ULLMANN, Viktor: DER ZERBROCHENE KRUG

  • Viktor Ullmann (1898-1944):


    DER ZERBROCHENE KRUG
    Oper nach Heinrich von Kleist in einem Akt op. 36 - Zusammenstellung des Librettos vom Komponisten


    Uraufführung am 17. Mai 1996 bei den Dresdner Musikfestspielen


    DIE PERSONEN DER HANDLUNG


    Walter, Gerichtsrat
    Adam, Dorfrichter in Huisum
    Licht, der Gerichtsschreiber
    Frau Marthe Rull, Klägerin
    Eve, ihre Tochter
    Veit Tümpel, ein Bauer
    Ruprecht, sein Sohn, Freund von Eve, Beklagter
    Zwei Mägde
    Ein Bedienter


    Die Handlung vollzieht sich in Huisum bei Utrecht.

    INHALTSANGABE DES EINZIGEN AKTES


    Das Bühnenbild zeigt im größeren Teil den Gerichtsraum, im kleineren die Wohnstube des Richters Adam.


    Als der Gerichtsschreiber Licht (eine bewusst doppeldeutige Namensgebung durch Heinrich von Kleist) am Morgen seinen Dienst antritt, überrascht er Richter Adam beim Verbinden frischer Wunden. Auf die verwunderte Frage seines Schreibers, was ihm denn zugestoßen sei, erzählt der Richter eine haarsträubende Geschichte: Zuerst ist er, mit dem Morgenlied im Munde, aus dem Bett in den Morgen gestolpert und hat sich den Fuß verrenkt. Als Licht ihn auf das „geschundene Gesicht“ anspricht, erklärt Adam, er sei gegen den Ofen gefallen, weil er das Gleichgewicht verloren habe.


    Dann aber wird es ernst: Licht berichtet, dass der Gerichtsrat Walter aus Utrecht in einer Revision der Gerichtskasse und der Akten unterwegs sei und auch nach Huisum kommen werde; momentan sei er wohl noch im Grenzdorf Holla. Da gerät Adam in Panik, denn die Registratur ist vollkommen durcheinander. Die muss sofort auf Vordermann gebracht werden. So weit kommt es aber nicht, denn ein Bedienter meldet den Rat Walter schon an. Richter Adam weiß nicht, was er zuerst beginnen soll, Licht aber sagt dem Bediensteten, dass der Herr Gerichtsrat „sehr willkommen“ sei. Da ist aber Adam vor, er will sich krankheitshalber entschuldigen lassen. Licht lässt das jedoch nicht zu und Adam ruft seine Mägde herbei. Sie sollen alle Würste, Schinken und jeden Käse aus der Registratur fortschaffen und, vor allen Dingen, seine Dienstperücke bringen. Kurze Zeit später kommt eine Magd zurück und sagt, die Perücke sei nicht auffindbar. Könne sie auch nicht, ergänzt sie plötzlich sich erinnernd, denn der Herr Richter sei ja gestern Abend ohne sie nach Hause gekommen. Adam muss sich abermals vor seinem Schreiber rechtfertigen, schickt aber eine Magd zum „Gevatter Küster“ mit der Bitte, ihm seine Perücke auszuleihen.


    Kaum ist die Magd gegangen, kommt auch schon der Gerichtsrat Walter zur Tür herein und verlangt, dem heutigen Gerichtstag beizuwohnen, und ergänzt, das es mit den „Kassen und Akten“ noch Zeit habe. Adam versteigt sich zu einer überschwänglichen Begrüßung des Herrn Gerichtsrates, doch Walter will sofort mit der Verhandlung beginnen, denn die Kläger und Beklagten sind bereits anwesend. Kleinlaut gesteht der Richter, dass ihm seine Perücke abhanden gekommen sei. Dann, so der Gerichtsrat, solle er sich halt seinen Kopf wenigstens einpudern.


