Kopfhörer-Klausuren. Dr. Kalethas esoterisches Hörtagebuch

  • Manche musikalische Werke vollziehen einen Kreis – das Ende läuft in den Anfang zurück. Einen solchen Kreisgang nehmen kann auch der Gang des Lebens, so wie in meiner Kopfhörer-Geschichte. Als Jungstudent kaufte ich mir zuerst einen Stax-Kopfhörer und erst später meine ersten Lautsprecher. Mit den Jahren, von den Vorzügen großer Standlautsprecher eingenommen, entwöhnte ich mich vom Kopfhörer-Hören fast komplett. Heute aber freue ich mich über die kleine Kopfhörer-Anlage in meinem Souterrain-Arbeitszimmerchen, eingerichtet zum Musik-Lauschen zu jeder Tages- und Nachtzeit. Das Wiedereingewöhnen in das Kopfhörer-Hören nach Jahrzehnten der Kopfhörer-Abstinenz fiel mir leichter, als ich zunächst dachte. Unter der Abgeschlossenheit des Kopfhörers hört Musik nicht nur auf, ein störendes Geräusch und eine Belästigung für die Mitmenschen zu sein. Das Hören und Zuhören wird zu einem Lauschen in die Stille, das den Hörer zu einer fast meditativen Konzentration zwingen kann. Die Welt ist quasi ausgeschaltet und man ist umgeben nur noch von der Musik, also mit sich und der Musik ganz allein. In solch esoterischer Abgeschiedenheit brauche ich auf Niemanden Rücksicht zu nehmen, folge also wie es mir beliebt meiner Lust und Laune, sei es, dass ich in diese oder jene Musik kurz hineinlausche, wenn die Hörzeit bemessen ist, oder, wenn ich mir die Zeit nehmen kann und will, ausgiebig und ausschweifend mir auch lange, ganze Werke zu Gemüte führe. „In der Religion gibt es keinen Zwang“ sagt schön der Koran – in der Kopfhörer-Klausur privatissime gibt es das Glück der vollkommenen Zwanglosigkeit. Wenn man mit der Musik allein ist, lädt sie zum Sinnieren ein – ganz zwanglos darf man einfach nur assoziieren, Bilder gehen einem dann durch den Kopf, oder aber es kommen die Gedanken, Einfällen gleich, so wie sie wollen – sie können flüchtig, vorläufig, unausgereift sein und bleiben oder gründlicher in die Tiefe gehen. Im esoterischen Zwiegespräch mit die Musik gibt es auch keine „Argumente“. Gedanken, die ganz privat nur meine Gedanken sind, müssen und wollen sich Niemandem „beweisen“ und deshalb „diskutiere" ich mein Hörtagebuch auch nicht. Wer möchte, kann diese Notizen als Anregungen nehmen, als Anreiz zum Nachhören der gehörten Musik – und dabei vielleicht einige meiner Gedanken aufnehmen und mitnehmen für seine eigene stille Kammer des Meditierens über Musik.


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    Die folgende CD-Besprechung widme ich meinem verehrten Lehrer, Germanistik-Professor Jürgen Born, 1927 in Danzig geboren, ehemaliger Leiter der Forschungsstelle für Prager deutsche Literatur an der Bergischen Universität Wuppertal. Von meinem Vater erhielt ich kürzlich die traurige Nachricht, dass sein Freund Jürgen Born am 20.1. im Alter von 95 Jahren verstarb.



    Wahrlich tragisch für einen „Handwerker“, wie es ein Pianist nun einmal ist, brach sich Nelson Freire zu Beginn der Corona-Pandemie 2019 zuerst die Schulter und Monate später auch noch das linke Handgelenk dazu. Während der durch die Corona-Isolation und seine Missgeschicke doppelt erzwungenen künstlerischen Pause hatte Freire offenbar große Angst, vergessen zu werden, wie sein Produzent Dominic Fyfe berichtet. Viel zu früh verließ Freire unsere Welt dann am 1. November 2021. Der Titel dieser Doppel-CD Memories spricht es aus: Die Erinnerung an diesen großartigen Pianisten soll mit dieser Veröffentlichung wach gehalten werden, die bislang unveröffentlichte Aufnahmen aus vier Jahrzehnten zusammenbringt – Rundfunkmitschnitte aus den 1970igern sowie im Tonstudio verbliebene Takes aus seiner Zeit bei Decca. Unvergossene Tränen: Erinnerungen an Nelson Freire – in seinem sehr persönlich geschriebenen Begleittext erzählt Dominic Fyfe, wie er in einem Telefonat mit Freire vom Tod seiner Eltern sprach, die er innerhalb eines Monats verlor, und der sehr scheue und äußerst zurückhaltende Künstler daraufhin verriet: „Ich habe meine Eltern mit 22 bei einem schrecklichen Unfall verloren, bei dem ich dabei war. Diese Erinnerung behältst du dein ganzes Leben lang.“ Dieses traumatische Erlebnis erklärt vielleicht die vornehme Zurückhaltung, die ungemein kultivierte, freundliche Reserviertheit von Nelson Freires Künstlerpersönlichkeit. Freire war nie der burschikose, auftrumpfende Virtuose, sondern selbst in den „pianistischsten“, vitalsten Virtuosen-Passagen ein Meister der stillen, eleganten Behutsamkeit. Sehr eindrucksvoll zeigt das der Rundfunkmitschnitt von Beethovens 4. Klavierkonzert von 1972. Freire spielt diesen Beethoven jugendlich frisch, aber ohne jemals forsch zu wirken, mit einer einnehmenden klassischen Eleganz und poetischen Wärme. Der langsame Satz berührt durch seine feine, warmherzige Empfindsamkeit. Das ist einfach wunderbar! Ein Glücksgriff ist auch, dass Freire die heute nahezu vergessenen Kadenzen von Camille Saint-Saëns spielt, die in ihrer Ausdehnung und ihrem musikalischen Gewicht eine eigenständige Komposition in der Komposition sind, eine Auseinandersetzung des Virtuoesen-Komponisten Saint-Saëns mit Beethoven. Beethovens vielleicht „romantischstes“ Klavierkonzert spiegelt sich so im spätromantischen Geist. Gerade auch das macht diese Aufnahme zu einer herausragenden. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Freires lebenslange Freundin Martha Argerich, die Beethovens "mystisches" 4. Konzert ganz besonders liebt und sich genau deshalb bis heute nicht traut, es selbst aufzuführen, diese Freire-Aufnahme sehr mögen wird. Auch das Jahrzehnte bei DECCA später aufgenommene Andante favori ist ein wirklicher Hörgenuss. Jussi Björlings Stimme singe wie „unvergossene Tränen“, meinte einst ein Kritiker. Hier kann man Dominic Fyfe in seiner Bewunderung für Freires einzigartig berührendem Vortrag der Mélodie von Gluck/Sgambati nur beipflichten und ergänzen: Unvergossene Tränen traurig-schöner Erinnerung schmeicheln hier unseren Ohren. Nelson Freire liebte dieses Stück ganz besonders. In einem Video-Mitschnitt legt Freire eine Schallplatte seiner Lehrerin Guiomar Novaes auf, die eben dieses Stück gerne spielte. Kurios: Der Übersetzer aus dem Englischen macht aus der bedeutenden brasilianischen Pianistin (ihre unvergleichlich rhythmisch-nuanciert gespielten Chopin-Nocturnes sollte man gehört haben!), an die sich heute offenbar kaum noch Jemand erinnert und die er offenbar nicht kannte, einen „Pianisten“, also einen Mann! Ich freue mich schon darauf, meine Entdeckungsreise dieser Freire-Memories demnächst fortzusetzen.


  • Manche CDs kauft man nach dem Motto: „… das könnte interessant sein!“ So geschehen im Falle von Janine Jansens Album 12 Stradivari. Einmal habe ich eine „Schwäche“ für das Duo Klavier und Violine – oh Verzeihung, lieber Leser, als närrischer Liebhaber des Klaviers habe ich unhöflich gegenüber der Geigenspielerin mein Lieblingsinstrument doch glatt zuerst genannt! Deshalb entschuldige ich mich auch gleich mit der folgenden Anekdote, die Artur Rubinstein mit dem ihm eigenen Humor erzählt. Für Beethoven spielte im Klaviertrio nicht etwa die Violine, sondern das Klavier die „erste Geige“. Denn die Bezeichnung des Komponisten lautet „Trio für Klavier, Violine und Violoncello“. Rubinstein, Heifetz und Piatigorsky bildeten ein berühmtes Trio, das man damals auch das „Million Dollar-Trio“ nannte. Jascha Heifetz war – so Artur Rubinstein – ein bisschen eitel. Auf einem Pausen-Spaziergang während der Aufnahmesitzungen meinte er zu Rubinstein, es sei doch sehr ungerecht, dass immer er, Rubinstein, der Pianist, auf dem Plattencover zuerst geschrieben stehe. Das sei „undemokratisch“ – warum könne nicht einmal er, Heifetz, oder dann auch mal Freund Piatigorsky als Erster genannt werden? Rubinstein blieb aber stur und standfest und verwies sachverständig auf Beethovens Notentext: „Das ist nicht ungerecht. Da steht Schwarz auf Weiß über den Noten: Trio für Klavier, Violine und Violoncello - und deshalb muss es auch immer genau so heißen: Rubinstein, Heifetz, Piatigorsky.“ Heifetz stellte Rubinsteins Antwort aber nicht zufrieden. Er nörgelte weiter. Da platzte Rubinstein schließlich der Kragen: „Weißt Du, Heifetz, selbst wenn an Deiner Stelle Gott höchstpersönlich die Violine spielen würde, stände nachher auf dem Plattencover: Rubinstein. Gott, Piatigorsky“. Aber kommen wir zurück zu Janine Jansen. Der zweite Grund, warum ich diese CD in meine Sammlung eingefügt habe ist die Geigerin, über die ich immer wieder Lobeshymnen las, aber keine CD von ihr besessen hatte. Und schließlich faszinierte mich das Programm. Itzhak Perlman nahm seine Bach-Platte auf seinen zwei verschiedenen Geigen auf, einer Guarneri und einer Stradivari. Ein sehr reizvoller Vergleich. Und hier sind es gleich zwölf verschiedene Stradivaris!


