Am 17. Juli 1794 wurden 16 Karmeliterinnen durch die Guillotine hingerichtet. Diese Mitteilung läuft zu Beginn der Oper „Les Dialogues des Carmélites“ von Francis Poulenc am Theater Basel wie ein Filmzwischentitel über den eisernen Vorhang.
Der Orchestergraben ist komplett geschlossen. Auf ihm steht, weit nach vorne gezogen, in etwa 2 Meter Höhe ein Spielpodest auf einem Stahlgestänge, auf diesem Podest erkennt man einen Fotokopierer und auf einer Leine hängen Wäscheklammern.
Der eiserne Vorhang fährt auseinander, er ist in Basel in der Hälfte geteilt, ein Teil verschwindet im Schnürboden, der andere senkt sich nach unten hinab. Auf der Bühne stehen im Vordergrund der Chor, in der Mitte, hinter dem beschriebenen Spielpodest, ist der Dirigent der Aufführung, Cornelius Meister, positioniert worden und das Orchester sitzt auf hochgefahrenen Podien übereinander, in der Mitte durch eine grosse Leinwand und ganz oben durch eine Spielfläche für die Sängerinnen und Sänger getrennt. Links oben die Holzbläser, darunter die hohen Streicher, rechts oben das Blech und unter diesen die tiefen Streicher. Auf ebener Erde wurde das Schlagwerk, die Harfen und das Klavier untergebracht.
Das Orchester ist somit ganz stark mit in diese Inszenierung des jungen Regisseurs Benedikt von Peter einbezogen worden, der Klang ist sehr präsent, die Instrumentengruppen sind klar unterscheidbar in ihrer geradezu stereophonen Raumklangwirkung. Allein die Partitur von Francis Poulenc in dieser Form erleben zu können, würde einen Besuch dieser Aufführung lohnend machen.
Das Stück beginnt nicht mit dem ersten Bild der Oper, sondern mit dem Schluss – mit jener Musik, die die Exekution der Nonnen begleitet. Jede Einzelne klettert auf das Spielpodest, legt ihr Gesicht auf den Fotokopierer und hängt ein Foto von sich an die Wäscheleine, bevor die toten Frauen sich unten an der Rampe versammeln werden. Nachdem auch Blanche hingerichtet wurde, schliesst sich der eiserne Vorhang wieder und es tritt eine kleine Pause ein.
Wie im Verlauf der weiteren Aufführung immer wieder, wird mittels der Zwischentiteleinblendung erläutert, an welchem Ort, bei welcher Stücksituation wir uns gerade befinden. Mère Marie hat die Nonnen in den Märtyrertod geschickt, aber der Beichtvater des Klosters hat sie daran gehindert, mit den Schwestern aufs Schafott zu gehen. So ist sie die einzige Überlebende des Karmel-Klosters geworden und sie hat die Geschichte aufgeschrieben, aus der Getrud von Le Fort eine Novelle und George Bernanos einen Film machen wird.
Es ist die Geschichte der Mère Marie, die uns der Regisseur Benedikt von Peter hier zeigt, es ist die Frage nach ihrer Verantwortung und nach ihrer Schuld, die diesen bemerkenswerten Theaterabend bestimmen.
Zu Beginn der eigentlichen Handlung hat der Dirigent jetzt seinen Platz ganz vorne auf der Bühne eingenommen. Auf dem Spielpodest sieht man das Zimmer der ehemaligen Nonne Mère Marie, im Hintergrund, vor der Leinwand, die Potraits der hingerichteten Schwestern, rechts eine Apparatur, die das Entwickeln von Fotografien ermöglicht, davor ein Spulentonbandgerät, in der Mitte ein einfaches Bett, links ein Schreibtisch mit mehreren Video-Kameras.
An diesem Schreibtisch wird Marie an ihrer Chronik arbeiten. Es ist nicht nur ein Buch, auf dessen Einband die Worte „De la Gloire“ zu lesen sind, sie baut ganz realistisch mit Bühnenbildmodellen die Handlung nach und überträgt diese auf die Leinwand. Die Video-Bilder sind in strengem schwarzweiss gehalten. Manchmal fotografiert Marie eine Situation und entwickelt dann das geschossene Bild in ihrer Behelfsdunkelkammer.
Auf der obersten Bühnenebene sind die Sängerinnen und Sänger in schwarzer Kleidung positioniert, sie haben ihre Noten in der Hand, wie bei einer oratorischen Aufführung. Nur langsam beginnen die Sängerinnen und Sänger, auch miteinander zu agieren. Das wirkt ein wenig wie bei Synchronisationsarbeiten bei einem Film, es sind aber auch die Stimmen der Toten, die da erklingen und die nur im Gedächtnis der Marie ihren Wiederklang finden.
Immer stärker gerät Marie in die Fänge ihrer eigenen Vergangenheit, immer mehr drängt sich die Frage nach ihrer individuellen Schuld in den Vordergrund. Die Personen der Vergangenheit kommen vom oberen Podest herunter, immer näher werden sie dem Zimmer der Marie kommen, bis schliesslich die alte Priorin in diesen Raum eindringt und Marie jede Distanz zu ihrer eigenen Vergangenheit verloren hat. Im Bett der Mère Marie kämpft die alte Priorin mit dem Tod, dort äussert sie ihre gotteslästerlichen Gedanken und dort wird sie den Untergang des Klosters vorausahnen.
