Sauer war Carl Orff, richtig sauer. Und man kann ihn gut verstehen. Da schreibt Bayerns bajuwarischster Bayer ein bayerisches Festspiel für die bayerischste Stadt in Bayern, also München, versucht sogar, eine quasi alt-bayerische Sprache zu schöpfen wie weiland Martin Luther das heutige Deutsch geschaffen hat - und dann zeigt ihm München die kalte Schulter. Die Uraufführung findet in Stuttgart statt. Baden-Württemberg. Sozusagen in Preußen. Wo man irgendwas spricht, aber jedenfalls nicht Bayerisch. Demgemäß war der Erfolg der "Bernauerin". Knapp am Durchfall vorbei. Da bekommt Orff völlig zurecht die Lust, es seinen Münchnern einmal so richtig hineinzusagen. Und weil Orff eben Orff war, wurde daraus ein Meisterwerk: "Astutuli".
Die Besetzung
9 größere Solistenrollen (alle Sprecher)
Chor
3 Pauken
1 Xylophon
1 Paar Bongos
1 kleine Trommel ohne Schnarrsaite
1 kleine Trommel mit Schnarrsaite
3 Rührtrommeln
1 Tamburin
1 Große Trommel
1 Große Trommel mit Becken
1 aufgehängtes Becken
1 Paar Becken (Gegenschlag-)
1 Paar Cymbeln
3 Holzblocktrommeln
1 Steinspiel
4-5 Gläser
Rasseln
Kastagnette
Ratsche
Windmaschine
Spieldauer: ca. 100 Minuten (sehr abhängig vom Tempo der Sprechszenen)
Handlung
"Die Stori begibt sich vor urdenklicher Zeit". Wie eine Fanfare eröffnet der Gagler (Gaukler) das Spiel zur Begleitung von Trommeln und Becken: "Astutuli". Das Wort leitet Orff von "astutus" (lat. für "listig") ab: "Die Raffinierten", gemeint allerdings sind die "Oberschlauen".
Der erste Dialog der Burger (Bürger) setzt das Thema fest: "Hie räuchts nach Gäuklwerk, nach Lotterei und Luderei, Beschiß, Spitzbuberei." Sie wissen nicht recht, ob sie sich das seltsame Spiel anschauen sollen, aber Bürgermeister Zaglstecher mit seinen Töchtern geht schließlich auch hin. Man muß also dabeisein.
Der Gagler erklärt im unbegleiteten Monolog, worum es geht: "...daß nur die Witzigen allein des Spiels ansichtig können sein, (...) Wer dumm ist (...), sieht nichts, bleibt blind, stockblind, sternhagelblind, so blind, wie alle Dummen sind." Er verschwindet hinter dem Vorhang.
Die Burger drängen darauf, von Trommeln und Becken begleitet, endlich anzufangen.
Der Gagler führt ihnen den ersten Teil seines Wundertheaters vor, er zeigt ihnen den Onuphri. (Dem heiligen Onophrius wird in München besondere Verehrung zuteil, er soll u.a. in riesenhafter Gestalt beim Löschen eines Brandes geholfen haben.) Was sich jetzt abspielt, ist das Kopftheater, das man aus des Kaisers neuen Kleidern kennt. Natürlich sind die wundersamen Dinge, die der Gagler zeigt, gar nicht zu sehen. Aber er hat den Burgern ganz klar gesagt: Wer gewitzt ist, sieht alles, wer dumm ist, sieht nichts. Wer will schon vor allen anderen als dumm gelten? Also sind alle Burger begeistert, des Onuphri ansichtig zu werden und teilen nicht nur ihr entzücktes Erstaunen gut durchrhythmisiert zur Begleitung von Trommeln und Becken mit, sie beschreiben auch detailliert, was die Heiligenerscheinung alles treibt.
Jetzt führt ihnen der Gagler den Goggolori vor. Er senkt eine Nuß in die Erde: "Erdmandl, Erdhauser, Zwergl, Butzlmann, schein und erschein." Und schon beschreiben die Anwesenden das Treiben des Goggolori in einem großen und differenzierten Satz für Sprechchor und Schlagzeug.
Und schon behauptet der Gagler (frei gesprochen über einem Klanggrund der Windmaschine), ein weiteres Bild vorzuführen: Das Schlaraffenland. Die Burger beschreiben alles, was sie in Wahrheit gar nicht sehen, im begleiteten Sprechchor. Gläser und Steinspiel, dann auch Becken und Tamburin hellen die Begleitung auf.
