Neulich in der Zeitung - Das große Stühlerücken

  • Hallo Taminos,


    neulich in einer deutschen Zeitung (Welt, 21.4.2004): Wer schon immer wissen wollte, welcher Dirigent wann wo sein Brot verdienen wird...



    Champions League der Dirigenten
    Abbado geht, Rattle kommt: Dirigentenwechsel nicht nur in Berlin. Wer wird was beim internationalen Postenpoker?
    Von Axel Brüggemann
    Die prominenteste Rochade feiert Berlin: Claudio Abbado übergibt die Philharmoniker an Simon Rattle. Und der macht schon mal klar, dass Beethoven von jetzt an etwas weniger nach Beethoven klingen wird. Schon gar nicht nach Karajan. Er klingt nach Rattle: unverschämt klug gegen den Strich gebürstet. Der Engländer zerfetzt die Architektur der 9. Symphonie zwischen Vollgas und Vollbremse, bricht die Opulenz mit ironischem Blaskapellen-Klang und verwandelt den Freudenjubel in ein zügelloses Rock-Konzert. Eigentlich will Rattle dem "bunten Orchestervogel nur Farben hinzufügen". Letztlich wird er Karajans Adler als Edel-Papagei flattern lassen.


    Das ist nicht alles. Auch Boston, Wien und Leipzig bekommen neue Chefs. Dass Christian Thielemann die Münchener Philharmoniker übernimmt, scheint sicher. Spannung beim Amsterdamer Concertgebouw Orchestra; Riccardo Chailly wird zum Leipziger Gewandhausorchester gehen und eine mögliche Lücke für den Nachwuchs schaffen. Gemunkel auch an der Pariser Oper: Wird der neue Intendant Gérard Mortier James Conlon entlassen und seinen Intimus Cambreling holen? Das Stühlerücken hat gerade erst begonnen.


    Sylvain Cambreling, 53
    Charakter: Grandseigneur mit Melange aus französischem Pathos und Intellekt. Experimentierer: Hat Mozart-Rezitative auf Bierflaschen begleitet und sorgt beim SWR-Orchester für das neue und französische Repertoire.


    CD-Tipp: Berlioz: "La Damnation de Faust" (RCA)


    Perspektive: Wird Gérard Mortier ihn 2004 nach Paris holen?


    Claudio Abbado, 68
    Charakter: Beharrlicher Erneuerer. Hat die Berliner Philharmoniker vom Karajan-Kanon befreit und behutsam zur Neuen Musik geführt - nun macht er Platz für Simon Rattle. Experte mit großer Bandbreite, zuweilen ohne Biss. Ist bescheiden: Etwa 400.000 Euro pro Jahr.


    CD-Tipp: Berlin-Album (DG)


    Perspektive: Luzern Festival Orchestra.


    Seiji Ozawa, 65
    Charakter: Japans größter Export seit es den Walkman gibt. Manischer Opernliebhaber und Karajan-Ziehsohn, der das Boston Symphony Orchestra auf Weltniveau gehalten hat. Unvergessen der Kommentar von Star-Sopran Martha Mödel: "Dieser Japaner, der hat Feuer!"


    CD-Tipp: Neujahreskonzert 2002 und Mahlers 2. (Sony)


    Perspektive: Wird an der Wiener Staatsoper endlich seine Opernsehnsucht austoben.


    James Conlon, 52
    Charakter: Wartet seit Jahren auf den Durchbruch. Hat lange die Kölner Oper geleitet, bis er nach Paris gerufen wurde. Stimmenfreundlich. Schlägt sich im Platten-Kampf eher mit Cross-over durch als mit ernsthaften Projekten.


    CD-Tipp: Puccini: "Madame Butterfly" (Sony)


    Perspektive: Einbruch statt Durchbruch? 2004 wird Gérard Mortier in Paris herrschen - wohl ohne Conlon.


    Lorin Maazel, 72
    Charakter: Wundergeiger mit Taktstock-Passion und Bauernhof. CD-Profi mit über 300 Einspielungen. Historisches Gespür: Spielte 1990 Mahlers2. auf dem Todesstreifen. Großverdiener: 2,5 Mio. Euro Jahresverdienst. Vertragsende beim Bayerischen Rundfunk.


    CD-Tipp: Mahlers 2. (Sony)


    Perspektive: Ab 2002 bei den New York Philharmonics.


    James Levine, 58
    Charakter: Big-Mac der Dirigenten. Lässiger Stil: Turnschuhe, Frotteetuch. (Fahr)lässige Interpretation. Weich gespülte Wohlfühl-Klassik. Chef der New Yorker MET und bis 2004 der Münchener Philharmoniker (Gage:1 Mio. Euro).


    CD-Tipp: Mascagni: "Cavalleria Rusticana" (RCA)


    Perspektive: 2004 Chef des Boston Symphony Orchestras.


