DALLAPICCOLA, Luigi: IL PRIGIONIERO

  • Luigi Dallapiccola (1904-1975):


    IL PRIGIONIERO (Der Gefangene)
    Oper in einem Akt mit vier Bildern und einem Prolog
    Text vom Komponisten nach der Erzählung „La torture par l'esperance“ von Villiers de l'Isle-Adam und Charles De Costers „La légende d'Ulenspiegel“ von 1868


    Uraufführung konzertant am 1. Dezember 1949 im italienischen Rundfunk RAI,
    szenisch am 20. Mai 1950 im florentiner Teatro communale


    DIE PERSONEN DER HANDLUNG


    Die Mutter (Sopran)
    Der Gefangene (Bariton)
    Der Kerkermeister (Tenor)
    Fra Redemptore (stumme Rolle)
    Zwei Priester (Tenor und Bariton)
    Der Großinquisitor (Tenor)
    Chor


    Ort und Zeit der Handlung: Ein Gefängnis der Inquisition in Saragossa, zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts.



    INHALTSANGABE


    Prolog
    vor einem schwarzen Zwischenvorhang zu spielen.


    Die Mutter erwartet ihren von der Inquisition eingekerkerten Sohn zu einem Gespräch. Sie äußert betrübt ihre Ahnung, daß sie ihr Kind wohl bald nicht mehr sehen wird. In einem Traum sah sie nicht nur sein baldiges Ende, sondern ihr erschien auch der für das inquisitorische Wüten verantwortliche König Philipp II. mit dem fratzenhaften Gesicht des Todes.


    Erstes Bild
    Eine Gefängniszelle mit einem Strohlager und einer Folterbank.


    In der Kerkerzelle hört man aus der Ferne Chorgesang. Der Gefangene hört ihm zu. Die Mutter tritt ein; sie will ihre Hoffnung, daß der Sohn den Kerker als freier Mensch verlassen kann, einfach nicht aufgeben. Der Sohn wiederum erzählt ihr, daß auch er die Hoffnung auf ein gutes Ende seiner Haft nicht aufgegeben hat, zumal ihn der Kerkermeister als „Bruder“ ansprach. Diese Äußerung deutet er als ein Versprechen für seine baldige Freilassung.


    Zweites Bild
    Die Szene ist unverändert.


    Die Mutter ist gegangen. Hinzu kommt nun stattdessen der Kerkermeister und berichtet dem Gefangenen vom Aufstand der Flamen gegen die spanische Herrschaft in Flandern, die gegen den König rebellieren. Dort ist die Macht Philipps II. jedenfalls geschwächt worden. Eine merkwürdige Aussage durch den Kerkermeister, die der Gefangene wieder als Vertrauen einflößend wertet und noch mehr in Hochstimmung gerät. Als der Kerkermeister hinausgeht, läßt er, ganz offensichtlich eine Aufforderung zur Flucht, die Zellentür offen. Der Gefangene versteht das auch so und nimmt sofort nach dem Abgang des Kerkermeisters die Gelegenheit wahr, zu verschwinden.


    Drittes Bild
    Ein unterirdisches Gewölbe.


    Der Gefangene durchquert das unterirdische Gewölbe, immer ängstlich darauf bedacht, von keiner Wache entdeckt zu werden. Zwischenzeitlich ist geht auch Fra Redemptore mit zwei Priestern durch diesen Teil des Kerkers; sie unterhalten sich über den baldigen Tod eines Gefangenen.


    Viertes Bild
    Ein großer Garten.


    Auf seiner Suche nach einem Ausgang aus dem Kerker gelangt der Gefangene schließlich in einen Garten; er sieht nach langer Zeit wieder den Sternenhimmel und äußert sich beglückt über seine wiedergewonnene Freiheit.


    Plötzlich berührt ihn eine Hand und mit warmer Stimme hört er sich von hinten als „Bruder“ angesprochen: die Stimme des Kerkermeisters. Als er sich jedoch umdreht, muß er erkennen, daß der Kerkermeister in Wirklichkeit der Großinquisitor ist. Es wird dem Gefangenen bewußt, daß der sich immer so leutselig gebende Mann seine Freundlichkeit nur als eine besondere Art der Folter ausgedacht hatte. Der stets freundliche Ton, die Nachricht über den Aufstand in Flandern, die absichtlich offen gelassene Kerkertür,- alles nur eine subtile Art der Folter. Der Großinquisitor führt den Gefangenen triumphierend zum bereits errichteten Scheiterhaufen...



    WERKINFORMATIONEN


    Im Juni 1939 hatte Luigi Dallapiccola in Paris die Erzählung „Die Hoffnung als Tortur“. von Villiers de l'Isle-Adam kennengelernt. Er schrieb als Erläuterung später, daß „in meiner Seele“ das „blutige Bild Philipp II., der Inquisition von Saragossa und einiger spanischer fanatischer Chorwerke aus dem 14. Jahrhundert zu leben begann". Und weiter heißt es bei ihm, daß er nach der Premiere zu „Volo di notte“ (siehe auch die Inhaltsangabe zu diesem Einakter im Tamino-Opernführer) beschlossen habe, „falls ich den Krieg überleben sollte, früher oder später eine Oper aus dieser Erzählung zu formen“ gedachte.


