eine gewaltige Aufgabe für die Chorsänger darstellt. Wie überhaupt die Darbietung der von den Posaunen hervorgerufenen Endzeitvisionen faszinierende Wirkungen auslösen, weil Schmidt sie mit einem großen musikalischen Bogen versieht, in dem einfache choralhafte Abschnitte zu der erwähnten Chorfuge führen, deren kontrapunktische Finessen immer wieder in Erstaunen versetzt.
Die sechste Posaune bringt erstaunlicherweise keine neuen Schrecken, sondern wiederholt die bekannte Nachricht, dass ein großes Gericht bevorsteht. Gottes Zorn wird die Menschen, die nur Böses im Sinn führen, vernichten. Die am Euphrat wachenden Engel führen ein Millionenheer Reiter an, die zum Kampf gegen das Böse antreten. Sie stürmen dahin, alles zu vernichten, es gibt kein Entrinnen mehr.
Sobald der siebente Engel die Posaune an die Lippen setzt, wird das letzte Geheimnis der Gottheit aufgedeckt. Und darin wird eine frohe Botschaft enthalten sein, wie es vor langer Zeit durch des Höchsten Propheten angekündigt wurde: Aus den Schilderungen der schlimmsten Schrecken wird nun eine frohe Siegesbotschaft, denn
Nun sind die Reiche dieser Welt unseres Herrn geworden! Er wird herrschen von Ewigkeit zu Ewigkeit! Gott der Herr regiert die Welt! Ewig ist seine Gewalt über alles.
Die letzten beiden Verse vertonte Schmidt als Quadrupelfuge, die Albert Arbeiter (in seiner Einführung in „Das Buch mit sieben Siegeln“) als Gipfelpunkt spätromantischer Polyphonie bezeichnete. Ewig ist die Gewalt des Herrn über Alle und Alles, er herrscht über alle Reiche dieser Welt.
Johannes berichtet mit eindringlichen Worten, das Erde und Himmel vor dem Angesicht dessen, der auf dem Thron sitzt, fliehen, das die Meere und der Hades alle Toten freigeben, die sich vor dem Thron versammeln. Dann werden große Bücher aufgetan, in denen die Taten der Menschen verzeichnet sind, über die nun gerichtet wird. Aber: ein anderes Buch ward aufgetan, das ist das Buch des Lebens. Wer aber nicht gefunden wurde aufgeschrieben im Buch des Lebens, ward in den Feuersee geworfen. Das aber ist der zweite Tod, der Feuersee. Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde und alle, die im Buche des Lebens aufgeschrieben waren und die nun das ewige Leben haben.
Und Johannes hört die Stimme Gottes vom Throne her sprechen:
Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende, der Erste und der Letzte. (…) Sehet
das Zelt Gottes mitten unter den Menschen! Er wird bei ihnen wohnen und sie werden sein Volk sein. Er wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und das Leid und der Tod wird nicht mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Seht, ich mache alles neu! (...)
Mit dem Halleluja beginnt nun der letzte Abschnitt des Oratoriums. Trotz der vielen exponierten Chorfugen in diesem Werk (die aber nie Überladenheit empfinden lassen) wirkt gerade dieses Halleluja wie der wahre Höhepunkt des Werkes, den vielen vertonten Lobeshymnen wirklich in nichts nachstehend. Der Hörer kann sich kaum dem Gedanken an einen Vergleich mit Händels „Halleluja“ aus dem „Messias“ entziehen; und er wird konstatieren müssen, dass hier wie dort und trotz aller Unterschiede durch veränderte Kompositionstechniken ein Meisterwerk der Musikliteratur vorliegt. Dabei geht der Satz in seiner Intensität bis zum Äußersten, was Tonhöhe und Leidenschaftlichkeit des Empfindens anbelangt.