    Stradivari-Geigen sind bis heute „Kult“ und man fragt sich natürlich, wie es möglich war, für diese Aufnahme gleich zwölf dieser „Wundergeigen“ zusammenzubekommen. Die Antwort gibt das Nachwort, das unterschrieben ist mit: Steven Smith J&A Beare Ltd. Die New York Times bezeichnete Charles Beare einmal als „weltweit angesehensten Geigenhändler“. Die Familie Beare handelt mit Geigen seit mehr als 150 Jahren – die Geschichte des Familienunternehmens Beare ist hier nachzulesen:


    https://www.corilon.com/biblio…tise-im-wandel-der-zeiten


    Das von John Beare 1865 gegründete Unternehmen hat sich immer wieder verzweigt, zuletzt fusionierte es 1998 mit „Morris and Smith“:


    „1998 begann das jüngste Kapitel in der Geschichte von „Beares“, als sich das Traditionsunternehmen mit dem Londoner Streichinstrumentenhändler „Morris and Smith“; vereinigte, um fortan unter der Marke „J & A Beare“ aufzutreten. Facettenreicher Sachverstand zeichnet die neue Geschäftsführung aus, die in dem Cellisten Simon Morris, dem Violinisten Steven Smith und der ehemaligen Christie´s-Direktorin Frances Gillham besteht – und in Charles Beare und seinem Sohn Peter, als jüngstem Beare bei Beares, der seine Kunst an der Geigenbauschule von Salt Lake City erlernt hat. Nach seiner Rückkehr in die familiäre Werkstatt arbeitete Peter Beare als Restaurateur, um seine Kenntnisse später durch Aufenthalte bei Etienne Vatelot in Paris, Premysl und Jan Spidlen in Prag und bei Carl Becker in Chicago zu vervollkommnen. Ein Schwerpunkt in der Arbeit von Peter Beare ist der Bau neuer Instrumente, der seit den späten 1980er Jahren unter der Mitarbeit von Christoph Götting wieder ein wichtiger Arbeitsbereich bei J & A Beare geworden war.“


    Steven Smith hat dieses Album wohl initiiert – im Zusammenhang mit einer „sechsbändigen Stradivari-Sammlung“, die er als „ultimative Stradivari Ikonographie” bezeichnet mit dazugehörigem Dokumentarfilm. Antonio Stradivari erreichte ein für die Barockzeit biblisches Alter von 93 Jahren. In seiner Werkstatt in Cremona wurden etwa 1200 Geigen hergestellt – von denen sich etwa 700 erhalten haben. Die berühmtesten Instrumente tragen die Namen der großen Violinisten, die sie spielten. Hier in dieser Aufnahme verwendet Janine Jansen u.a. die Stradivaris von Fritz Kreisler, Ida Haendel und Nathan Milstein. Ihr Instrument ist seit 2016 die Stradivari „Rivaz, Baron Gutmann“ von 1707.


    Diese CD ist wahrlich ein „Ohrenschmaus“ – gerade unter dem Kopfhörer. Die aus einer Musikerfamilie aus Utrecht stammende Janine Jansen wählte zunächst wie ihr Bruder das Cello als ihr Instrument. Und dies merkt man – ein Mstislav Rostropovich z.B. mochte den etwas gläsernen und in den Höhen schrillen Geigenklang nicht. Janine Jansens sehr sinnlicher Geigenton klingt so sonor und warm, als würde ihr Bogen nicht über die Saiten einer Violine, sondern die eines Violoncello streichen. Sehr klug hat sie das jeweilige Instrument für das spezielle Musikstück ausgewählt – die klangliche Verwandtschaft der Stradivaris ist natürlich gegeben, aber auch die Unterschiede sind deutlich hörbar – die Instrumente klingen mal heller, mal dunkler, mal schlanker oder voller im Ton. Janine Jansen ist eine Geigerin, die mit ihrem Instrument wahrlich „verwachsen“ ist. Ein Klavier ist und bleibt ein mechanisches Instrument, das für den Spieler in gewissem Sinne immer ein Fremdkörper bleibt. Emil Gilels meinte deshalb einmal, der Flügel sei für den Pianisten ein Koloss, den er sich erst unterwerfen müsse. „Geigerischer“ als Janine Jansen kann man wohl kaum spielen – sie lässt ihr Instrument so lebendig und intim „singen“, als wäre es die Stimme eine Operndiva, die aus ihrer Brust heraustönt, mit einer kaum glaublichen Ausdruckspalette und unerhörten Nuancen, feinen und feinsten Schwellungen des Tones bis ins äußerste Pianissimo. Und dazu passt auch das Programm – es werden geigerische „Delikatessen“ präsentiert, wie man sie im Konzertsaal als Zugabenstücke vorgeführt bekommt, als „süßen Nachtisch“ zum musikalischen Hauptgericht gleichsam. Das Tolle dabei ist: All dies wirkt keineswegs kitschig-sentimental – man genießt geigerische Präziosen, mit flexibelster Empfindsamkeit gespielt. Hier passt alles zusammen: Das Album hat letztlich den Sinn, dass nicht das Instrument die Stücke, sondern die Stücke das Instrument präsentieren, die Violine und was sie kann als Instrument – mit den Gipfeln der Geigenbaukunst, den wunderbaren Stradivaris. Fritz Kreislers Instrument eröffnet das Programm – mit zweien von Fritz Kreislers viel gespielten Arrangements. Es folgen die bei einer solchen Programmzusammenstellung zu erwarteten „Appetithäppchen“ – nicht also das ganze Werk von Robert und Clara Schumann, sondern das, was sich empfindsam vortragen lässt: die langsamen Sätze. Dabei sorgt Janine Jansen für Abwechslung – zu viel gleichförmige Sentimentalität drohte in seiner Versammlung eintönig zu werden – mit einem Gang durch die Epochen und verschiedenen musikalischen Stile, der geschickten Mischung von Unterhaltsamem und Ernstem, von Romantischem, Spätromantischem mit Modernem: Kreisler, Vieuxtemps, Tschaikowsky und Rachmaninow sind bei einem solchen Recital erwartbar, aber nicht unbedingt Ravels Vocalise oder Szymanowskis spekulativ-phantasievolle Mythes. Eine Entdeckung ist für mich der „Seufzer“, Sospiri op. 70, ein Arrangement für Violine und Klavier, von Edvard Elgar – ein tief empfundenes und das Gemüt bewegende Stück.


    Zum Schluss sei die Frage gestattet: Gibt es zu dieser wunderschönen CD auch kritische Töne anzumerken? Ja, aber auch nur vielleicht. Janine Jansen ist vom Typ der ausdrucksstarken, hoch empfindsamen virtuosen Geigerinnen. Eine Ginette Neveu spielt Ravels melancholische Habanera-Vocalise ebenfalls hoch expressiv, aber deutlich herber, mit der gewissen iberischen Trockenheit, die zu dieser Musik gehört, die eben doch etwas Anders ist als nur weiche – um nicht zu sagen weichliche – empfindsame Romantik. Und auch ein Nathan Milstein, dessen Stradivari Janine Jansen vorführt, hätte den Schumann sicher formstrenger und im Ton gefasster vorgetragen. Aber das schmälert das Glück und die Freude, der schönen Musik auf dieser CD unter dem Kopfhörer zu lauschen, in keiner Weise.


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  • Wiederbegegnung


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    Die Düsseldorfer Musikbücherei (Teil der Stadtbücherei) war für mich als Jungstudent wie für viele andere Studenten oder selbst nur Musikinteressierte auch ein wahrer Glücksfall. Zu einer großen Bücher- und Notensammlung – die oft auch die Universitätsbibliothek nicht bieten konnte – kam vor allem die Abteilung mit ausleihbaren Schallplatten (später dann CDs). Die Platten nahm man sich nach Hause und überspielte sie mit dem Cassettenrecorder auf eine Musi-Cassette. Darunter war damals die Platte der Brahms-Klaviersonaten Nr. 1 und Nr. 2 des jungen Krystian Zimerman. Die Aufnahme beeindruckte mich ähnlich wie Pollinis erste Schubert-Platte mit der Wanderer-Fantasie und der Sonate a-moll als ein Ideal von vollendet schönem Klavierspiel. Keine andere Aufnahme – Claudio Arrau nicht und Svjatoslav Richter nicht – hat mich jemals so einnehmen können wie diese Einspielung von Zimerman. Gerne hätte ich auch die CD gehabt – aber sie erschien einfach nicht. Da mein Cassettendeck längst nicht mehr spielbar ist, konnte ich über die Aufnahme nicht mehr verfügen. Es blieb die wehmütige Erinnerung an eine gleichsam „über“-schöne Aufnahme. Man kennt inzwischen die Skrupel von Zimerman, das, was ihm aus seinen frühen Zeiten nicht mehr gut genug scheint, einfach nicht mehr zu veröffentlichen oder gar nicht erst zu veröffentlichen. So nahm er u.a. Schuberts Sonate B-Dur D 960 auf – um sie dann dem Vergessen anheimzugeben und nach Jahrzehnten erneut aufzunehmen.


