Konzert des Orchestre de Paris unter Daniel Harding in Köln, 13. 3. 2018

  • Ich bin um kurz vor 2 Uhr von einem Konzert aus Köln zurückgekehrt. Auf der Rückfahrt hat sich die deutsche Bahn mal wieder nicht von ihrer pünktlichsten Seite gezeigt und mir die ansonsten knapp einstündige Kaffepause in Essen nicht gegönnt.
    Dafür war mir ein erfüllendes Konzert gegönnt:
    Daniel Harding

    gastierte mit seinem Orchestre de Paris, und als Solist des Abends spielte vor der Pause der französische Bratschist Antoine Tamestit das von Jörg Widmann für ihn, Tamestit, komponierte "Viola Concerto" aus dem Jahre 2015.
    Dieses Oeuvre war von einem herkömmlichen Streicherkonzert weit entfernt, es glich in Teilen einem Happening, in dem Sinne, dass alles eingeschlossen war, was auf der Bühne passierte.
    Da saß zunächst einmal der Solist irgendwo hinter den Streichern allein kurz vor der Schlagwerkbatteirie:

    und spielte nicht wie hier Bratsche, sondern benutzte seine Bratsche als Art Schlaginstrument, auf dem er (auf dem Korpus) mit seinen Händen "Schlagklänge" erzeugte, während das Orchester nebst Dirigent wie versteinert saß und scheinbar unbeteiligt wirkte. Nun ging Tamestit kreuz und quer durch da Orchester, machte seine "Klänge" und wartete, was passierte. Und es passierte etwas:

    Stéphane Labeyrie, der Basstubist,
    erzeugte einen kurzen, knackigen Ton, der Tamestit kurz aus dem Rhythmus brachte. Aber dann begannen Basstubist und Bratschist als erste miteinander zu spielen. Schon hier wurde klar, dass hier nicht nur ernsthaft Musik gemacht werden sollte, sondern dass auch eine ganze Menge Humor im Spiel war. Insofern nahm das Stück, dass manchmal weit von den harmonischen Vorstellungen, die wir gemeinhin von klassischer Musik haben, doch sehr weit entfernt war, für sich ein. Aber indem der Solist auch als Suchender durch das Orchester wanderte und hier und da spielerische Anknüpfungspunkte suchte und auch fand, baute sich wie von selbst das Stück auf und entstand so das Konzert. Und so nahm es nicht Wunder, dass scheinbar wahllos an vier fünf Stellen im Orchester Notenpulte standen, die nach und nach vom Solisten benutzt wurden und zur Interaktion mit verschiedenen Instrumentengruppen führte.
    Der Schluss des Violakonzertes (27 min.) schlug dann eine Brücke zum zweiten Stück des Abends, Mahlers 9. Symphonie, indem es mit einem ähnlichen "Morendo" endete, nicht klanglich, aber vom Aufbau und Ablauf her, wie das unglaubliche Morendo zum Abschluss von Mahlers Opus summum.
    Antoine Tamestit ist übrigens der erste Bratschist, den ich in dieser Saison live in Köln erlebt habe. Am 8. Mai werde ich seine frühere Lehrerin Tabea Zimmermann in einem Konzert mit dem Gürzenichorchester erleben. Sie wird dann ein neues Violakonzert von York Höller spielen.
    Nach der Pause dirigierte Daniel Harding die Symphonie Nr. 9 D-dur von Gustav Mahler.
    Spielzeiten (ca.):
    1. Andante commodo: 27:45 - 2. Im Tempo eines gemächlichen Ländlers etwas täppisch und sehr derb: 14:50 - Rondo-Burleske: 12:30 - Adagio (sehr langsam und zurückhaltend): 27:30 -- 82:35 min;