In einem Dankgebet des Männerchores, das einstimmig psalmodierend vertont ist und dadurch einen archaisierenden Eindruck hinterlässt, wird ebenso die Allmacht Gottes wie seine Weisheit gepriesen. Dann ergreift Johannes noch einmal das Wort und beschwört, dass seine Worte der Wahrheit entsprachen:
Ich bin es, Johannes, der all dies hörte und sah und der es euch nun offenbart.
Hört auf meine Worte! Sie sind wahr und zuverlässig, denn Gott, der Herr der Geister, zeigte seinem Knecht, zeigte dem Propheten alles, was in Bälde muss geschehen.
Und wahrlich selig, wer die Worte versteht des Propheten! Bewahret die Weissagung!
Zum Schluss wünscht er allen Zuhörern
(…) die Gnade Gottes, des Herrn, sei mit euch allen! Amen!
wobei der Chor in das Amen jubelnd einstimmt.
INFORMATIONEN ZUM WERK
Franz Schmidt hat sich lange, wie aus Berichten seiner Umgebung bekannt ist, mit einem Oratorium nach Bibeltexten beschäftigt. So soll er einerseits an die Vertonung von Paulus-Briefen, andererseits auch an das Hohelied des Salomo gedacht haben. Wer ihn letztlich auf die Offenbarung hingewiesen hat, wird sich nicht mehr klären lassen, weil sich Schmidt dazu weder geäußert, noch schriftliche Zeugnisse hinterlassen hat. Dass er für sein Libretto außer der Luther-Bibel auch noch andere Übersetzungen hinzugezogen hat, ist bekannt.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Franz Schmidt für das Programmheft der Uraufführung eine Abhandlung verfasst hat, die sich mit den inhaltlichen, nicht jedoch mit den künstlerischen Fragen auseinandersetzte, und die hier in Auszügen wiedergegeben wird:
Als ich an die Riesenaufgabe herantrat, war mir klar, dass sie Voraussetzung dazu darin lag, den Text auf eine Form zu bringen, die alles Wesentliche womöglich dem Wortlaute nach beibehielt und dabei die geradezu unübersehbaren Dimensionen des Werkes auf durchschnittlichen Menschenhirnen faßbare Maße brachte. Dabei sollte der Bau in seinen äußeren Umrissen und inneren Zusammenhängen intakt bleiben. Mit Ausnahme des Umstandes, daß ich die Briefe des Johannes an die sieben Gemeinden zu einer Begrüßungsansprache vereinigte, hielt ich mich zunächst ganz an das Original; die Berufung des Johannes durch den Herrn, sein Erscheinen vor dem Thorn, die Huldigungszeremonie, das Buch in der Hand des Herrn, das Entgegennehmen des Buches durch das Lamm, all dieses ist beinahe im Wortlaut dem Original nachgebildet. Der anschließend kurze Dankgottesdienst rundet den Akt zu einem „Prolog im Himmel“ ab.
Der nun folgende Teil des Werkes bringt die Lösung der ersten sechs Siegel durch das Lamm: die Geschichte der Menschheit wird vorauserzählt. Nach segens- und hoffnungsreicher Ausbreitung der christlichen Heilslehre durch den weißen Reiter (Jesus Christus) und seine himmlischen Heerscharen verfällt die Menschheit in Nacht und Wirrsal; der blutrote Reiter überzieht die Welt mit seinen höllischen Heerscharen und stürzt die Menschheit in den Krieg aller gegen alle. Der dritte (schwarze) und der vierte (fahle) apokalyptische Reiter führen weiterhin die Folgen des Weltkriegs vor: Hungersnot und Pest. Die Menschheit ist zum größten Teil zugrunde gegangen und in Verzweiflung versunken; nur ein kleiner Rest hält noch am Glauben fest. Beim Aufbrechen des fünften Siegels treten die Seelen der Glaubensmärtyrer und andere Opfer menschlicher Verbrechen in Erscheinung. Sie rufen nach Gerechtigkeit und Vergeltung. Der Herr heißt sie jedoch noch ausharren und verspricht ihnen Gerechtigkeit am Tage des großen Gerichts. Da der größte Teil der noch übrigen Menschheit in Sünde und Verstocktheit verharrt, vertilgt sie der Herr durch Erdbeben, Sintflut und Weltbrand, was durch das Aufbrechen des sechsten Siegels offenbar wird.