    Dankbar bin ich deshalb, diese Aufnahmen nun wenigstens als mp3-Dateien verfügbar zu haben. Und die Wiederbegegnung bestätigt meine Begeisterung von damals. Krystian Zimermans unglaubliche pianistische Souveränität bewältigt diese wuchtigen Brahms-Sonaten-Bauwerke mit einer Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit, so, als dirigiere hier ein Dirigent sein Orchester. Da ist alles perfekt ausbalanciert: Dieser Brahms hat Wucht und Gewicht, ohne jemals schwerfällig zu wirken, die Musik hat durchaus Schumannsche Lebendigkeit bei Zimerman, ohne aber ins vordergründige Stürmen und Drängen abzugleiten. Zimerman versteht es, Brahms seine seriöse romantische Klassizität zu belassen mit dem Formsinn und der Übersicht über das Ganze eines Wanderers über dem Nebelmeer: Musik als romantische Schau auf ein Universum. Die gewisse Schwermut und grüblerische Tiefe ist da, aber vorgetragen ohne aufgesetztes Expressivo mit dieser gewissen jugendlichen Leichtigkeit, die aber niemals leichtsinnig wird, sondern die Brahmssche Strenge wahrt. Und dann ist da noch der unglaubliche Klangsinn in den „mystischen“ Sehnsuchts-Passagen im Pianissimo. Einfach nur bewundernswert! Eine der wenigen Interpretationen, die es verdienen, „ideal“ genannt zu werden. Ob Krystian der DGG doch noch einmal die Erlaubnis gibt, dieses Ereignis aus früheren Tagen zu veröffentlichen?



    Wie nicht anders zu erwarten ist natürlich auch sein Szymanowski überragend gespielt. Das Zustandekommen dieser CD-Veröffentlichung ist typisch Zimermann: Es ist die Vervollständigung eines Programms, was er vor drei (!) Jahrzehnten begonnen hatte, aufzunehmen. Die Zusammenstellung enthält ganz frühe Kompositionen Szymanowskis, wo der große Einfluss von Scriabin überdeutlich ist. Szymanowski ist ein Komponist, den ich am ehesten mit dem Bulgaren Pancho Vladigerov vergleichen würde, der anders als Strawinsky, Prokofieff oder Rachmaninow nicht über eine eigene, homogene Musiksprache verfügt, sondern sehr heterogen diverse Einflussquellen der Musik des 20. Jhd. verarbeitet und ihr dabei eine sehr eigene Note hinzufügt. Sehr lesenswert ist auch der Klappentext, wo Zimermans enge Beziehung zu Artur Rubinstein deutlich wird. Er habe zuerst „Todesangst“ gehabt, als er ihm vorspielen musste, bevor er sich dann mit ihm befreundete und ihn regelmäßig aufsuchte. Erst heute verstehe er richtig vieles von dem, was Rubinstein damals zu ihm sagte. Seine Begeisterung für Szymanowski verdankt Zimerman Artur Rubinstein, der Szymanowskis enger Freund war.


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  • Perlemuters Strukturalismus



    Müsste ich mich selber karrikieren, würde ich mich wohl als "Klavier-Verrückten" portraitieren, eingeschlossen in einer Bibliothek nur mit Klaviernoten und umringt von Klavieraufnahmen. Als ich in meiner Jugend begann, selber Schallplatten zu sammeln, war es zunächst ausschließlich Klavierliteratur - später erst erschloss ich mir nach und nach das Orchesterrepertoire. :D So gehört es zu den Merkwürdigkeiten meiner Biographie, dass ich viel zu lange von einem der bedeutendsten französischen Pianisten so gut wie gar keine Notiz nahm: Vlado Perlemuter. Ich entdeckte ihn erst sehr spät, nachdem ich u.a. ein Filmportrait des ungemein sympathischen Pianisten gesehen hatte, der das biblische Alter von 98 Jahren erreichte. Heute gehört er zu meinen "Lieblingspianisten"! Perlemuter, 1904 in Kowno in Litauen geboren, das damals noch zu Russland gehörte, stammt eigentlich aus einer jüdisch-polnischen Familie, die vor den Pogromen im russischen Zarenreich nach Frankreich floh. In Paris wuchs Vlado Perlemuter auf und erfuhr dort seine künstlerische Prägung, freundete sich mit Maurice Ravel an und war der erste Pianist, der Ravels Klavierwerk komplett spielte und aufführte.


    Und noch eine Vorgeschichte: Vor nicht langer Zeit fand in unser Münsteraner Wohnung eine Seminarsitzung mit Studenten statt. Ich selbst war an dem Abend nicht anwesend. Sie wollten Chopin hören. Also griffen sie mehr oder weniger wahllos in meine Klaviersammlung und fischten diese Perlemuter-Box heraus:



    Daraus hörten sie die Aufnahme mit den 4 Balladen - und das gleich dreimal hintereinander, weil es ihnen so ausgezeichnet gefiel! Perlemuters Chopin ist auch wirklich ganz ausgezeichnet - er hat den für Chopin so wichtigen Sinn für die "Linie" und die heute leider nicht mehr selbstverständliche polnische Eleganz, spielt die Dramatik heraus, aber immer gelassen und entspannt, ohne jegliche rhetorische Übertreibung mit der französischen Haltung dezenter Andeutung. Das ist wunderbar!


    Das Klavierwerk von Gabriel Fauré habe ich mit den sehr schönen EMI-Aufnahmen von Jean-Philippe Collard für mich entdeckt:


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    Collard spielt Gabriel Fauré so, wie Maurice Ravel seinen Lehrer beschrieb, als den Komponisten, der im Anschluss an Gounod die koloristische Sinnlichkeit und die "Melodie" in der französischen Musik wiederherstellte:


    "Man könnte die Bedeutung Faurés besser ermessen, wenn man seine Gesangstücke studieren würde, die der französischen Musik im Bereich des >Liedes< den Vorrang gewannen. Fauré gab die Strenge seines Lehrers Saint-Saëns auf und fühlte sich mehr zu der charakteristischen Farbengebung Gounods hingezogen ... Gounod war der wahre Wiederhersteller der Melodie in Frankreich, er, der das Geheimnis einer harmonischen Sinnlichkeit wiedergefunden hatte, das seit den Clavecinisten des 17. und 18. Jahrhunderts verlorengegangen war."


    (Maurice Ravel, 1923)


    Collards Einspielungen haben deshalb eine gewisse Glätte - er spielt Faurés Musik doch eher melodielastig und immer sehr flüssig stromlinienförmig und deshalb auch weniger satztechnisch strukturiert. Da dachte ich mir: Dieses "Manko" könnte Vlado Perlemuter beheben! Im Kopf hatte ich da Perlemuters Ravel-Offenbarung bei dem nur 2 Minuten kurzen Stückchen Menuet sur le nom d´Haydn. So klar und zwingend wie Perlemuter hier die Kontrapunktik herausspielt denkt man, wie es wirklich in nur ganz wenigen Fällen der Fall ist: So und nicht anders muss es eigentlich sein!



    Also fügte ich meiner Sammlung Perlemuters Fauré-CD hinzu. Und die Hörprobe unter dem Kopfhörer erfüllt meine Erwartungen voll und ganz: Vlado Perlemuter gelingt es, die perfekte Balance zwischen melodischer Sinnlichkeit und struktureller Durchzeichnung herzustellen. Auch bei Fauré muss ich nun die französische clarté nicht mehr vermissen. Exemplarisch!


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  • Der bei uns in Westeuropa bekannteste brasilianische Pianist ist zweifellos Nelson Freire. Die Brasilianerin Guiomar Novaes (1896-1979) dagegen ist in unseren Breiten (auf dem amerikanischen Kontinent ist es wohl anders) so etwas wie ein Geheimtip für Kenner geblieben. Sie hat nie Schüler unterrichtet - Nelson Freire nahm lediglich einige Stunden bei ihr. Die verdienstvolle Edition des auf das Remastering von historischen Aufnahmen spezialisierten Labels apr belegt, dass Novaes, das 17. (!) von 19 Kindern, eine wirklich große Pianistin war. Ihre Virtuosität ist beeindruckend. Sie hat diesen gewissen göttlich-schwerelosen, völlig mühelosen Anschlag in den rasenden Läufen, den nur wenige Begnadete unter den Pianisten vorweisen können. Hier, in ihren frühen Aufnahmen, spielt sie viel spätromantische Virtuosenstücke, dazu Scarlatti, Chopin, Liszt und Villa Lobos. Für unsere heutigen Hörgewohnheiten und Konzertprogramme sind die Virtuosenstücke und Bearbeitungen der alten Virtuosen, die noch von Traditionen des 19. Jhd. geprägt wurden, eher ein Repertoire von gestern. Aber gerade hier zeigt Guiomar Novaes, dass sie eine moderne Pianistin ist. Ihr Spiel ist von einer eindruckensvollen Natürlichkeit und Geradlinigkeit, frei von jeglicher Sentimentalität und rhetorischen Übertreibungen oder gar Manierismen. Ihre absolute Geschmackssicherheit erinnert an Jorge Bolet, ihr Stil ist aber irdischer und vielleicht etwas nüchterner auch als die Noblesse des deutlich jüngeren, großen Klavierästheten aus Kuba. Beeindruckend! Meine primäre Noaves-Empfehlung bleiben aber Chopins Nocturnes - ihre VOX-Einspielung aus späteren Zeiten. Ich kenne keine andere Aufnahme, welche so die komplexen rhythmischen Strukturen aus Chopins Klangstücken heraushört, wo die Interpretin also nicht nur im Belcanto badet oder die Nocturnes biedermeierlich-gemütlich zu Klischeebildern von Stimmungsromantik verharmlosen würde:


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    Dass Alexis Weissenberg Chopins Nocturnes als Abziehbildchen für´s romantische Poesiealbum behandeln würde, ist wahrlich nicht zu erwarten. Merkwürdiger Weise ist seine etwas unorthodoxe EMI-Aufnahme der Nocturnes - sie wählt eine sehr persönliche Reihenfolge, beginnend mit Nocturne Nr. 5 - nur (zum Glück!) als Japan-Import über jpc zu bekommen:



    Weissenberg startet mit dem Nocturne Nr. 5 und versetzt mich gleich in Begeisterung: Er hangelt sich nicht etwa schwelgerisch an den Kantilenen entlang, sondern offenbart die komplexe Textur der Musik - vielschichtige Lyrik, die in der Art einer kleinen Ballade ins Dramatische kippt (im Sinne von griech. metabole, des Umschlags von etwas in sein Gegenteil) - um sich wieder im Lyrischen zu beruhigen. Inzwischen habe ich diese Weissenberg-Offenbarung schon drei oder viermal gehört! Aber insgesamt hinterlässt Weissenbergs Aufnahme doch einen zwiespältigen Eindruck. Ich weiß nicht, woran es liegt - vielleicht, dass der "Weltmann" Weissenberg jegliche irgendwie artige Salonhaftigkeit bei Chopin vermeiden wollte? Manchmal vergreift sich der Meister im Ton, wird im Forte zu großmännisch mächtig, was seinen überragenden lyrischen Fähigkeiten freilich keinen Abbruch tut (Weissenberg ist ein ganz großartiger Lyriker!), aber so eben auch ein Stilbruch ist. Chopin ohne Einheit des Stils - das geht einfach nicht! Auch ist mir etwa der Beginn des späten, Liszt nahen Oktaven-Nocturnes op. 48 Nr. 1 in dieser Studioaufnahme etwas zu statuarisch, zu "russisch getragen", so dass dann auch die dynamisch-dramatische Entwicklung nicht so zwingend herauskommt. Das ist ihm dagegen im Konzert - deutlich flüssiger gespielt - wirklich wunderbar gelungen. Eindrucksvoll nachzuvollziehen ist das bei seinem Schwetzinger Chopin-Abend von 1972, eine Weisenberg-Sternstunde, die zum Glück aufgezeichnet wurde und auch als CD zu haben ist, wo neben der Klaviersonate Nr. 3 und der Polonaise-Fantasie auch einige Nocturnes zu hören sind:



    Und nun zum Schluss weg vom Klavier etwas Symphonisches. Vaclav Neumann war von 1964-68 Chefdirigent des Gewandhausorchesters in Leipzig. Aus Protest gegen den Einmarsch der Russen 1968 in Prag kündigte er dort und wurde zum Leiter der Tschechischen Philharmonie. Aus seiner Leipziger Zeit stammt diese Aufnahme von Smetanas Zyklus "Mein Vaterland" - tatsächlich im Deluxe-Samtschuber wie in der Werbung ^^ :



    Bei mir standen Smetanas Symphonische Dichtungen (mit Ausnahme - ja... ^^ - der populären "Moldau") eigentlich immer im Schatten derjenigen von Dvorak - für mich Juwelen der Orchesterliteratur und der Gattung. Neumanns völlig uneitles Dirigat ohne Übertreibungen lässt jedenfalls den Abstand nun doch etwas geringer werden. Überraschend ist der poetisch-warme und schlanke Klang des Gewandhausorchesters dem der Tschechischen Philharmonie sehr ähnlich - hier ist, Mitte der 1960iger Jahre, wohl doch noch die altdeutsche Orchestertradition des 19. Jhd. präsent. Eine sehr empfehlenswerte CD!


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    https://de.wikipedia.org/wiki/Wigmore_Hall



    Die schöne Wigmore Hall in London, die ursprünglich Bechstein Hall hieß, wurde 1901 von Bechstein errichtet, um der Konkurrenz von Steinway mit ihren erfolgreichen Konzerten in den Steinway Halls Paroli zu bieten. Der damals schon 82jährige beim Publikum ungemein beliebte Shura Cherkassky gab am 29. Oktober 1993 dort einen - man kann es nicht anders sagen - wirklich himmlischen Konzertabend, mit dem allein er sich einen Platz im Pianistenolymp für die Ewigkeit gesichert haben könnte. Die Gavotte variée von Rameau gleich zu Beginn verzaubert den Zuhörer mit einer überirdischen Schönheit. Cherkasskys Klavierspiel ist von einer Leichtigkeit, Natürlichkeit und einnehmenden Schönheit, die dabei immer unverkrampft und quasi intuitiv beiläufig den Wesenskern der Musik trifft, so dass die Musik einfach nur Musik ist, sich verwandelt von einem "Etwas", das ein Musiker vorträgt, in eine lebendige Erscheinung, die im Augenblick der Darbietung entsteht. Cherkassky hat alles: musikalische Kompetenz und Geschmackssicherheit - nur braucht er seinen Sachverstand nicht auf dem Silbertablett der Belehrung zu präsentieren. Die Musik spricht für sich selbst. Und er zeigt hier seine große Aufnahmebereitschaft auch für die Musik des 20. Jhd. Lennox Berkeley war Schüler von Nadia Boulanger in Paris - man hört es. Die Stücke sind wirklich eine Entdeckung wert! Besonders beeindruckt hat mich auch das Chopin Nocturne op. 48 Nr. 2, das Cherkassky so beseelt intim vorträgt mit einem zartfühlenden tiefen Schmerz, dass einem fast die Tränen kommen.


    Über seine Interpretation von Liszts Ungarischer Rhapsodie Nr. 2 werde ich in meinem speziellen Thread noch berichten.


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  • Rachmaninows 150. Geburtstag am 1. April


    Ein Aprilscherz? Das Tamino-Forum würdigt zu diesem Datum Karl May, den bekannten und beliebten Verfasser von Unterhaltungsliteratur, mit der interessanten Erwähnung, dass er auch Komponist war. Soso! Karl May statt Rachmaninow? ^^ Rachmaninow, der Komponist, hat noch nicht einmal einen eigenen Thread! Immerhin wurde in der Rubrik über Pressemitteilungen auf den lesenswerten FAZ-Artikel von Jan Brachmann verwiesen:


    https://www.faz.net/aktuell/fe…-geburtstag-18787949.html


    Ich habe die bis zur Gehässigkeit - gerade bei Intellektuellen - gehende Verachtung von Rachmaninow nie geteilt und bekenne mich gerne als großer Liebhaber nicht nur des Pianisten Rachmaninow und Komponisten von für mich zum musikalisch Lebensnotwendigen gehörender Klaviermusik, sondern gerade auch des Sinfonikers Rachmaninow. Große Verdienste hat sich hier Vladimir Ashkenazy erworben. Seine Aufnahmen der symphonischen Werke mit dem Concertgebouw Orkest bleiben exemplarisch. Bevor er sich vom Konzertleben zurückzog, gab er eine Rachmaninow-Konzertreihe mit dem Philharmonia Orchestra, dessen Ermunterung er seine Karriere als Dirigent mit verdankt und dessen Ehrendirigent er ist. Ashkenazy war bekannt für mitreißende Konzerte. Dieser 2018 erschienene Mitschnitt der Symphonie Nr. 3 und der Symphonischen Tänze übertrifft die alte Aufnahme mit dem KCO finde ich deutlich. Das Orchester spielt mit hingebungsvoller Eindringlichkeit und Liebe zum Detail. Vor allem kommt da dieser "schwelgerische" Zug bei Rachmaninow zur Geltung, die gewisse Sättigung und Reife des Ausdrucks eines ganzen Lebens, wogegen die Amsterdamer Aufnahme (Symphonie Nr. 3) doch etwas burschikos und jugendlich unbedarft wirkt. Authentischer kann man Rachmaninow wohl nicht interpretieren!



    Für die Aufnahme von Rachmaninows Transkriptionen ließ sich Ashkenazy, wie er selbst verriet, über zwei Jahre Zeit. Herausgekommen ist eine bemerkenswerte Einspielung, welche die Stilsicherheit des Komponisten zeigt und die Fähigkeit, die Transkriptionen wie originäre Klavierstücke klingen zu lassen und nicht bloß "Übertragungen" von etwas. Bei den Stücken für Klavier zu vier und sechs Händen spielen Sohn Vovka und Ehefrau Dody mit. Klaviermusik für mehr als zwei Hände hat die Schwäche, dass es doch oft "klappert", in der Verdopplung das Mechanische des Klaviers zum Vorschein kommt. Bei Rachmaninos Stücken für zwei Klaviere hat mir immer sehr gefallen, dass es Rachmaninow gelingt, die Stimmen so zu verteilen, als höre man ein Klavierstück für zwei Hände. So auch hier zu hören:


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    Russische Ostern


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    Die russisch-orthodoxe Tradition spielt bei Rachmaninow eine große Rolle. Am Ende der ersten Suite für zwei Klaviere gibt es ein wahres Glockenfest: russische Ostern (nach dem orthodoxen Kalender erst nächste Woche ;) ). Für mich bis heute die Referenz - eine Aufnahme, wo alles stimmt: Ashkenazy mit Previn - die Idiomatik, das Zusammenspiel, die vorzügliche Aufnahmetechnik.


    Und zum Schluss eine immer noch exemplarische Aufnahme - "Zwielicht" und den "Flieder" (Lilacs), das Lied zur Liedtranskription:


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  • Vaclav Neumanns Schatten



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    So funktioniert leider der Musik-Betrieb: Internationale Aufmerksamkeit erlangt ein Orchester, wenn es sich aus dem Pool der Welt-Stars Jemanden angelt, sprich: einen namhaften Dirigenten verpflichtet. Die Tschechische Philharmonie ist ein wunderbarer Klangkörper mit unverwechselbarem Klang und ein wirkliches Mahler-Orchester mit Tradition - sie haben die 7. Symphonie uraufgeführt. Aber die beste Leistung nutzt einem Orchester letztlich nichts, wenn da Niemand am Pult steht, der das Orchester durch seinen allbekannten Namen auch verkaufen kann. In Prag hat man das auch begriffen, als man einst Vladimir Ashkenazy holte. Doch die Zusammenarbeit scheiterte schon bald - wie Ashkenazy einmal in einem Interview verriert - an unüberbrückbaren Mentalitätsunterschieden. Nun hat man Semyon Bychkov zum Chef gewählt und mit dem Beginn der Aufnahme eines Mahler-Zyklus hat man sie, die Aufmerksamkeit auch im "Westen".