    Die drei Amtspersonen begeben sich also in den Gerichtssaal und Richter Adam ist in Nöten: er muss über eine Tat richten, deren Hergang er schließlich genau kennt. Frau Marthe Rull will Ruprecht, den Sohn des Bauern Veit Tümpel, den Verlobten ihrer Tochter Eve, als Verursacher eines zerbrochenen „irdenen Krugs“ verurteilt wissen. Richter Adam versucht nun alles, die Aufklärung des Falls zu verhindern. Dass nicht nur ein Krug, sondern auch das Verlöbnis zweier verliebter junger Leute zerbrach, ist für Adam natürlich nebensächlich.


    Was der Richter nun in der Gerichtsverhandlung abspult, spottet allen Regeln richterlicher Unbefangenheit Hohn und ist so komisch, dass er beim Publikum durchaus sympathische Züge gewinnt: mit Drohungen, dann mit süßen Worten versucht Adam, die Zeugen in eine ihm genehme Richtung zu drängen, die zudem das wahre Ausmaß seiner eigenen Schuld überdecken soll. Er windet und dreht in der Verhandlungsführung alle Verdachtsmomente von sich auf die anderen Beteiligten. Schwitzend vor Angst auf Entdeckung des wahren Sachverhalts ist er schließlich so in die Enge getrieben, dass im Zuschauer Mitgefühl für ihn aufkommt.


    Kein Mitgefühl können jedoch Gerichtsrat Walter und Schreiber Licht aufbringen; sie lassen sich von Richter Adam nicht blenden. Aus völlig unterschiedlichen Gründen sind beide an der Aufklärung des Falls vom „zerbrochenen Krug“ interessiert: Walter geht es eindeutig um die Reform der Rechtspflege auf dem platten Land, Licht dagegen möchte zu gerne selbst Dorfrichter werden. Und so enthüllt sich Schritt für Schritt während der Verhandlung der wahre Tathergang: der Unbekannte, der am Vorabend hastig durch Eves Schlafkammerfenster entwich und dabei den Krug vom Sims stieß, war Richter Adam selbst, keinesfalls Eves Verlobter Ruprecht.


    Zur Schande von Richter Adam bringt Schreiber Licht nun im Auftrag der Muhme Brigitte ein wichtiges Indiz in die Verhandlung ein: besagte Brigitte fand die Perücke des Richters nämlich im „Spalier bei Frau Marthe Rull“ und das bringt Rat Walter jetzt doch dazu, dem Richter den Rücktritt vom Vorsitz nahe zu legen, denn „die Würde des Gerichts“ stehe auf dem Spiel. Aber Adam denkt nicht im Entferntesten daran. Na gut, meint der Gerichtsrat, dann solle er ein Ende machen und sein Urteil fällen. Und der Richter kommt zu seinem Urteil: er judiziert Ruprecht „den Hals ins Eisen“ und vergattert ihn obendrein zu einer Gefängnisstrafe. Das bringt Ruprecht auf die Palme und Eve ist es jetzt endgültig leid: sie beschuldigt den Richter in aller Deutlichkeit als den wahren Schänder des mütterlichen Krugs. Im ausbrechenden Tumult kann der Richter jedoch entkommen; den wütend reagierenden Ruprecht bringt der Herr Gerichtsrat schnell mit der Drohung, Adams Richterspruch, ihm den „Hals ins Eisen“ zu legen, wieder zur Raison.


    Ruprecht, der sich wieder gefangen hat, bittet Eve, seine Herzensbraut, um Verzeihung, und da Eve sie ihm gewährt, dürfte eine Hochzeit wieder in den Bereich des Möglichen rücken. Damit könnte der Fall ja eigentlich abgeschlossen sein - doch Frau Marthe möchte jetzt noch wissen, wo „find' ich auch den Sitz in Utrecht der Regierung?“. Worauf dem Herrn Gerichtsrat dämmert, das der Fall wohl doch noch nicht abgeschlossen ist. Und er gibt bereitwillig Auskunft: „Am großen Markt, und Dienstag ist und Freitag Session.“ Na also: genau dort wird Gevatterin Rull sich einfinden!


