Wehe, Lüftchen, lind und lieblich,
Um die Wange der Geliebten,
Spiele zart in ihrer Locke,
Eile nicht, hinweg zu fliehn!
Tut sie dann vielleicht die Frage,
Wie es um mich Armen stehe,
Sprich: „unendlich war sein Wehe,
Höchst bedenklich seine Lage;
Aber jetzo kann er hoffen,
Wieder herrlich aufzuleben,
Denn du, Holde, denkst an ihn.“
(Georg Friedrich Daumer, nach Hafis)
Das ist das erste von insgesamt fünf Liedern, die das Opus 47 ausmachen. Es wurde 1868 bei Simrock publiziert. Die Entstehungszeit der Lieder ist nicht genau zu bestimmen. Sie reicht vom Jahr 1858 (hier wurde das letzte Lied komponiert) bis zum Jahr 1868, in dem die ersten drei Kompositionen entstanden. Die zugrundliegenden Texte stammen von G. F. Daumer („Botschaft“, „Liebesglut“), Uhland („Sonntag“), Paul Flemming („O liebliche Wangen“) und Goethe („Die Liebende schreibt“).
Das Gedicht „Botschaft“ ist eine Art Nachdichtung Daumers im Geist des persischen Dichters Hafis, die sich in dem 1852 in Nürnberg erschienenen Werk „Hafis. Neue Sammlung persischer Gedichte“ findet. Das lyrische Ich spricht den Wind an, er möge um die Wangen der Geliebten wehen, zart in ihren Locken spielen und, falls sie nach ihm fragen sollte, ihr mitteilen, dass es ihm jetzt wieder besser gehe, eben weil sie offensichtlich wieder an ihn denkt. Es ist ein subtiles Gedankenspiel, das Daumer lyrisch entfaltet. Dem lyrischen Ich geht es eigentlich schlecht, es ist in „bedenklicher Lage“, da es bei der Geliebten kein Gehör findet. Und nun gaukelt es sich dieses Bild mit „lauen Lüftchen“ vor, überlässt sich imaginativ einer Fiktion, so dass die Behauptung vom „herrlichen Wieder-Aufleben“ nicht so ganz ernst zu nehmen ist.
Und genau so hat Brahms diese Verse offensichtlich gelesen. Man meint aus all der Terzenseligkeit des Klaviersatzes, in der die Melodik sich entfaltet, ein wenig zu viel Begeisterung und Beglückung beim lyrischen Ich herauszuhören. Auffällig ist, dass die melodische Linie bei den Worten „Tut sie vielleicht die Frage“ nach ihrem Quint- und Sekundsprung nach dem Wort „vielleicht“ abreißt und eine Pause von drei Achteln folgt, bevor sie ihr Bewegung fortsetzt. Und angesichts der nachfolgenden, ein wenig jämmerlich wirkenden Klage mit ihrer gedehnten Aufgipfelung auf den Worten „mich Armen“ wirkt die in mehrfachen Wiederholungen sich steigernde Emphase der Liedmusik auf den Schlussvers tatsächlich ein wenig wie das Sich-Hineinsteigern des lyrischen Ichs in eine Fiktion. Nicht dass Brahms einen ironischen Bruch in die Verse Daumers hineingelesen hätte. Das ist nicht seine Art: Musikalischen Spott, wie er sich etwa bei Hugo Wolf findet, meidet er. Aber er hat den lyrischen Text ganz offensichtlich mit Humor gelesen, und das wäre nun noch ein wenig detaillierter aufzuzeigen.
Dem Lied liegt ein Neunachteltakt zugrunde, der ihm eine gewisse innere Beschwingtheit verleiht, und es soll „grazioso“ vorgetragen werden. Schon das ist wohl ein Hinweis darauf, dass Brahms bei der gesanglichen Interpretation des Mittelteils die Klage über „höchst bedenkliche“ Lage des lyrischen Ichs nicht in übertriebener Weise vorgebracht wissen wollte. Er will, und das zeigt die durchweg ungebrochene klangliche Schönheit der Liedmusik, diesen Gesellen durchaus ernst genommen wissen. Freilich setzt er musikalische Mittel ein, um die Lage zu beleuchten, in der dieser sich befindet. Das sind: Die Harmonik, die Struktur der melodischen Linie und die Wiederholung melodischer Passagen nach dem Prinzip der entwickelnden Variation.
