Im Thema "Die "neuen" Pianisten und ihre Aufnahmen" fühlte ich mich mit der Vorstellung etwas unwohl, da Shimkus aktuell nur mit einer einzige Aufnahme aufwarten kann (siehe am Ende des Postings).
Einen jungen - mir bis dato gänzlich unbekannten Pianisten - der sich (und man beachte bitte die Reihenfolge der Werke!) für ein Konzert Beethoven's Hammerklaviersonate, Chopin's b-moll Sonate und die Soloversion der Rhapsodie in Blue von Gershwin aussucht, sollte man zumindest dadurch beachten, dass man sich die Konzertaufzeichnung (Barcelona, 7.7.2010) anhört und/oder aufnimmt.
Im Beethoven für mich im ersten und zweiten Satz eher ungewöhnlich straffe Tempi aber ohne überhetzt zu wirken, stupende Technik, klares Klangbild, das Adagio hätte etwas mehr "ausgekostet" werden können, auch wenn dies den Gesamteindruck nicht geschmählert hat, er brauchte ca. 40:30 für die Sonate. Zum Chopin unten stehend mehr. Mit dem Gershwin zeigte er deutlich den Jazz-Einfluss (auch von ihm selbst, ohne dass dies negativ auffiel). Er konnte wohl den Beginn der Rhapsodie nicht erwarten und spielte bereits im Begrüßungsapplaus die ersten Takte, alles recht entfesselt und sehr orchestral dargestellt. Alles in Allem zwar recht virtuos aber ohne die Virtuosität als reine Selbstdarstellung zu verwenden, und ohne durch Eingriffe in Notentexte vom Komponisten auf sich selbst "umzulenken".
Verabschiedet hat er sich mit einer Soler-Sonate (Nr. 84; Werke des Komponisten hat er für Naxos eingespielt, aktuell vorerst nur über Download erhältlich) und einer eigenen Bearbeitung des berühmten Wiegenliedes (Guten Abend, Gute Nacht) von Johannes Brahms, die er mit "Buenas noches" ankündigte.
Ich habe bis heute keinen wirklichen, eigenen Zugang zu Chopin's Werken gefunden, spiele ihn daher auch nur auszugsweise und ganz selten selbst. Von der Sichtweise des lettischen Pianisten war ich schlichtweg überwältigt, trotz straffer Tempi, kaum einer Atempause zwischen dem 1. und 2. Satz, einer "sinnvollen", zum Gesamteindruck passenden Akzentuierung im heute immer noch Fragen aufwerfenden Finale.
Das Interessante an Shimkus' Deutung im Trauermarsch ist, dass (so mein Eindruck) es eine Rückschau vor der eigentlichen "Zeremonie" ist, wobei es unerheblich bleiben soll, ob dies nur ein echtes Trauerlied über eine tatsächlich verstorbene Person (evt. auch Chopin selbst) oder verloren gegangene Gefühle ist.
Ich teile den 3. Satz einfach in Thema (Marsch) - Nebenthema; Thema - Nebenthema; Trio; Thema - Nebenthema; Thema - Nebenthema
Im ersten Teil scheint der "Betrachter" an der "Feierlichkeit" teilzunehmen, man hört kurz einen Trauermarsch, aber er scheint sich eher darüber Gedanken zu machen, was eigentlich passiert ist und was noch auf ihn zukommt, die Trauerprozession scheint noch weit entfernt zu sein, die "Realität" wird von Reflektion abgelöst. Shimkus spielt Marsch und Nebenthema klar, deutlich strukturiert, jedoch ohne besondere Akzente, satter und sehr klarer Bass im forte.
Im Mittelteil (Trio) scheint der Betrachter sich zwar der "Trauer" bewußt, lässt sie aber dann außer Acht und - Shimkus spielt hier äußerst nüchtern und ohne jedwede hineininterpretierte Emotionen - reflektiert die "schönen" Zeiten.
Mit erneutem Einsatz des Themas geschieht eine deutliche Veränderung in der Spieltechnik des Pianisten: er nutzt den rechten Pedaleffekt (senza sordine) und die Akkorde hallen nach, jedoch ohne zu verschwimmen (also kein Klangbrei), gleichzeitig arbeitet er sich ohne Tempoveränderung zum fortissimo hoch. So entsteht der unmittelbare Eindruck, man sei direkt am Ort des "Geschehens", die Prozession sei schon sehr nahe beim Betrachter und zieht ganz plötzlich vorbei, der Betrachter wird aus seinen Gedanken gerissen und erlebt nur alles direkt, live. Durch abruptes Drosseln der Tempi und langsames Hinübergleiten ins piano/pianissimo mitten in der Wiederholung von Thema - Nebenthema, erkennt der Betrachter, dass die Prozession inzwischen an ihm vorüber gezogen ist (wo war er bloß gedanklich, dass er nicht gemerkt hat, wie schnell sie vobeizog?).
Wie schon erwähnt hat mich die Chopin-Sonate stark beeindruckt, so dass ich zumindest den Trauermarsch den interessierten Taminos im Mitgliederbereich für eine begrenzte Zeit nicht vorenthalten möchte. [Nur zur Info: nicht registrierte Leser haben ebenso wenig Zugriff auf diese Bereiche wie durch substantielle Beiträge noch nicht "etablierte" Neumitglieder.]
Zum Pianisten
Vestard Shimkus wurde 1984 in Lettland (Jurmala) geboren und erhielt ersten Unterricht in Riga mit 5 Jahren. Er studierte später Klavier u.a. bei Dmitri Bashkirov und Claudio Martinez Mehner in Madrid sowie Komposition bei Peteris Vasks und besuchte Meisterklassen u.a. von Boris und Lazar Berman, Emanuel Krasowsky, Peter Frankl, Igor Zhukov. Shimkus erhielt/gewann Sitpendien/1. Preise auf Wettbewerben (u.a. Maria Canals), wurde mehrfach mit dem lettischen Musikpreis ausgezeichnet, zuletzt für die Uraufführung des kompletten Zyklus "Gadalaiki – Die Jahreszeiten" von Peteris Vasks. Er beschäftigt sich ebenso mit Jazz (vielleicht auch dadurch sein freies Spiel, sein Anschlag) nebst freier Improvisation und einige seiner Bearbeitungen/Kompositionen wurden bereits im Schott-Verlag veröffentlicht. Neben der Einspielung des erwähnten Werkes von Vasks (Wergo 67342) sind noch zwei weitere (frühere) CDs mit Solowerken erschienen sein, jedoch kaum erhältlich. Aktuell ist er weltweit gern gesehener Gast auf zahlreichen Festivals.
In den über einschlägige Portale frei verfügbaren Audio-/Video-Files hat sich mein Bild von Vestard Shimkus gefestigt. Er wirkt aufgeschlossen, völlig unbekümmert der technischen und/oder interpretatorischen Schwierigkeiten der vorgetragenen Werke, gänzlich selbstbewußt aber natürlich, mit viel Spaß an der Freud, einen leichten Schalk im Nacken, ohne "wirksame" Effekte oder Grimassieren... Bitte mehr davon!