    Das Schlusssextett hat Viktor Ullmann selbst getextet, wobei er sogar die „Erbsünde“ in die Moral der Geschichte einfließen lässt:


    Adam und Eve, es ist ein alter Trug, immer doch neu:
    Sie brach den Apfel, er brach den Krug.
    Hätte einst Eve den Apfel nicht gebrochen,
    Hätt' heut' der Adam nicht Unrecht gesprochen.
    Doch wer mag schuldig sein, ist er nicht gern allein,
    Alle sind lieber zu zwein!
    Adam und Eve, fiat justitia damals wie ebenda:
    Richter soll keiner sein, ist nicht sein Herze rein,
    Fiat justitia!


    INFORMATIONEN ZU KOMPONIST UND WERK


    Viktor (Victor) Ullmann wurde am 1. Januar 1898 in Teschen, dem heute polnischen Cieszyn, das im Westen Schlesiens als Teil der zu den Karpaten gehörenden Beskiden liegt und Grenzstadt zu Tschechien ist, geboren. Die Eltern entstammten beide jüdischen Familien, waren allerdings schon vor Viktors Geburt katholisch geworden.


    1909 kam Viktor auf ein Wiener Gymnasium. Seine musikalische Begabung brachte ihn zwar schon früh mit Arnold Schönberg in Verbindung, trotzdem meldete er sich sofort nach dem Schulabschluss freiwillig zum Militär, und wurde an der Isonzofront eingesetzt. Einen bewilligten Studienurlaub nutzte Ullmann zum Einstieg in das Jura-Studium, wurde aber im Oktober 1919 zusätzlich in Schönbergs Kompositions-Seminar aufgenommen, wo er Formenlehre, Kontrapunkt und Orchestrierung studierte. Im Mai 1919 brach er diese Studien ab, verließ Wien und ging nach Prag, wo er mit Alexander von Zemlinsky bekannt wurde, der seine große Begabung erkannte und ihn als Kapellmeister an das Prager „Neue deutsche Theater“ holte.


    Von 1929-31 wirkte Ullmann als Kapellmeister und Komponist für Bühnenmusik am Schauspielhaus in Zürich; sein Interesse an der Anthroposophie ließ ihn dann für zwei Jahre in Stuttgart eine anthroposophische Buchhandlung betreiben. Ab Mitte 1933 war er wieder in Prag, wo er als Musiklehrer und Journalist arbeitete. Ab 1935 erteilte ihm Alois Hába Kompositionsunterricht, dessen Vierteltontechnik Ullmann allerdings nicht interessierte, gibt es doch nur die Klarinetten-Sonate op. 16 in dieser Kompositionsweise.


    1942 wurde Ullmann seine jüdische Abkunft zum Verhängnis: die Nazis deportierten ihn nach Theresienstadt, wo er trotz großer Alltagsprobleme sich nicht nur um ein abwechslungsreiches Musikleben bemühte, sondern soviel komponierte wie noch nie. Hier wirkte er auch als Klavierbegleiter, organisierte Konzerte mit dem „Collegium musicum“ und schrieb Kritiken über musikalische Veranstaltungen. Seine in dieser Zeit entstandenen Werke sind nahezu vollständig erhalten geblieben, während ältere Kompositionen fast alle verschollen sind. Erhalten blieben lediglich fünfzehn Drucke der zwischen 1936 und 1942 entstandenen Werke, die im Selbstverlag erschienen und einem Freund zur Aufbewahrung anvertraut waren. Bis zu seiner Deportation erreichte seine Werkliste 41 Kompositionen, darunter Klaviersonaten, Liederzyklen nach verschiedenen Dichtern, Opern und das Klavierkonzert op. 25.


    Am 16. Oktober 1944 wurde Ullmann in einem Viehwagen nach Auschwitz deportiert und bereits am 18. Oktober in den Birkenauer Gaskammern ermordet.


    Den hier besprochenen Einakter hat Gerd Albrecht für die Reihe „Musica Rediviva“ des Labels Orfeo eingespielt, gekoppelt mit der Slawischen Rhapsodie für Orchester mit obligatem Saxophon op.23. Ullmann hat sich das Libretto der Komödie selber zusammengestellt, wobei man sein Geschick, das abendfüllende Schauspiel auf kaum mehr als eine halbe Stunde Spieldauer gekürzt zu haben, bewundern muss. Einzig Ruprechts gegenüber Eve ausgesprochene Bitte um Verzeihung, bleibt unverständlich, weil der Teil des Dialogs, in dem er seine Verlobte eine Metze nennt, ausgespart ist. Ansonsten ist die Raffung des Geschehens zwingend.