    Einige weitere Details für das geplante Werk fand der Komponist in Charles de Costers „Ulenspiegel“ und schrieb: „Ich mußte eine solche Oper schreiben, die trotz ihrer geschichtlichen Kleidung aktuell sein würde; eine solche Oper, deren Gegenstand die Tragödie unserer Zeit ist, die Tragödie der Verfolgung, die Millionen und Abermillionen verspüren und erleiden.“ Von Dallapiccola gibt es außerdem eine klare Äußerung dahingehend, daß der Ketzervernichter Philipp II. in ihm Assoziationen zu Mussolini und Hitler hervorriefen. So ist also DER GEFANGENE einer aktuellen politischen Situation geschuldet, wie es vorher in „Volo di notte“ eine (heute immer noch) aktuelle soziale Komponente gibt.


    So entstand in der Zeit zwischen Weihnachten und Silvester 1943 die erste Fassung des Librettos zu IL PRIGIONIERO. Im Januar 1944 begann Dallapiccola die Komposition, die von der zentralen Arie des Kerkermeisters „Sull'Oceano, sulla Schelda“ ausgeht. Die Instrumentation wurde im Mai 1948 fertiggestellt, nach einer Überarbeitung der gesamten Oper im Sommer 1947. Übrigens steht die Oper in einem engen Zusammenhang zu den „Canti di prigionia“ von 1941 und den darauffolgenden „Canti di liberazione“ von 1955.


    Dallapiccola organisierte die Musik in Tonreihen einer bestimmten Reihenfolge. Der Titelfigur gibt der Komponist Zwölftonmusik im Dienst des dramatischen Ausdrucks mit, hart klingende Zwölftonmelodien. Sein Gebet vor der vermeintlichen Freiheit enthält alle zwölf Töne und bildet eine seltsame, frei gestaltete dissonante Melodie. Der Großinquisitor singt dagegen in regelmäßiger Metrik, begleitet von tonalen Akkorden, sogar ariosenhaft. Die Fluchtszene wiederum basiert auf einer kontrapunktisch-barocken Form: dem Ricercare (wörtlich: etwas wieder suchen).


    Die Uraufführung von IL PRIGONIERO dirigierte Hermann Scherchen; sie wurde von heftigen Pressereaktionen begleitet. Die deutsche Erstaufführung kam 1954 in Essen zustande, und mit zahlreichen internationalen Aufführungen setzte sich der Einakter als das erfolgreichste Bühnenstück Dallapiccolas durch. In der Dresdner Semperoper stellte Christian Pöppelreiter die Oper 1993 als tödliches Traumspiel dar und 1994 in Innsbruck wurde der Kerkermeister als das „Alter Ego“ des Gefangenen interpretiert.


    © Manfred Rückert für Tamino-Opernführer 2011
    unter Hinzuziehung folgender Quellen:
    Reclams Opernführer
    Oper der Welt
    Dr. phil. Sigrid Neef über Dallapiccola

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    MUSIKWANDERER

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  • Von IL PRIGIONIERO wurden einige Aufnahmen eingespielt, von denen jedoch nur zwei beim Tamino-Werbepartner Amazon erhältlich sind:


    1955 entstand eine LIVE-Aufnahme unter der Leitung von Hans Rosbaud, dem Chor der St. Hedwigs-Kathedrale Berlin und den Berliner Philharmonikern; die Solisten waren:
    Helene Werth - La Madre
    Eberhard Waechter - Il Prigioniero
    Helmut Krebs - Il Carceriere
    Lothar Brünning - Il Grande Inquisitore


    Hermann Scherchen dirigierte im März 1956 den Chor und das Symphonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks und mit den folgenden Solisten:
    Helga Pilarczyk - La Madre
    Eberhard Waechter - Il Prigioniero
    Helmut Krebs - Il Carceriere
    Helmut Krebs - Il Grande Inquisitore


    Diese folgende Aufnahme mit dem ORF-Chor und ORF-Symphonie-Orchester unter Carl Melles und den Solisten
    Liliana Poli - La Madre
    Eberhard Waechter - Il Prigioniero
    Gerald English - Il Carceriere
    Gerald English - Il Grande Inquisitore
    ist über Amazon erhältlich (ASIN: B0045QCIO6)


    1975 dirigierte Antal Dorati den University of Maryland Chorus, es spielte das Washington National Orchestra; Soli
    Giulia Barrera - La Madre
    Maurizio Mazzieri - Il Prigioniero
    Romano Emile - Il Carceriere
    Romano Emile - Il Grande Inquisitore
    (Vinyl, Decca)


    Nebenstehend die von Esa-Pekka Salonen 1955 dirigierte Einspielung mit dem Eric- Ericson-Kammerchor, dem Chor und Sinfonie-Orchester des Schwedischen Rundfunks und den Solisten
    Phyllis Bryn-Julson - La Madre
    Jorma Hynninen - Il Prigioniero
    Howard Haskin - Il Carceriere
    Howard Haskin - Il Grande Inquisitore
    wurde von Sony veröffentlicht

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    MUSIKWANDERER

  • folgende Aufnahme ist z.B. über operadepot.com oder operapassion.com zu beziehen:


    Il Prigioniero
    Anne McKnight (The Mother), Norman Treigle (The Prisoner), Richard Cassilly (The Jailer / Grand Inquisitor), Maurice Stern & John Macurdy (Two Priests)


    Leopold Stokowski, NYC 1960


    Die Aufnahme ist in Englisch und die Tonqualität ist gerade noch okay - das Orchester scheint mitunter sehr in den Hintergrund gedrängt.