    Immer wieder überwältigend sind im Kopfsatz die dynamischen und rhythmischen Kontraste, die oft blitzartig und mit großer Wucht auftreten. Diese holzschnittartigen Klangballungen und rhythmischen Eruptionen weisen m. E. weit in die musikalische Moderne hinein, ohne, jedenfalls für mich, abschreckend zu wirken. Im Gegenteil: das, was sich hier ereignet, von einem genialen Komponisten erdacht, dessen Leben und Erlebnisse und Schicksalsschläge einmal mehr Pate gestanden haben mögen, ist auch zutiefst menschlich und musikalisch gesehen absolut mitreißend.
    Aber nicht erst im Finale, sondern auch schon hier im Kopfsatz zeigt sich auch der große Melodiker Gustav Mahler, z. B. gleich im Thema im Duett zwischen Celli und Horn, in das dann die Geigen einstimmen. Natürlich ist dann auch die Verdunklung der Stimmung nach dem ersten Tuttischlag nicht weit. Doch am Schluss wendet es sich wieder, z. B. durch Horn und Flöte und einen ersten verhauchenden Schluss.
    Ebenso wie im Kopfsatz sind auch im Scherzo, das wie "ein gemächlicher Ländler" daherkommt, Orchester und Dirigent jederzeit auf der Höhe des musikalischen Geschehens. Dabei strahlt Daniel Harding eine, wie ich finde große Ruhe und Souveränität aus.


    Im 3. Satz; Rondo-Burleske, das Rondo sonst in der Rege ein Schlusssatz, vor allem in der Sonate oder dem Instrumentalkonzert, das hier ein dankbares Stück für das Orchester ist, seine rhythmische Klasse und dynamische Standfestigkeit, aber auch seine Virtuosität unter Beweis zu stellen, werden beide, Dirigent und Orchester, den Erwartungen vollauf gerecht, und seien wir doch einmal ehrlich, es hat in der Schlusssteigerung doch auch etwas Diabolisches.


    Dann das überirdische Adagio, sicherlich in dieser Sinfonie auch Zielpunkt und vor allem wirklicher Endpunkt, für mich eines der beiden unerreichten Schlussadagios in der ganzen Sinfonik, das andere natürlich das in Bruckners Neunter. Hier gilt noch mehr als im Kopfsatz Mahlers große melodische Meisterschaft.
    Es war sicher für mich ein großes Glück, dass ich vor Jahrzehnten aus Mahlers Oeuvre als Erste die Neunte kennen lernte, dann das Lied der Erde. Seitdem bin ich Mahlers Musik fast verfallen.
    Wo ich dies schreibe, kommt wieder das Hornthema daher, fortgesetzt in den Streichern, diesmal von den Londonern unter Gergiev, der im Finale etwa schneller ist als Harding, aber nicht weniger intensiv.
    Am Schluss noch ein Wort zur Orchesteraufstellung:
    In Widmanns Violakonzert war das Orchester nach der amerikanischen Aufstellung angeordnet.
    Nach der Pause, und darum hat das Konzert wohl auch 20 Minuten länger gedauert als vorgesehen, war alles umgeräumt, und die alte deutsche Aufstellung griff wieder Platz. Da ich in der vierten Reihe genau hinter dem Dirigenten saß, konnte ich die Vorzüge dieser Aufstellung akustisch wieder sehr gut wahrnehmen, und es fiel wiederum angenehm auf, dass die "zweiten Geigen" durchaus nicht die zweite Geige spielen, gerade hier in Mahlers Neunter spielen sie oft genug die erste Geige, und das würde man in der amerikanischen Aufstellung gar nicht hören.
    Ich warte jetzt nur darauf, ob, und wenn ja, wann Daniel Harding als neunter musikalischer Direktor des Orcheste de Paris nach Charles Munch, Herbert von Karajan, Sir Georg Solti, Daniel Barenboim, Semyon Bychkov, Christoph von Dohnany, Christoph Eschenbach und Paavo Järvi die Mahler-Sinfonien vorlegt. Dieses Jahr wäre ein guter Zeitpunkt dafür, da das Orchester in der aktuellen Saison sein 50jährises Bestehen feiert.


    Liebe Grüße


    Willi :)

    1. "Das Notwendigste, das Härteste und die Hauptsache in der Musik ist das Tempo". (Wolfgang Amadeus Mozart).
    2. "Es gibt nur ein Tempo, und das ist das richtige". (Wilhelm Furtwängler).