Damit schließt der erste Teil. Die sich hier ergebende Zäsur bot die einzige Gelegenheit, das im Original nunmehr wie ein Ozean alles überflutende Material in eine vertonbare Form zu bringen. Johannes führt nämlich von hier aus in zahllosen Varianten von Gleichnissen und Bildern in ungeheurer Steigerung seinen Kampf gegen den Sündenpfuhl Babylon (gemeint ist das damalige kaiserliche Rom) bis zu dessen völliger Vernichtung, um den endgültigen Sieg des Christentums in der Vision von dem neuen Jerusalem aufzuzeigen und zu verherrlichen.
Ich habe es nun gewagt, die beiden ersten Faktoren der Antithese Babylon - Jerusalem, Heidentum - Christentum, Verworfenheit - Tugendhaftigkeit usw. samt allem darauf bezüglichen Material auszuscheiden. Die fundamentale Antithese hat dadurch meinem Empfinden nach an Kraft und Bedeutung nichts eingebüßt, dafür aber wurde durch die enorme Abbürdung von Material der Bau eines proportionierten zweiten Teils, und zwar ganz im Sinne des Originals, möglich.
Der zweite Teil beginnt mit der großen Stille im Himmel, die beim Öffnen des siebten Siegels eingetreten ist. Während dieser Stille erzählt uns Johannes gleichsam in Paranthese die Geschichte des wahren Glaubens und seiner Kirche von der Geburt des Heilands angefangen, von ihren Kämpfen gegen die Anhänger des Teufels und deren falsche Lehren und von ihrem endgültigen Sieg.
Nach dem großen Schweigen im Himmel, das bis ans Ende aller irdischen Zeit während anzunehmen ist, rüsten die sieben Posaunenengel zum Blasen des schauerlichen Appels für das Jüngste Gericht. Über dieses berichtet Johannes wie im Original nur ganz kurz, um aber um so dringlicher darzulegen, daß die Weltenwende angebrochen sei, daß nunmehr eine neue Erde jene trage, die das ewige Leben haben, und daß ein neuer Himmel über ihnen blaue. Und der Herr spricht zu den Geläuterten, daß er mit ihnen wohnen wird und sie seine Kinder sein werden und er ihr Vater. Nachdem die Geläuterten dem Herrn mit Halleluja gedankt und gehuldigt haben, schließt Johannes seine Offenbarung mit einer kurzen, erläuternden Abschiedsansprache ab. (...)
Franz Schmidt beendete den Prolog am 15. Oktober 1935, begann zwar sofort den ersten Teil, musste aber aus gesundheitlichen Gründen die Arbeit am 1. Januar 1936 für ein halbes Jahr unterbrechen. Nach der Fertigstellung am 23. Februar 1937 dauerte es nur etwas mehr als ein Jahr bis zur Uraufführung am 15. Juni 1938 im Gebäude des Wiener Musikvereins unter der Leitung von Oswald Kabasta und mit den Solisten Erika Rokyta, Enid Suantho, Anton Dermota und Joseph von Manowarda; für die äußerst anspruchsvolle Partie des Johannes konnte Rudolf Gerlach gewonnen werden. Es sang der Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, es spielten die Wiener Symphoniker.
Interessierte Musikfreunde seien an dieser Stelle auf den sich mit diesem Thema beschäftigenden Thread
Franz Schmidt: Das Buch mit 7 Siegeln
hingewiesen.
© Manfred Rückert für den Tamino-Oratorienführer 2014
unter Hinzuziehung folgender Quellen:
Libretto
Albert Arbeiter: Einführung in das Buch mit sieben Siegeln (Selbstverlag, 2.Auflage)