Der Beckenklang bleibt liegen, wenn der der Gagler nun auf das "kokanische Gwand" zu sprechen kommt, das kluge Menschen hellsichtig macht. Die Burger zögern etwas, denn keiner sieht ein Gewand - nur zugeben will's niemand. Schließlich fordert einer den Bürgermeister auf, das Gewand anzulegen, Zaglstecher zieht sich aus, legt das kokanische Gwand an - und es paßt, oh Wunder, Zaglstecher wie angegossen: "Z'eng is 's ma net, grad lüftig, gwohnt muß ma 's halt sein. Helft 's no in d' Rockärmel, san d' Hosen schon zu, is zuknöpft, auf daß all's in Ordnung geht, und daß ma auf d' Letzt nur nix außersteht." Kaum hat Zaglstecher das Gewand angezogen, wollen alle Burger eines anlegen. Der Gagler hat natürlich genügend kokanische Gewänder mitgebracht. Alle legen ihr Gewand ab und ziehen das kokanische an. Orff entfesselt ein Schlagzeug-Pandämonium, das die Groteske zum Ecce Homo überblendet, die "bairische Komödie" wirft an dieser Stelle alle Gestalten auf sich selbst zurück, mit einem Mal bleibt das große Gelächter im Hals stecken.
Der Gagler schnappt indessen die abgelegten Gewänder der Burger, löscht die Lichter und verschwindet.
Alle sitzen im Dunkel und wissen nicht, wie ihnen geschieht. Diese Meditation über das Vergehen der Zeit ("D'Zeit laßt si Zeit, D'Zeit braucht sein Zeit, D'Zeit ziehgt si hin") ist von magischer Wirkung, denn zum ersten Mal in diesem Werk läßt Orff singen, und die Formeln, so einfach sie sind, sind, da so lange zurückgehalten, von elementarer Kraft.
Endlich merken die Burger, dass alles Lug und Betrug war und nur dazu diente, daß der Gagler ihnen das Gewand stehlen konnte. Das Schlagzeug unterstreicht ratternd und tobend die Wut.
Und jetzt passiert etwas auf der Bühne völlig Neues. Zaglstecher und die Burger beschuldigen das Publikum, Komplize des gaunerischen Gaglers zu sein. Lachen wird als Zustimmung zu dessen Umtrieben gewertet. Zaglstecher und die Burger treten an die Rampe und beginnen eine veritable Publikumsbeschimpfung: "Daß ihr mit im Gspiel seids, dös liegt auf der Hand." Und jetzt sagt es Orff den Münchnern (der Chor tritt an die Rampe, frontal zum Publikum), rhythmisch skandiert zu Trommel- und Rasselakzenten, so richtig hinein: "Scheißer! Bscheißer! Dalkete Dockn! Gschlamperte Hadern! Haderlump! Scheißkerle ihr! Rauber! Na komma auf euch! Na schlagn ma euch allsamt, daß Hörn und Sehn euch vergeht."
Doch ehe die Bühnenfiguren das Publikum zu verprügeln beginnen, kommt der Gagler mit einem Goldmacher daher, der den Burgern alles bezahlen wird und ihnen, darüber hinaus, mit eben gemachtem Gold, Reichtum bescheren wird - und schon sind alle bereit, sich der Kunst des Goldmachers auszuliefern.
Zwei Sterzer ziehen das Resümee: "Hie räuchts nach Gäuklwerk, nach Lotterei und Luderei, Beschiß, Spitzbuberei. Allwo gehobelt wird, da fallen Späne - und so verlassen wir die Szene. Applaudite! Applaudite!"
Und während das Publikum zum Applaus anhebt, geht der Vorhang nochmals auf und man sieht, wie sich ein "Allgemeiner Tanz", ein bäuerlicher Walzer, um den Goldmacher dreht. Und dann beginnt das Schlagzeug zu rasen und alle sprechen zu ihrem Partner oder ihrer Partnerin den Satz, in dem alles Gaukelspiel, ganz orffisch, in die Wahrheit von Liebe und Eros mündet: "Wann i di heunt no hab, frag i nach morgen nix, brauch kan kokanisch Gwand und a kan anders net, lieg i ganz ohne Gwand bei dir im Bett!"
Bei der Uraufführung am 20. Oktober 1953 an den Münchner Kammerspielen in der Regie von Hans Schweikart setzte es einen mittleren Skandal, denn als sich die Burger ausziehen, um die kokanischen Gewänder anzulegen, wurde man ihrer, vorsichtig gesagt: unsauberen Unterwäsche gewahr. Auch eine Publikumsbeschimpfung war etwas Unerhörtes. Tatsächlich? - Hat nicht Peter Handke...? Ja, aber Handke kam um die Kleinigkeit von 13 Jahren später, also 1966.
Wie ist nun "Astutuli" im Gesamtschaffen Orffs zu verorten?