    Unter Berücksichtigung des zeitlichen Hintergrunds, in dem das Werk entstand, ist die klar ausgesprochene Mahnung im Schlusssextett erstaunlich: „Richter soll keiner sein, der im Herzen nicht rein“. Die Perversion des Rechts im damaligen Deutschen Reich vollzog ja nicht nur der berüchtigte Roland Freisler als Präsident des Volksgerichtshofes, sie war sogar allgegenwärtig. Insofern hatte DER ZERBROCHENE KRUG keinerlei Chance auf eine Aufführung. Das Werk galt jahrzehntelang als verschollen. Israel Yinon, der die Uraufführung bei den Dresdner Musikfestspielen 1996 mit dem Ensemble des Deutschen Nationaltheaters Weimar geleitet hat, gebührt das Verdienst um Auffindung und Einrichten des Notenmaterials.


    © Manfred Rückert für den Tamino-Opernführer 2013
    unter Hinzuziehung folgender Quellen:
    Libretto der Orfeo-Aufnahme unter Gerd Albrecht
    Viktor Ullmann Homepage
    Verena Naegele: Viktor Ullmann - Komponieren in verlorener Zeit

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    MUSIKWANDERER

    Einmal editiert, zuletzt von musikwanderer ()


  • Nebenstehende Aufnahme von 1997, die der Inhaltsangabe zugrunde liegt, wurde von Gerd Albrecht dirigiert. Es singen Roland Hermann, Jörg Gottschick, Grit Gnauk, Claudia Barainsky, Michele Breedt, Thomas Dewald, Renée Morloc, Sabine Sommerfeld, Robert Künzli, Egbert Junghanns, Johann Werner Prein; es spielt das Deutsche Sinfonie-orchester Berlin.



    Die DVD bringt Ullmanns Komödie mit Alexander von Zemlinskys „Zwerg“ aus der Los Angeles Opera. James Conlon leitet Chor und Orchester des Opernhauses. Als Solisten im ZERBROCHENEN KRUG treten auf:


    Adam: James Johnson
    Eve: Melody Moore
    Frau Brigitte: Natasha Flores
    Licht: Bonaventura Bottone
    Marthe Rull: Elizabeth Bishop
    Ruprecht: Richard Cox
    Veit Tümpel: Jason Stearns
    Walter: Steven Humes

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    MUSIKWANDERER

  • Ich habe mich auch schon für Viktor Ullmann als Komponist interessiert. Mein Lebenspartner ist auch ein Ullmann. Bisher habe ich mich noch nicht getraut etwas von ihm anzuhören. Ich habe so meine Schwierigkeiten mit der "modernen Klassik". Die hier vorgestellten Werke machen mich neugierig. Ich werde mir wohl doch mal was zu Gemüte führen.


    Danke an Musikwanderer für die ausführlichen Beschreibungen.


    Bartolifan

  • Hallo Bartolifan!


    Mein Interesse an den Werken Ullmanns ist erheblich gestiegen, seit ich den ZERBROCHENEN KRUG in der Einspielung von Gerd Albrecht gehört habe. Wenn ich ansonsten mit "Moderner Musik" sehr, sehr wenig anfangen kann, muß ich an dieser Stelle sagen, die kurze Komödie nach Kleist war ein Hörerlebnis. Und - das sei noch als wichtig angemerkt - weil die Oper so kurz ist, hat man die CD mit der "Slawischen Rhapsodie für Orchester mit obligatem Saxophon" noch angefügt. Ein für meine Ohren wunderbares Stück Musik. Ich freue mich, daß unsere Stadtbücherei auch aus dem Instrumentalbereich einige CDs anbietet - die werde ich mir mal so peu a peu ausleihen. Eine vielversprechende Neuentdeckung für mich. Als Empfehlung daher meinerseits für Dich: wenn Dir ebenfalls die Möglichkeit der Ausleihe in einer öffentlichen Bibliothek gegeben ist, dann probiere es aus! Es gibt Überraschungen zu hören...


    :hello:

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    MUSIKWANDERER