Während das Zimmer der Marie und deren Kleidung weiss ist, bilden die Personen der Vergangenheit in ihrer schwarzen Kleidung einen seltsamen Kontrast zu ihrer Umgebung. An mehreren Stellen des Stückes stilisiert sich Marie mit einer Holzfigur des Jesuskindes zur Gottesmutter. Diese Figur hat sie in ihrer Bettmatratze versteckt, sie hat die Figur wohl aus dem Kloster mitgenommen. Blanche wir gegen Ende des Stückes dieser Christuskindfigur den Hals umdrehen.
Zu den stärksten Eindrücken der Inszenierung gehören jene Bilder, wo Blanche in das Zimmer der Marie eindringt – und wo sich Marie wohl wünscht, dass Blanche zum Racheengel werden möge, um ihr selbst die Erlösung zu bringen. Blanche übernimmt teilweise den aktiven Part, setzt sich selbst an den Arbeitstisch der Marie und spielt, von Marie beobachtet, am Bühnenbildmodell die Handlung nach. Blanche zwingt Mère Marie die Videokamera in die Hand und riesenhaft vergrössert erscheint das angstvolle Gesicht der Marie auf der Leinwand.
Benedikt von Peter lässt am Ende seine Handlung kippen. Im Programmheft erklärt er, dass mit der Story um die Karmel-Schwestern das passiert, was mit starken Stoffen heute im allgemeinen zu geschehen pflegt – sie werden zu Filmen umgearbeitet.
Wir werden also Zeuge von Filmaufnahmen für „The real Story“-Production. Ein ganzes Filmteam betritt die Bühne und links werden die Aufnahmen gemacht, die vor allem auf eine Leinwand rechts übertragen werden. Während man also links nur ansatzweise sieht, was passiert kann man das Ergebnis rechts in schwarzweiss verfolgen – und dabei sehr schön sehen, wie verändert das Original und das Abbild wirken kann.
Es ist ein richtiger Kostümschinken in Pappkulissen, der da produziert wird, mit bunten Kostümen und Jakobinermützen. In den Filmpausen gibt’s viel Gelächter, auch mal ein Gläschen Sekt wird da geschlürft und die Stars geben den anwesenden Journalisten und Nachrichtenteams Interviews.
Im Hintergrund links, wird die Schlussszene vorbereitet, ein Holzkreuz wird aufgestellt, mit Bäumchen dahinter, und der Beichtvater übernimmt mit Lendenschurz, Dornenkrone, Seitenwunde und Sonnenbrille die Rolle des Gekreuzigten.
Mère Marie wird sich dieser Inkarnation des Märtyrertodes, das auf die Leinwand ihres Zimmers projiziert wird, entgegenstrecken, so, als wolle sie sich festklammern an einem Vorbild, dass für ihre Tat, Frauen in den Tod getrieben zu haben, kein Vorbild sein kann – der Märtyrertod der Nonnen war gänzlich sinnlos.
Als Theatereffekt läuft die Wiederholung des Schlusses ab: die Nonnen singen, bis auch die letzte exekutiert wurde, vorne, rechts neben dem Dirigenten bedient ein Schlagwerker jenes Gerät, dass das Fallbeil imitiert, für alle hör- und sichtbar.
Ein starker Abend am Theater Basel geht nach ca. 3 ½ Stunden Spieldauer zu Ende. Es ist vor allem der Abend der Mère Marie, hier verkörpert von der ununterbrochen auf der Bühne anwesenden Hanna Schwarz, die noch immer über eine beeindruckende Bühnenpräsenz verfügt. Sicher, die Stimme ist in die Jahre gekommen, aber so souverän, wie Hanna Schwarz mit diesem Verschleiss umgeht, mit einer gewissen Kurzatmigkeit und altersbedingten Problemen bei der Tongebung, so, wie sie diese Mängel als gestalterisches Element in ein packendes Rollenportrait packt, das ist sehens- und hörenswert.
Beeindruckend auch die Sopranistin Svetlana Ignatovich als Blanche mit ihrer kräftigen, warmgrundierten, durchhaltungsstarken, manchmal vielleicht etwas harten Stimme.
Madame de Croissy, die alte Priorin, wird hier von der verhältnismässig jungen Altistin Rita Ahonen verkörpert – eine ausgezeichnete, darstellerische Leistung, die auch stimmlich überzeugen konnte.
Sophie Angebault, ein unruhiger, heller, dramatischer Sopran (Madame Lidoine), Agata Wilewska, mit klarer und sicherer Stimme (Soeur Constance), sowie Rolf Romei mit seinem angenehmen, lyrischen Tenor als Chevalier sollen hier noch stellvertretend für das grosse Ensemble genannt werden.
Nicht ganz überzeugend der intonatorisch leicht scheppernde Frauenchor.
Vom Klang her umwerfend das Sinfonieorchester Basel. Die Durchformung der Partitur durch den Dirigenten Cornelius Meister gehört zu den stärksten Eindrücken, die ich in der letzten Zeit von Dirigaten gewonnnen habe. Durch die ungewöhnliche Orchesteraufstellung hört man mehr – oder anders -, als wenn die Musiker/innen im Graben sitzen. Die Musik von Poulenc, die fast filmische Qualitäten hat, die mit ihrem eigenartigen, vorwärtsschreitenden Rhythmus sowieso schon etwas ungewohnt wirkt, kommt hier zu einer Geltung, die die Musik verdient. Dass Meister sich auf dieses Experiment eingelassen hat, verdient Annerkennung und das Ergebnis überzeugt.
Grosser Beifall im Theater Basel für diese Produktion, mit der Benedikt von Peter unterstreicht, dass er zu den wichtigsten Vertretern einer jüngeren Generation von Regisseuren gehört, der Ausrutscher mit „Masnadieri“ von Verdi in Frankfurt ändert an diesem Umstand nichts.