Was die Harmonik anbelangt, so lässt schon das recht lange, nämlich siebentaktige Vorspiel, in dem die Singstimme auftaktig einsetzt, ein wesentliches Merkmal der Faktur des Liedes erkennen: Die Harmonik pendelt hier, in b-Moll einsetzend, über mehrere harmonische Modulationen zwischen den Tongeschlechtern Dur und Moll hin und her, und das ist im ganzen nachfolgenden Lied der Fall, wobei sich das Geschlecht Dur aber immer mehr durchsetzt. Im Notentext sind fünf „Bs“ als Vorzeichen vorgegeben, Des-Dur dominiert aber nicht, vielmehr macht die Harmonik mehrfach Rückungen in die Parallele b-Moll und andere Moll-Tonarten. Aber das Vorspiel verweist auf noch eine weitere Eigenart des nachfolgenden Liedes: Es ist seine sich auf der Grundlage eines terzenbetonten Klaviersatzes entfaltende kantable und klanglich einschmeichelnde Melodik, der ein beschwingter Geist innewohnt. Schließlich beschreiben die Terzen des Vorspiels eine nach oben drängende und dabei permanent harmonisch modulierende Aufwärtsbewegung.
Man begegnet ihr schon in den ersten Melodiezeilen. Die Beschwingtheit, in der sie sich entfaltet, ist keine vordergründige, man empfindet sie, und das macht ihren spezifischen Zauber aus, als Ausdruck eines emotional beflügelten lyrischen Ichs. Daher dieses wellenartige Auf und Ab der Vokallinie, in dem sich kurze Schritte mit Dehnungen ablösen und sich mehrfach wie aus einem Anlauf hervorgehende Aufgipfelungen ereignen, - so bei den Worten „um die Wange“ und „zart in ihrer Locke“. Das Klavier begleitet mit einer Folge von Figuren, die aus zwei Terzen gebildet sind, zwischen denen sich ein Fall zu einem Achtel-Einzelton ereignet. Die innere Bewegtheit der melodischen Linie wird durch ihre Harmonisierung verstärkt, denn diese rückt von einem anfänglichen Ges-Dur über Des- und As-Dur und weder zurück nach Ges-Dur.
Die Liedmusik folgt, auch wenn sie sich vom kantablen Gestus der Melodik leiten lässt, dem lyrischen Text, und da es sich dabei um die Ansprache an ein „lindes Lüftchen“ handelt, wandelt sich mit den Worten „Eile nicht, hinweg zu fliehn“ die Struktur der melodischen Linie, ohne freilich, und das macht ja gerade die Eigenart der Brahmsschen Liedmusik aus, in einen rhetorischen Gestus zu verfallen. Vielmehr treten Pausen in die Vokallinie, wodurch sie in kleine Zeilen untergliedert wird, die den Aufforderungscharakter dieser Worte zum Ausdruck zu bringen vermögen, wobei das Mittel der Wiederholung zum Einsatz kommt. Aus der Fallbewegung in Achteln, die anfänglich auf den Worten liegt, wird ein zweimaliger Aufstieg in punktierten Vierteln, wobei die tonale Ebene um eine ganze Quinte angehoben ist. Die Aufforderung an das „Lüftchen“ erhält auf diese Weise starken Nachdruck. Und bei der Wiederholung des ganzen Verses am Ende liegt dann auf den Worten „eile nicht“ ein aus einer Tonrepetition hervorgehender und dadurch noch expressiverer Quintsprung zu einem hohen „As“, von dem aus die melodische Linie in einen langsam Fall übergeht, der der Aufforderung den Charakter der – lieblich vorgetragenen – Bitte verleiht. Auf dem Quintsprung liegt freilich eine harmonische Rückung von „Des-Dur“ nach „Ges-Dur“, der dem Wort „nicht“ ein starkes Gewicht verleiht.
Nach einem viertaktigen Zwischenspiel, in dem das Klavier die Terzenmotive des Vorspiels erklingen lässt, wandelt sich der Ton der Liedmusik. Melodische Linie und Klaviersatz neigen zunächst dazu, auf der jeweiligen tonalen Ebene zu verharren: Dieser in Gestalt von einem repetierenden Aufs und Abs von Achteln im Diskant auf der Ebene eines „As“, das sich erst bei den Worten „mich Armen“ im Intervall erweitert und tonal in die Höhe steigt; jene ebenfalls in Form von zum Teil gedehnten Tonrepetitionen in mittlerer tonaler Lage. Darin drückt sich, so meint man zu vernehmen, das „vielleicht“ aus, das die lyrische Aussage beherrscht. Der Geselle gibt sich hier ja einem Wunschtraum hin. Bei den Worten „um mich Armen stehe“ beschreibt die melodische Linie dann aber eine in hohe Lage ausgreifende und weit gedehnte bogenförmige Bewegung, in der sich das ganze seelische Elend des lyrischen Ichs ausdrückt. Die Worte werden sogar noch einmal wiederholt, dieses Mal aber in Gestalt einer etwas weniger (um eine Sekunde) hoch ausgreifenden und dann bei dem Wort „Armen“ mit einem Sextfall verbundenen melodischen Bewegung. Das klingt noch gar kläglich, auch deshalb, weil die Harmonik nun vom anfänglichen Ges-Dur über C-Dur in bei dem Wort „Armen“ ein f-Moll rückt und erst bei dem melodischen Sekundfall bei dem Wort „stehe“ am Ende dieser Melodiezeile wieder zum C-Dur zurückfindet.