    Jeder, der in Prag versucht, Mahler zu dirigieren und aufzunehmen, hat allerdings ein Problem: Vaclav Neumann, der ein wirklich großer Mahler-Dirigent war und Maßstäbe gesetzt hat, die nach ihm - wie ich finde - Niemand mehr mit diesem Orchester erreicht hat. Ich war also gespannt auf Bychkovs Aufnahme der 5. Auch hier zeigt sich einmal mehr insbesondere bei Mahler, dass es die Tschechische Philharmonie mit ihrer Spieltradition ist, welche dem Dirigenten die Richtung vorgibt. Den Trauermarsch spielen die Tschechen nicht schwer lastend und sentimental aufgeladen, sondern mit souveräner Leichtigkeit, idiomatischer Treffsicherheit, rhythmischer Präzision und poetischer Wärme - die berühmte Mahlersche "Deutlichkeit", die sie einfach haben, eingeschlossen. Dieser Mahler ist geradezu "Anti-Bernstein". Semyon Bychkov zeigt sich hier als kluger Orchesterleiter, indem er gar nicht erst versucht, gegen diese Spieltradition anzudirigieren und dem Orchester eine Sicht aufzuzwingen, welche nicht die ihre ist. Nur reicht es natürlich nicht, die Tschechische Philharmonie nur "ihren" Mahler spielen zu lassen. Da muss ein Dirigent mit Profil - die Konkurrenz ist erdrückend - letztlich auch Profil zeigen. Und dies tut Bychkov mit seiner Umsicht und Detailarbeit. Nur leider berührt mich sein "Trauermarsch" nicht. Sehr sorgfältig gearbeitet ist das - aber mehr nicht.


    Also habe ich mir im Anschluss Vaclav Neumann angehört - seine letzte Aufnahme von 1993, zwei Jahre vor seinem Tod. (Seinen zweiten Mahler-Zyklus in Prag konnte er leider nicht vollenden, es fehlen die 7. und 8. Symphonie.) Neumann war ein sympathisch-bescheidener Musiker, der sich nie in den Vordergrund spielte. Rhetorisierungen, subjektivistische Aufladungen, um Aufmerksamkeit zu erhaschen, waren ihm fremd. Aber er wusste sehr genau um die Stärken seines Orchesters und hatte bei aller "Objektivität" Sinn für Mahlers Subjektivität. Das zeigt sich gleich zu Beginn beim Trompetensolo. Auf Mahlers Orchester trifft Georg Simmels Satz zu, dass das Vergesellschaftetsein und Nicht-Verrgesellschaftetsein immer zusammengehören. Es gibt den integralen Orchesterapparat bei Mahler, aber auch die individualistischen Vereinzelungen gerade bei den Bläsern, wo das Solo zum Ausdruck subjektiver Freiheit des Gestaltens wird. Bei Semion Bychkov könnte die Solo-Trompete auch in einem Ravel-Orchester spielen, bei Neumann (hier spielt wohl der damalige Solotrompeter der Tschechischen Philharmonie, Miroslav Kejmar), wird aus dieser Eröffnung eine Apotheose subjektiver Freiheit - das Rubato des Blasens als subjektives Selbstbekenntnis des Individuums in seinem Weltschmerz. Damit ist man sofort in Mahlers Welt. Neumann nimmt diesen Satz im Tempo deutlich zügiger - er ist fast 2 Minuten schneller als Bychkov. Das ist letztlich entscheidend. Denn dadurch wird aus diesem Satz überhaupt erst ein wirkliches Drama, indem ein dramatischer Zug entsteht, das, was Hegel mit Blick auf das Drama das "zügige Fortschreiten zur Endkatastrophe" nannte, die kein "episches Verweilen" duldet. Bei Neumann gibt es entsprechend eine dramatische Finalität, die Höhepunkte und Katastrophen werden auch tatsächlich zu dynamischen Zielpunkten, wo das Grausen und Entsetzen herausbricht. Genau das geht bei Bychkov verloren - der dramatische Zug und die dynamische Zentrierung. So schön das gespielt ist - der Trauermarsch-Satz wirkt bei Bychkov eher belanglos als dass er den Hörer wirklich erschüttern könnte. Man kann natürlich diesen Trauermarsch deutlich langsamer spielen als Neumann. Nur braucht man dann letztlich ein anderes interpretatorisches Konzept. Damit es nicht fade wird, muss die Gemächlichkeit des Trauerzuges mit der Betonung der epischen Charaktäre korrespondieren und die entstehenden Längen bedürfen rhetorischer Nachdrücklichkeit und auch einer gewissen schwelgerischen Sentimentalisierung. Das "Entweder-Oder" gibt es eben auch in der Kunst und insbesondere der der Interpretation! 8-)

  • Gestern war einer der inzwischen bei mir seltenen Momente, wo ich mal ein Stündchen ohne Unterbrechung Musik hören konnte. Das wird sich hoffentlich ändern...


    Bestellt hatte ich mir vom jpc-Label cpo diese beiden Schreker-CDs - worauf ich hier hingewiesen hatte:


    Haben wollen oder nicht haben wollen? - das ist hier die Frage. Angebote und Neuaufnahmen kurz kommentiert




    Ich höre ja nun eher weniger gern Opern von der Tonkonserve - aber hier musste ich mich zwingen, aus Zeitgründen (ich wollte ja noch Anderes hören... :) ), abzuschalten. Diese Opern-Aufnahme aus Chemnitz ist in jeder Hinsicht ganz hervorragend: Frisch und lebendig, dazu sehr sorgfältig im Detail musiziert. Die Sänger sind hervorragend - und die Aufnahmetechnik dazu auch. Mir war, als würde ich eine zweite Aufführung in der Oper erleben. Wenn Chemnitz nicht so weit weg wäre, würde ich das dortige Opernhaus gerne besuchen. Bei nächster Gelegenheit setze ich das Durchhören fort... :) :thumbup:


    Von der CD mit Schrekers frühen Orchesterwerken hörte ich das Intermezzo Nr. 8 - das Werk eines musikalischen Wunderkindes. Sehr schön! Ich werde es garantiert wiederhören! Die Musiker und die Aufnahmetechnik sind ebenfalls hervorragend! Ebenfalls positiv zu vermerken ist der Klappentext - mit einer ausführlichen Information über die Edition von Schrekers Orchesterwerken. Der Kauf hat sich auf jeden Fall gelohnt :) :thumbup:


    Doch vorgenommen hatte ich mir und wirklich gespannt war ich auf Bruce Liu:



    Leider ist diese CD für mich eine ziemliche Enttäuschung! ;( Durch den Ravel habe ich mich verführen lassen, sie zu kaufen. Das hätte ich mir sparen können!


    Warum? Den Rameau kann man sich sehr gut anhören. Aber der Ravel - nein! Wenn man sich mit der Musik - insbesondere der Klaviermusik - von Ravel beschäftigt, sollte man im Kopf haben, wie einst Jean Cocteau Ravels Musik charakterisierte, als eine Art Läuterung des Impressionismus:


    "Musik ohne "sauce"! Das bedeutet: keine Schleier, die Nacktheit der Rhythmen, die Trockenheit der Linie, die Kraft des Einsatzes und die gelehrte Naivität des Tonfalls und der Akkorde."


    Sehr aufschlussreich auch die Charakterisierung von Ravel durch einen weiteren Franzosen, den Philosophen Gabriel Marcel:


    "Ich glaube, dass es sich bei dem Autor von Gaspard de la nuit um eine unvergängliche Liebe zur Präzision handelt und einen angeborenen Widerwillen gegen alles Ungeformte, das verhängnisvoll alle Rhetorik begleitet."


    Bruce Liu ist ohne Frage ein sehr kultivierter Klavierspieler, was einerseits sehr wohltuend ist. Ich erinnere mich an Zeiten, wo die jungen Wettbewerbs-Aspiranten insbesondere auf den Flügel regelrecht eindroschen: je lärmender und kraftstrotzender, um so besser. Für Bruce Liu ist das Klavier dagegen vor allem ein Instrument, was er "schön" zum Klingen bringen will. So weit, so gut. Nur gibt es eben verschiedene Wege zur Schönheit. Der von Bruce Liu ist der Sensualismus. Ihm geht es vor allem darum, ein Klavierstück mit sehr viel Empfindsamkeit in eine wohlige Klangwolke einzuhüllen (er liebt den Hallklang!) und wirklich jedem von den einzelnen Klangereignissen eine besondere Empfindungsqualität zu geben. Genau dieser Pointilismus geht bei Ravel jedoch gehörig schief! Sein Klangbild ist keineswegs undurchsichtig, aber er macht letztlich genau das Gegenteil von dem, was Jean Cocteau so trefflich für Ravel formulierte: Schon beim ersten Stück der "Miroirs", den Nachtfaltern, geht in seiner impressionistisch-empfindsamen Farbenkleckserei die "Linie" verloren. Zudem fällt auf, dass sein Klavierklang wenig akkordisches "Fleisch" hat, doch sehr ausgedünnt wirkt. Dadurch verliert die Musik nicht nur an Substanz, sondern es verschwindet die dunkle Seite der hintergründigen Raserei, die sich bei Ravel hinter der apollinischen, glitzernden impressionistischen Oberfläche verbirgt. Der Ravel, so wie ihn Bruce Liu vorträgt, ist völlig undämonisch. Une barque sur l´ocean - auch hier gibt es bei Liu keine großbogigen Linien, zu denen sich die musikalischen Einzelereignisse zusammenschließen - und der fehlenden Linienführung wegen auch keinen durchlaufenden rhythmischen Puls in den Wellenbewegungen. Zudem verliert das Stück seine Dramatik. Zunächst ist das große Meer lieblich - dann aber tun sich riesige Wellenberge und -täler auf, welche die zerbrechliche Nussschale von einer Barke zu verschlingen drohen. Da kommt in Ravels Meeresstück das Große, Mächtige und Erhabene zum Vorschein, was das Meer in seiner Größe und unendlichen Weite ausmacht und somit schön aber auch in seiner Gewaltigkeit erschreckend schrecklich sein kann. Bei Bruce Liu wird Ravels La Mer letztlich verharmlost zu so etwas wie dem Unterbacher See für Sonntagsausflüger, auf dem Familien mit Kindern mit dem Tretbötchen unterwegs sind. Ravel war der Sohn eines französischen Ingenieurs und einer Mutter, die aus dem Baskenland stammte. Das "Iberische", das Erbe der Mutter, kommt in Alborada del gracioso zum Ausdruck. Dessen spanische Rhythmen sind nun wahrlich hart, trocken und nackt und müssen es sein - haben jene "afrikanische Trockenheit", von der Friedrich Nietzsche mit Blick auf Bizets Carmen sprach. Bei Bruce Liu hören sich die harten und markigen spanischen Rhythmen eher an wie ein elegant-leichter Chopin-Walzer. Keine Tragik, keine Exzentrik, keine Dämonie! Ein leicht hingetupftes impressionistisches Gemälde. Der Narr ist bei Bruce Liu keine tragische Figur, sondern allenfalls ein Luftikus mit dem Leichtsinn des easy comes easy goes. Man höre nur Dinu Lipatti oder den aufregenden BBC-Mitschnitt mit Emil Gilels im Vergleich! Aber all das kann ich irgendwie noch ertragen und sitze ruhig in meinem Stuhl. Doch was dann in Vallee des cloches passiert - da ist meine Gelassenheit schlagartig vorbei. Kopfschütteln und Kopfschütteln bei mir - fast wäre ich "protestierend" aus dem Stuhl hochgefahren! :D So geht es jedenfalls gar nicht! Willkürliche Temporückungen, eine völlig unausgewogene klangliche Balance, das komplette Fehlen einer Dramatrugie in diesem Stück. Danach hörte ich zum Vergleich Svjatoslav Richter in Ludwigsburg 1991:


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    Auch Richter hat nicht den vollen Ton, die Selbstverständlichkeit, perfekte Ausgewogenheit und ideale klangliche Balance von Artur Rubinstein. Er schmuggelt durchaus russisches Expressivo in diese sehr französische Musik ein. Nur versteht es Richter, mit diesem Stück eine "Geschichte" zu erzählen, die verschiedene Kapitel hat, einen Anfang und ein Ende. Die "Kraft des Einsatzes" und der "Widerwille gegen das Ungeformte", von denen Jean Cocteau und Gabriel Marcel sprechen, sie sind bei Richter auch in diesem die Klänge verschmelzenden Glockenstück da, während in Bruce Lius sensualistisch-impressionistischer Konfusion alles irgendwie ineinanderläuft. Richters russische Ausdrucksbeseelung gepaart mit dem Sinn für die Form ist deshalb auf ihre Weise fesselnd und wahrlich ein Hörabenteuer wert.


    Nein, dies wird wohl die erste und letzte CD sein, die von Bruce Liu ihren Weg in meine Sammlung gefunden hat! Dazu auch noch diese modisch-abgeschmackte Masche von heute, Alben mit einem an den Haaren herbeigezogenen Albumtitel wie hier "Waves" an den Mann zu bringen - mit der dann auch nicht befriedigenden, mehr als dürftigen halbzeiligen Rechtfertigung im Klappentext. Ravels "Mirroirs" enthalten nur ein einziges Wasserstück und eine Barcarolle wie die von Alkan bezieht sich zwar auf eine Barke, die übers Wasser fährt, ist aber musikalisch eine Berceuse und gerade kein Wasserstück! Aufnahmetechnisch wenigstens ist das hervorragend! Insgesamt aber ist für mich diese CD :( :thumbdown:


    Danach brauchte ich nun etwas Erhebendes, was mich wieder ruhig im Stuhl sitzen lässt. Und dazu mein Griff - diesmal goldrichtig - zu dieser kürzlich erworbenen CD:



    Adorno als Komponisten kannte ich nur von seiner Orchestertranskription einiger Stücke aus Schumanns Carnaval her, die ich einmal in einem Konzert in der Düsseldorfer Tonhalle hörte. Die Studien für Quartett für Streicher schrieb er als 17jähriger im Jahr 1920. Was für eine frühreife, musikalische Hochbegabung Adorno doch war! Man versteht nun, dass Adorno gegen das Zwanghafte, den Systemzwang des Zwölftonsystems, wettert. Seine Musik hat Ausdruckskraft, nimmt sich die Freiheit zur poetischen Kraft bei aller Sorgfalt formaler Durchgestaltung. Wenn Adorno über Musik schreibt, weiß er also, wovon er spricht. Wer es nicht glaubt, soll sich diese CD (immer noch für nur 7,99 Euro im Sonderangebot zu haben) zu Gemüte führen. Das Leipziger Streichquartett ist zudem ein hochklassiges Ensemble und die Aufnahmetechnik superb! Diese CD werde ich demnächst mit großer Freude weiter hören! :)


    Zum Schluss eine Sternstunde des Liedgesangs - mit Liedern von Ravel und Richard Strauss. Das ist so überragend gesungen, dass selbst ich da fast sentimental werde ^^ :



    Gehört mit meiner Kopfhöreranlage:


    Kopfhörer: Focal Clear

    Kopfhörerverstärker: Lehmann Audio Linear

    CD-Player (verwendet als Zuspiellaufwerk): Marantz CD 80

    DAC: North Star Design Essensio

    Kabel (digital): Audioquest Cinnamon

    Kabel (Cinch): Audioquest Water


  • Dass Francesco Piemontesi ein geborener Liszt-Spieler ist, hat er mit seinen superben Aufnahmen von Années de pèlerinage längst unter Beweis gestellt. Doch das hier, die transzendentalen Etüden, ist sein Meisterstück. Piemontesi ist hier nicht nur der eher lyrische Liszt-Interpret - er zeigt die große Leidenschaft, ohne die man Liszts bisweilen heroische und bis zum Chaotischen und Exzessiven gehende leidenschaftliche Poesie dieser großen Stücke nicht gerecht werden kann. Piemontesi beherrscht einfach alle Register: Er hat die phänomenale, über alle transzendentalen Schwierigkeiten souverän gebietende Spieltechnik, er hat die Poesie, den Klangsinn, das Formbewusstsein, den immer guten Geschmack, eine bis in die letzte Note gehende Sorgfalt. Und Dank seines Lehrers Alfred Brendel wohl weiß er um den literarisch-philosophischen Hintergrund. Weil es eigentlich nie vorkommt, sage ich es: Trotz Cziffra, Arrau, Berman, Bolet usw. usw. ist dies von nun an meine unangefochtene Referenz! Mit dieser Aufnahme hat sich Francesco Piemontesi seinen Platz auf dem Olymp zeitlos-gültiger pianistischer Höhenflüge gesichtert! :):):):):)


    Allerdings aufgepasst: Bei der Aufnahme sind offenbar die Pegel nicht abgeglichen worden und unterschiedlich von Stück zu Stück. Dreht man bei Paysage den Lautstärkeregler nach oben, fallen einem dann beim heftigen Einsatz von Mazeppa die Ohren ab! ^^ Und: Es gibt einen schönen Klappentext von Nike Wagner.

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    Hier muss ich Thomas Pape erst einmal meinen besonderen Dank aussprechen, dass er mir zum Genuss dieses Monique Haas-Höhenfluges verholfen hat! :hail: :hello:


    Ihren Schumann, Mozart und Bach kannte ich gar nicht. Schumanns Kreisleriana - das ist ja wirklich unglaublich gespielt, ihre Synthese aus Klarheit, Poesie, Leidenschaft und sie hat Sinn auch für Schumanns kreislerianische Verrücktheit. Schumann hatte ja die Doppelnatur eines poetisierenden Rationalisten und zugleich romantischen Schwärmers - Monique Haas zeigt ihn genau mit diesen beiden Seiten. Und es gibt wahrlich berückend schöne Stellen in dieser Einspielung, die man noch nie so wunderbar gespielt gehört hat. Für mich ist das eine der besten Aufnahmen! Der Mozart ist von ihr wahrlich kein Schmuse-Mozart - sie spielt ihn mit einer Mischung aus klassischem Formsinn, Feinsinn und Dramatik. Wiederum eine der besten Aufnahmen, die ich kenne. Über ihren Debussy muss man nicht reden. Und Bach höre ich selten so ansprechend klar und zugleich ausdrucksstark. Zum Glück hatte ich heute ein bisschen Zeit zum Hören - es steht noch so vieles bei mir im Regal, was darauf wartet, auch Samson Francois! ;) :) :) :)