    Riccardo Muti, 60
    Charakter: Hohepriester des Operntempels Mailänder Scala. Kein Fetischist des hohen Cs sondern der authentischen Verdi-Tradition. Opernfachmann mit Tick für Impressionisten wie Debussy ("Un Barque sur l'ocean").


    CD-Tipp: Verdi: "Trovatore"(Sony)


    Perspektive: Per sempre Milano.


    Pierre Boulez, 76
    Charakter: Opern-Revoluzzer, Neutöner und charmanter Egozentriker. Wollte früher alle Opernhäuser in die Luft jagen und glaubte nur an die Gegenwartsmusik. Hat Wagner wie keiner vom Pathos befreit.


    CD-Tipp: Boulez dirigiert Boulez (DG), Wagner: "Ring" (Phillips)


    Perspektive: Komponiert eine Oper.


    Daniel Barenboim, 59
    Charakter: Emotionaler Wagnerbotschafter mit Technik-Schwächen. Chef von Staatskapelle Berlin und Chicago Symphony Orchestra. Niederlagen: Aus Bayreuth vertrieben, als Kanditat der Berliner Philharmoniker gescheitert. Jahresverdienst über 1 Mio. Euro.


    CD-Tipp: Berg: "Wozzeck", Albanez-Album (Teldec)


    Perspektive: Wird weiter um Wagner-Hoheit kämpfen.


    Kurt Masur, 74
    Charakter: Der gute Proto-Deutsche in New York: fleißig, pedantisch und romantisch. Hat das Gewandhaus und London Philharmonics geprägt. Verlässt die USA für Frankreich.


    CD-Tipp: Franck: D-Moll Symphonie (Teldec)


    Perspektive: Orchestre National de France (2002).


    Simon Rattle, 47
    Charakter: Hoffnungsträger für Berlin. Will Abbados Erneuerung der Philharmoniker vorantreiben. PR-Monster mit Intellektuellen-Image. Klassik trifft Rock (Scorpions). Galt in Birmingham als enthusiastischer und praktischer Charismatiker.


    CD-Tipp: Ellington-Album, Mahlers 10. (EMI)


    Perspektive: Wird Berlin begeistern.


    Zubin Mehta, 65
    Charakter: Skrupelloser Musikverkäufer: Hat "Drei Tenöre" und Bocelli dirigiert. Spielt an der Bayerischen Staatsoper eher plüschig verkitscht und oft verwaschen. Dabei durchaus Stärken wie Strawinsky und Brahms.


    CD-Tipp: Verdi: "La Traviata" (Teldec)


    Perspektive: Wartet in München auf das nächste Cross-over-Event.


    Nikolaus Harnoncourt, 72
    Charakter: Archäologe mit Taktstock. Hat mit dem Barock begonnen und sich bis Verdi vordirigiert. Die Karriere als Kunst-Credo: Will Musik aus ihrer Geschichte verstehen, Beethoven als Sohn Mozarts und Vater Wagners.


    CD-Tipp: Mozart: "Figaro" (Teldec)


    Perspektive: Tourender Übervater mit Genie-Status.


    Kent Nagano, 51
    Charakter: Westküsten-Surfer und Sunnyboy mit Fable für US-Minimal-Musik (Addams). Dirigierte das Deutsche Symphonie Orchester (Berlin) an die Weltspitze. Schwimmt als Berufsjugendlicher auf der Erfolgswelle. Lässt zuweilen seriöse Erdung vermissen.


    CD-Tipp: Ravel: "Le tombeau de Couperin" (Erato)


    Perspektive: Hat DSO-Vertrag bis 2008 verlängert.


    Michael Gielen, 75
    Charakter: Der Adorno unter den Dirigenten. Erst kommt der Kopf, dann die Akuratesse und dann das Herz. Komplizierter Kauz. Hat Schönberg und die 2. Wiener Schule für uns entdeckt und das SWR-Orchester in die Gegenwart geführt.


    CD-Tipp: Beethovens 3. (EMI)


    Perspektive: Weltbummelnder Kämpfer gegen den Klassik-Kommerz.


    Christian Thielmann, 43
    Charakter: Pedantischer Pöbel-Bubi mit Romantiker-Herz. Keiner dirigiert Wagner so volltönend wie der neue Bayreuth-Star von der Deutschen Oper Berlin. Mutig: Dirigiert weit voraus, vertraut dem Orchester und sich selbst.


    CD-Tipp: Schumanns 2., Orff:"Carmina Burana"(DG)


    Perspektive: Berlin und (ab 2004) wohl Münchener Philharmoniker.



    Gruß
    Uwe

  • Zitat

    Original von Uwe
    der Kommentar von Star-Sopran Martha Mödel


    Hallo Uwe!


    Stand es so in der Bild, ähm, sorry, Welt-Zeitung?.. *g*


    Gruß