Mit der Aufforderung „sprich“, die auf einem fast den ganzen Takt einnehmenden „Des“ in oberer Mittellage deklamiert wird, kehrt die Liedmusik – nach einer zweitaktigen Pause – gleichsam zu ihrer Anfängen zurück. Bis zu den Worten „wieder herrlich aufzuleben“ wiederholt Brahms mit nur geringen Variationen melodische Figuren des Liedanfangs. Da er aber auch lyrischen Text wiederholt, nämlich die Worte „höchst bedenklich seine Lage“, fügt er, um diese Aussage in ihren verschiedenen lyrischen Dimensionen auszuloten, Varianten ein, und zwar bei den Worten „seine Lage“. Beim ersten Mal beschreibt die melodische Linie einen gedehnten Terzfall in hoher Lage, bei der Wiederholung wird daraus, um der Botschaft Nachdruck zu verleihen, ein leicht gedehnter Sekundsprung in mittlerer Lage.
Aber alles strebt hier auf die Emphase zu, die die Liedmusik bei den Schlussworten „Denn du, Holde, denkst an ihn“ entfaltet. Es ist ein Wunschtraum, den das lyrische Ich in seinen Phantasien zu einer imaginativen Realität werden lässt, und die Liedmusik reflektiert dies mit einer Melodik, die in Gestalt von kleinen, Textelemente wiederholenden Zeilen zwei Mal erst über eine Terz, dann über eine Quinte zu einem hohen „As“ hinauf springt, um sich von on dort Fallbewegungen zu überlassen. Und diese sind nicht nur höchst ausdrucksstark, sondern auch vielsagend, zumal das Klavier jeweils dazu seinen ganz eigenen Beitrag liefert. Die Worte „du Holde“ werden drei Mal deklamiert. Beim ersten Mal liegt auf ihnen ein schlichter Sekundfall mit Tonrepetition auf dem Wort „Holde“. Das Klavier begleitet in Des-Dur mit dem Auf und Ab von Achteln, wobei sich das Intervall fallend erweitert. Bei der ersten Wiederholung wird aus dem Sekundfall ein veritabler Oktavfall von einem hohen zu einem As in mittlerer Lage, und das Klavier begleitet mit fallenden Oktaven im Diskant und ebenfalls fallenden Achteln im Bass.
Bei der zweiten Wiederholung schließlich wird aus den Fallbewegungen ein Sprung. In Umkehrung ihrer bisherigen Bewegungen steigt die melodische Linie über das Intervall einer Quinte wieder zu ihrem hohen „As“ empor und geht von dort in eine ruhige, in Gestalt von zwei Dehnungen auf dem Wort „denkst“ weit gespannte Fallbewegung bei den Worten „denkst an ihn“ über, die mit einem Sekundsprung auf dem Grundton „Des“ endet. Das Klavier hat dabei von seinen expressiven fallenden Oktavketten zu ruhigeren Figuren aus bitonalen Akkorden und aufsteigenden Achteln zurückgefunden.
Hier wird auf eindrucksvolle Weise vernehmlich und erlebbar, in welch kunstvoller Weise Brahms das liedkompositorische Mittel der Wiederholung einsetzt und handhabt. Alle semantischen Dimensionen des Schlussverses werden auf diese Weise liedmusikalisch erschlossen. Die „Holde“ ist ja für das lyrische Ich nicht nur das Objekt seines Begehrens, sie ist auch ein Wesen, das sich diesem Begehren verweigert und diesbezüglich angesprochen wird. Es ist eine Ansprache, die sich in immer größere, Bewunderung und Verehrung ausdrückende Emphase steigert, am Ende aber, beim auf einem hohen „Ges“ ansetzenden gedehnten Quintfall auf der Wiederholung des Wortes „denkst“, zu einer regelechten Beschwörung wird. Es ist eben eine Fiktion, in die sich das lyrische Ich hineinsteigert. Und die Liedmusik bringt das, darin weit über den lyrischen Text hinausgehend, auf höchst beeindruckende Weise zum Ausdruck.