  • Es ist eine schöne Gewohnheit von mir, das neue Jahr musikalisch mit dem Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker einzuläuten. Einmal ist es eine wahre Erholung nach den musikalischen Zumutungen der Silvesternacht – ein „Zurück zur Kultur!“ gleichsam. Ja, der Wiener Walzer ist Gebrauchsmusik, „U“-Musik. Aber jede Zeit bekommt die Musik, die sie verdient. Der musikalische Massengeschmack ist heute auf dem Niveau von kasimulisch grölenden Fußballfans angelangt (genau da endete die ZDF-Übertragung aus Berlin nach Mitternacht) – das nahezu völlige Fehlen auch nur von Resten von musikalisch gutem Geschmack ist das, was die Pop-Kultur heute prägt. Dass Unterhaltungsmusik eben nicht notwendig schlechte Musik sein muss, belegt der Wiener Walzer: Tanzmusik, die auch als Konzertstück genossen, und dort mit äußerster musikalischer Sorgfalt und Ernst dargeboten werden kann, ohne ihren Charakter unterhaltsamer Leichtigkeit zu verlieren. Und Christian Thielemann war genau der Richtige für diese Aufgabe. Er wirkte gelöst und locker, wie befreit von allen Zwängen – vielleicht nicht nur, weil er das Neujahrskonzert zum zweitem Mal dirigiert, sondern auch wegen der für ihn glücklichen Berufung als Nachfolger von Barenboim in Berlin (?). Die Chemie zwischen Orchester, Dirigent und Publikum stimmt. Thielemann versteht, dass er bei diesem Anlass nicht den „Pultdiktator“ herauslassen darf, er weiß sehr genau, wann er die Zügel fester anziehen darf und wann er sie loslassen muss. Und er weiß, dass er an diesem Morgen eben auch ein „Unterhalter“ ist. Musikalisch war das einfach in jeder Hinsicht treffsicher. Wenn ich etwas bemäkeln wollte, dann die doch etwas sehr lange Kunstpause im Donauwalzer – so was ist einfach nicht mehr tanzbar – und die etwas verkrampfte Bemühung beim Radetzky-Marsch, das Klatschen des Publikums an den gewohnten Stellen zu unterbinden. Musikalisch ist die Intention zwar verständlich, diese obligatorische Zugaben-Schlussnummer einmal nicht zerklatschen zu lassen, aber solche Gelehrsamkeit dämpft eben auch die ausgelassene Stimmung zum Schluss. Alle Dirigenten haben freilich das Problem, dass man sie – das ist der Fluch sozusagen der verfügbaren Tonträger – an den singulären Darbietungen von Karajan und Carlos Kleiber misst. Man sollte es auch gar nicht erst tun. Aber Thielemann gehört zu den Wenigen, die sich auch vor Karajan und Kleiber nicht verstecken müssen. Es könnte also sein, dass ich mir die CD anschaffe, was ich beim Neujahrskonzert eigentlich nur in exklusiven Ausnahmefällen tue.



    Unter dem Kopfhörer begann für mich das Jahr 2024 mit dem Tschaikowsky-Violinkonzert – in einer neuen Aufnahme meiner Lieblingsgeigerin Lisa Batiashvili. Diese klanglich ausgezeichnete, inzwischen schon vergriffene UHQCD (leider ist der Klappentext nur japanisch, man kann ihn also nicht lesen wie gewohnt, wenn man nicht auch die „normale“ CD besitzt) stand schon länger ungehört in meiner Sammlung. Das Stück ist so etwas wie ein Reißer. Und es ist die ganz große Qualität dieser Aufnahme, dass sie das Tschaikowsky-Violinkonzert nicht als Reißer präsentiert. Da wird die Musik bis in die letzten Winkel ausgehorcht und ihr damit das Gewicht eines großen klassischen Werks gegeben, so wie das beim 1. Klavierkonzert Arrau, Rubinstein oder Lazar Berman können. Lisa Batiashvili hat diese unglaubliche Souveränität einer Alleskönnerin – und Barenboim und „sein“ Orchester begleiten ebenso gekonnt – die ihre Virtuosität Niemandem beweisen muss und sie entsprechend wohldosiert präsentiert, wenn sie der Musik gut zu Gesicht steht. Grandios!


    Ein frohes neues Jahr wünschend - Holger :) :) :)

  • Das Genie Carlos Kleiber



    Der Erzromantiker Novalis (Friedrich von Hardenberg) beschwörte einst eine „Kultur des Enthusiasmus“. Bezieht man dies auf die Musik und insbesondere die Dirigenten, dann verkörpert diese Kultur geistvoller Begeisterung einer wie kein anderer: Carlos Kleiber. Es ist ein Segen, dass sich dieser unglaubliche Probenmitschnitt von 1970 erhalten hat. Was für ein Kontrast zwischen Kleibers Lebensfreude und der quasi amtsstrengen Ernsthaftigkeit und biederen Steifigkeit der Orchestermusiker! Die historische Situation ist – in mehrerlei Hinsicht pikant – die 1968iger Revolte gegen die Adenauer-Ära. Im Orchester erkennt man die „Aufmüpfigen“ auch an den wenigen Rollkragenpulis. Die anderen Musiker wirken, ernst und steif in ihren Anzügen und Krawatten, eher wie graue Beamtenmäuse als engagierte Musiker: Das Klischee von „klassischer“ Musik als „ernster“ Musik – hier wird es sinnenfällig. Und da kommt dann ein Dirigent, fröhlich und frei, kein Pultdiktator wie Toscanini oder Karajan, sondern witzig und charmant, und steckt sie mit seinem Enthusiasmus an, wie wenn in einen ausgedörrten Wald durch einen Funken ein Feuer entfacht wird. So stocksteif wie sie da sitzen sollen sie ausgerechnet die federleichte, komödiantische Fledermaus-Ouvertüre spielen! Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, wenn man die Bilder sieht. Das wirkt schon fast grotesk-komisch. Und sie schaffen es Dank Kleiber! Er „durchglüht“ die Musik gleichsam, verleiht ihr von Innen Leben. Sein Charme übertritt bisweilen die Grenze zur Parodie. Ob die Musiker das gemerkt haben? Carlos Kleiber liebte bekanntlich das Leben – und die Frauen. Unzählige Affären hatte er. Und damit spielt er in der Probe – die schönen Frauen mit den langen Beinen… Urkomisch! Da kann man dem lieben Gott nur danken, dass er nicht in das MeToo-Zeitalter hineingeboren wurde. Heute wäre seine unbändige Lebenslust wohl mit Berufsverboten belegt in seinem Landhaus auf dem slowenischen Dorf versauert, wo er sich hätte hin flüchten müssen.


    Nach diesem bewegenden Film höre ich mir dann die Fledermaus-Ouvertüre von seinem Neujahrskonzert in Wien an – mit ganz anderen Ohren.



    Für mich ist „die“ Aufnahme von Beethovens Siebter, welche Richard Wagner die „Apotheose des Tanzes“ nannte, Carlos Kleiber. Und hier ziehe ich seine Konzertaufnahme mit dem Bayrischen RSO der perfekten Studioaufnahme aus Wien vor, die auf SACD zu haben ist



    Kleiber war ein Perfektionist und zugleich „Leidenschaftsmusiker“ durch und durch. Und diese Synthese gelingt ihm finde ich am besten im Konzert. „Jubelnde Ausgelassenheit“ – kein anderer Dirigent kann finde ich den revolutionären Geist, der speziell in dieser Beethoven-Symphonie steckt, so geradezu bestürzend authentisch vermitteln. Die europäische Kultur ist dadurch geprägt, dass sie große Angst hat vor der Ekstase. Nicht zufällig steht auf dem Apollon-Tempel von Delphi die Warnung „Halte Maß!“. Gerade die vom apollinischen Geist geprägte klassische Kunst darf sich doch wohl nicht dem selbstvergessenen Taumel der Begeisterung hingeben, verkündet ihr Maßhalte- und Mäßigungsethos und predigt, stets die Form und die kühl abgeklärte Distanz zu wahren. Carlos Kleiber beweist uns dagegen, dass sich apollinische Klassizität und dionysischer Rausch nicht ausschließen müssen. Beethovens Musik entstammt dem Zeitalter des Deutschen Idealismus, deren großer, wirklich die Welt bewegender Gedanke derjenige der „Freiheit“ war. In der „Apotheose des Tanzes“ der Siebten Symphonie macht sich der menschliche Geist frei von allen Zwängen, feiert ausgelassen die Schönheiten des Lebens. Musik als Feier des Lebens und der Lebenskraft – in dieser göttlich-überirdischen Heiterkeit ist der Freiheitstraum der Menschheit gelebte und erlebbare Utopie. Niemand kann diesen Freiheitsgeist im unbeschreiblichen Gefühl totaler Losgelöstheit so vermitteln wie Carlos Kleiber! Und dabei forciert er nie, wie der von HIP beeinflusste Stil von heute, sondern wirkt immer natürlich und selbstverständlich. „I don´t like overemphasizing!“ – bekannte Bernard Haitink, als er seinen Beethoven-Zyklus in Chicago erläuterte. „Overemphasised“ ist Carlos Kleibers Beethoven bei allem Überschwang bezeichnend nie – und genau das macht die Größe und Genialität seiner Interpretation aus.


    Carlos Kleiber bewunderte zwei Dirigenten – seinen Vater Erich Kleiber und Herbert von Karajan, dessen Grab in Anif er bei jedem Aufenthalt in Salzburg besuchte, bevor er die Heimreise nach Slowenien antrat. Der Vergleich mit Herbert von Karajans Aufnahmen ist aufschlussreich – besonders mit der doch etwas zu sehr auf Orchestervirtuosität getrimmten Einspielung aus den 1970iger Jahren. Gerade in den beiden letzten Sätzen, die Karajan herunterhetzt im aberwitzigen Tempo, wirken die Musiker, die das bewundernswert tatsächlich spielen können, fast schon wie angekettete Galeerensklaven, denen der Dirigent die virtuos überdrehte Schlagfrequenz einpeitscht. Genau das aber verfehlt Beethovens Geist – die Musik wirkt nicht frei und ausgelassen, sondern immer wie von der Hand eines Dirigentengottes geführt – in einem Gestus des Erzwungenen, überlegenen Kontrollierten und Beherrschten, statt dass die Musik einfach nur sie selber sein könnte. Karajan beherrscht die Extreme dieser Musik, nimmt sie an die Kandare höchst virtuoser Stabführung, Carlos Kleiber lässt sie im niemals zügellosen (!) Überschwang einfach frei. Abgesehen davon, dass Karajan am schwierigsten Satz der Siebtem, dem Allegretto, ästhetisch gescheitert ist, gefällt mir Kleiber auch in der Einleitung des Kopfsatzes besser, wo seine behutsame Zurückhaltung den Kontrast zum überschwänglichen Hauptthema umso deutlicher hervortreten lässt. Und wie Kleiber über einen ganzen Satz die Spannung aufrecht erhalten kann! Er war zudem ein Meister, was das Dirigieren der Übergänge angeht. Man höre nur die atemberaubenden Atempausen des Leisen im Scherzo!