Obwohl Orff das Thema beim Spanier Miguel de Cervantes in dessen "Wundertheater" findet, fällt die Bajuwarisierung nicht schwer. So ist es ist, nach "Mond" und "Bernauerin" das dritte seiner bayerischen Stücke; ob das letzte, ist eine Frage der Perspektive, denn auch das Weihnachtsspiel "Ludus de nato infante mirificus" und das Osterspiel "Ludus de Christi resurrectione" bedienen sich der altbayerischen Kunstsprache. Zwischen der "Bernauerin", "Astutuli" und "Ludus de nato infante mirificus" besteht ferner ein spannender Zusammenhang: Sowohl in der "Bernauerin" als auch im "Ludus de nato infante mirificus" ist die rhythmisierte Sprechdeklamation zur Schlagzeugbegleitung mit dominierenden Trommeln einer ganz bestimmten Sphäre zugewiesen, nämlich jener der Hexen. Es ist bemerkenswert, daß Orff in "Astutuli" genau diese Art der Deklamation für die Burger inklusive Bürgermeister Zaglstecher anwendet. Orff ging mit seiner Klangsymbolik stets sehr konsistent um. Sollte er in den Burgern von "Astutuli" etwas Dämonisches gesehen haben?
Charakteristisch ist, daß sich nur an zwei Stellen die Musik zu Gesang verdichtet: In der Zeit-Meditation und im Tanz, also in der visionären Schau und in der körperlichen Bewegung. Diesen Bereichen wird Orff auch in allen folgenden Werken Musik zuweisen, während er für Bericht und Dialog, speziell im Spätwerk, zunehmend die (freie oder rhythmisierte) Rede vorzieht. Somit ist "Astutuli" eine Vorausschau auf die nach "Oedipus der Tyrann" folgenden Werke.
Wo ist "Astutuli" einzureihen? - Theaterstück mit ausgedehnter Schauspielmusik? Oper in extremster Stilisierung? Ich denke, der aus einer ganz anderen Sphäre kommende "Sommernachtstraum" kann weiterhelfen: Schon in diesem Stück versucht Orff, Shakespeares Werk als ganzes zu musikalisieren: Das Ergebnis ist keine Schauspielmusik, sondern ein mehr oder minder geformter bzw. auskomponierter Klang, der das gesamte Stück durchzieht, das auf diese Weise zu einer Art Oper für Schauspieler wird. Ich bin überzeugt, daß Orff in "Astutuli" diese Idee auf die Spitze treibt. Selbst die meisten der frei gesprochenen Stellen werden durch Klänge gerahmt, oder es gibt innerhalb dieser Stellen einzelne Akzente durch das Schlagzeug.
Charakteristisch ist die Beschwörung des Onuphri durch den Gagler, die ich hier wiedergebe:
Das Zaubertheater!
Das Wundertheater!
Ein nie net geschautes,
ein Schaustück,
ein Schaugspiel,
ein nie net geschautes,
ein neues spectaculum,
neues miraculum,
schaut ihr hie an.
(Beckenschlag)
Onuphri, Onuphri!
Onuphri,
viel wilder,
viel gwaltiger,
ungschlachter Mann!
(Beckenschlag)
Onuphri, Onuphri,
zeig di als an!
(Windmaschine während des Folgenden: )
Da is er,
da steht er,
ganz so, wie man 'n kennt
vom Bild her,
wie 's aufgmaln
am Eiermarkt drent.
Ganz schwarz
und voll Haar
von der Zeh
bis zum Ohr
und ganz ohne Gwand
a grauslicher Mohr.
Durch diese Methode ist der Klang scheinbar permanent präsent - außerdem verfaßt Orff einen Text, der in sich bereits Klang ist. Denn selbst eine frei gesprochene Stelle wie "Unband vergeh, vergeh und verweh, verweh und verblind, geh auf in Wind" ist selbstverständlich musikalisch erfunden und geformt.
Einen gesonderten Hinweis verdienen die sprechenden Namen: Bürgermeister Zaglstecher ist so selbsterklärend (Zagl bedeutet Penis) wie der Wachter Wunibald Hirnstößl. Zaglstechers Tochter heißt Fundula, was auf Latein Sackgasse bedeutet. Ihre Gespielinnen heißen Hortula (der Name einer Motte) und Vellicula (vellicatio bedeutet Neckerei).
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Die Theater-Musiktheater-Mischform hat die Aufführungen und Einspielungen naturgemäß gebremst. Es gibt eine hinreißende Aufnahme, in der Orff selbst das Stück spricht und, wo nötig, den Rhythmus mit den Händen klopft (sowohl als Tondokument als auch als Video vorhanden, derzeit allerdings offenbar weder in der einen noch in der anderen Form im Handel), aber das ist eine glänzende Lesung, keine Aufführung.
Die einzige komplette Einspielung einer Aufführung stammt von den mittlerweile beklagenswerter Weise eingestellten Orff-Festspielen in Andechs und ist obendrein makellos, liegt aber nur auf DVD vor:
Michael Schanze wächst als Gagler über sich hinaus: Ein Schmierenkomödiant, der doch etwas Faszinierendes hat - möglichweise auch eine bösartige Abgündigkeit. Alle anderen Rollen sind mit bekannten Schauspielern aus Bayern besetzt, allesamt fulminant. Mark Mast dirigiert hinreißend. Die Inszenierung von Hellmuth Matiasek bleibt ganz nah am Text Orffs, den sie mit witzigen Details anreichert, und unterhält glänzend.