    :hail: :hail: :hail:

  • Meine letzten sporadischen Hörklausuren - Sammlung (1)


    Herbert von Karajan


    Durch eine ganze Reihe von sehr "außermusikalischen" Umständen komme ich derzeit kaum zum Musikhören. Und wenn, dann ist es sehr sporadisch - kaum für das Durchhören eines längeren Stückes reicht es.


    Eine meiner Hör-Stipvisiten betraf Herbert von Karajan. Ich bekenne, dass mein Verhältnis zu diesem großen Dirigenten mehr durch Respekt geprägt ist als durch eine musikalische "Liebes-"Beziehung. Geprägt haben mich andere Dirigenten. Wenn ich einen "Lieblingsdirigenten" nennen sollte, dann fiele mir zuerst der Name Claudio Abbado ein. In meiner Jugendzeit erschloss ich mir das symphonische Repertoire vor allem durch Pierre Boulez und Claudio Abbado. Dann bin ich - bis heute - ein großer Freund des "böhmischen" Orchesterklangs, sammle Aufnahmen der Tschechischen Philharmonie. Von daher kommt meine große Wertschätzung von Dirigenten wie Karel Ancerl und Vaclav Neumann. So habe ich Karajan eher spät für mich entdeckt. Eine Schlüsselaufnahme war da für mich selbst überraschend seine Beschäftigung mit der zweiten Wiener Schule - Schönberg und Anton Webern. So präzise, so expressionistisch! Einfach famos!


    Um mir selber Karajan etwas näher zu bringen, hatte ich mir diese beiden Boxen zugelegt:




    Karajan sollte Prokofieffs "Klassische Symphonie" doch dirigieren können - aber gerade hier bestätigt er meine Haltung, eine durch Respekt bestimmte Distanz. Karajans Aufnahme ist in jeder Hinsicht "perfekt". Aber genau deshalb lässt sie mich auch ziemlich unberührt. Prokofieff liebte das Ballett, weil es der Spiegel des Menschlichen ist in allen seinen Facetten. Bei Karajan hat man das Gefühl, dass die Orchestermusiker als die Tänzer eine perfekte Prüfungsarbeit vor ihrem Ballettmeister abgelegt haben. Sie haben zweifellos alles realisiert, was er wollte. Ein perfekter Drill. Aber wo ist das gewisse Quäntchen, was über die Perfektion hinausgeht? So etwas wie Charme, Anmut, die gewisse Freiheit auch mal eine Spur des Unperfekten und damit des Menschlich-Allzumenschlichen zuzulassen? Bei Karajan bleiben die imaginären Tänzer in diesem Stück Marionetten, die perfekt tun, was ihnen die Hand des Dirigenten als ihrem Herren und Meister befiehlt. So aber erreicht diese Musik, so wie sie hier gespielt wird, zu mir als Hörer auch keine Nähe, sondern es bleibt bei einer kühlen Distanz.


    Ganz anders dagegen Karajans Sibelius. Das, was ich hier gehört habe, finde ich tief beeindruckend! Wenn Karajan eine Musik liegt, dann ist es Sibelius! Bei der symphonischen Dichtung Der Schwan von Tuonela und auch dem Valse Triste hatte ich den Vergleich mit der ebenfalls beeindruckenden Aufnahme von Hannu Lintu:


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    Lintus Aufnahme mit dem ausgezeichneten Finnish Radio Symphony Orchestra ist unglaublich subtil ausgehört - feinsinniger geht es kaum. Nur hat man bei Hannu Lintu den Eindruck, dass dieser Sibelius eher "französisch" klingt, wie ein Bruder von Debussy. Bezeichnend ist Lintu vom Tempo her deutlich langsamer als Karajan bei Der Schwan von Tuonela. Er zelebriert damit sehr französisch die isolierten Klangereignisse, während sich bei Karajan im zügigeren Tempo ein dynamisches Kontinuum realisiert mit dem dazugehörigen dramatischen, hoch expressiven Spannungsaufbau. Damit trifft Karajan einfach ideal den Sibelius-Ton, Musik auf der Schwelle von der Romantik zur Moderne: Ein fast impressionistisches Klanggewand - aber durchdrungen mit spätromantischer Empfindung.


    Die Vierte Symphonie von Sibelius fasziniert mich immer wieder. Für mich ist dies eines der originellsten Werke der Musikliteratur. Ich habe diese Symphonie immer als die Umkehrung des musikalischen Prinzips der Neunten Beethoven empfunden: Nicht der Gestus des Beginnens, des Werdens und Entstehens, sondern des Aufhörens, des Vergehens, des wiederholten Rückzugs der Musik in die Stille. Modern bei diesem Sibelius ist die Aufhebung der Finalität, Naturhaftigkeit als Realisierung des "Wir haben die Zwecke nur in die Natur hineingelegt, jetzt ziehen wir sie wieder heraus". Karajans Aufnahme finde ich auch hier wiederum tief beeindruckend. Da wird das Vergleichshören noch folgen. Sibelius wird mich in den nächsten Wochen denke ich weiter beschäftigen.


    Fortsetzung folgt also! :) :) :)

  • Meine letzten sporadischen Hörklausuren - Sammlung (2)


    Brahms 2. Klavierkonzert


    Mein zweiter Klausurbeitrag von heute betrifft das große und großartige 2. Klavierkonzert von Brahms, dass ich - ich muss es gestehen - relativ selten höre, weil es eine doch immense Verdichtung an Konzertration erfordert wie bei einer langen Mahler-Symphonie. Wenn man es gehört hat, dann ist es auch für die Hörsitzung genug. ^^



    Nelson Freire war eine scheue Persönlichkeit, der eher die leise Zurückgezogenheit liebte als die laute Selbstdarstellung eines Virtuosen in der Öffentlichkeit. Dazu passt auch sein stiller Tod - für die Musikwelt ein großer Verlust. Freire, der behutsame Virtuose, ist finde ich einer der wenigen geborenen Brahms-Spieler. Seine Aufnahmen des 2. Brahms-Konzertes gehören für mich zu den besten. Nach seinem Tod wurde diese Rundfunkaufnahme aus Frankfurt von 1977 mit dem vorzüglichen Dirigenten Horst Stein veröffentlicht, die wie ich finde sehr hörenswert ist. Die absolute Souveränität einer frischen aber nie forsch auftrumpfenden Virtuosität beeindruckt hier. Freire trifft den idiomatischen Brahms-Ton genau mit seinem melodischen, immer natürlichen Spiel, was bei aller Poesie die Herbheiten von Brahms nie verzuckert. Die fast dreißig Jahre später entstandene DECCA-Aufnahme aus Leipzig mit Ricardo Chailly bleibt bei dem Interpretationsansatz von 1977, ist in ihrem Gestus allerdings noch weniger direkt, geprägt von einer gewissen Alters-Intimität. Beides sind wunderbare Aufnahmen!


    Zuletzt habe ich meine Gilels-Sammlung durch zwei weitere Aufnahmen des 2. Brahms-Konzertes ergänzt:




    Der Rundfunk-Mitschnitt mit dem RSO Köln unter der Leitung des italienischen Dirigenten Mario Rossi, der auch Michelangeli begleitet hat, entstand in derselben Woche der Studioaufnahmen bei der DGG mit Eugen Jochum. Vielleicht liegt es an Rossi, der als Italiener keine Scheu hat, dem deutschen Brahms eine etwas schwelgerische, ästhetische Note zu verleihen, dass sich der große Emil Gilels hier so wohl fühlt. "Schöner" als Gilels hier kann man das Brahms-Konzert gewiss nicht spielen. Gilels gibt dem Werk eine Mischung aus Klassizität, gewichtiger Monumentalität und höchst feinsinniger Klangsinnlichkeit, die einzigartig ist. Die überragenden Qualitäten der Aufnahme von Krystian Zimerman mit Leonard Bernstein (die ich leider nur als Youtube-Video hören kann) sind unbestreitbar - aber Gilels ist Gilels und Zimerman ist Zimerman. Im 2. Satz kommen die Orchesterglocken, die eine Art musikalischer Aus- und Festzeit einläuten. Was folgt ist ein Quasi-Improvisato des Klaviers, eine Art Kadenz, wo der Virtuose mit höchst schwierigem Oktavenspiel glänzen kann. Zu Gilels Interpretationsstil gehört nun nicht das Assoziative, das sich Zimerman erlaubt. Er gestaltet klassisch klar und "direkt", die thematischen Konturen nachzeichnend, wie es auch nur in sein interpretatorisches Gesamtkonzept passt. Die Aufnahme mit Fritz Reiner und dem Chicago SO von 1958 zeigt fast zwanzig Jahre früher entstandenden jungen Emil Gilels mit seiner Wucht und Energie. Auch dies ist ungemein beeindruckend. Mir scheint, dass dies nicht die RCA-Studioaufnahme vom Mai 1958 ist. Vermerkt ist im Klappentext als Aufnahmedatum "8/1958" (Korrektur: 8. Februar 1958!) ohne weitere Angaben. Offenbar handelt es sich um einen späteren Konzertmitschnitt, wo Teile fehlen, man merkt gleich zu Beginn, dass hier zwei Aufnahmen zusammenmontiert wurden.


    Ein wirkliches Erlebnis sind die Solo-Zugaben des Rundfunk-Mitschnittes von 1971 - Debussy und Prokofieff. Bei den Images Heft I von Debussy ist es für mich jedenfalls ungemein schwer, eine Alternative zu Michelangeli zu finden. Emil Gilels ist der Einzige, wo ich denke: So kann man das auch wirklich überzeugend tatsächlich anders spielen, ohne dass man denkt, es ist irgendwie anachronistisch romantisierend oder sentimentalisierend. Sicher ist Gilels´ Spiel nicht ganz "idiomatisch" - also nicht so "französisch". Gilels spielt diesen Debussy von Beethoven und Prokofieff her kommend mit gemeißelter Prägnanz, geschärften Kontrasten und großer Dynamik. Das ist aber so betörend und fesselnd, dass ich diesen Gilels-Debussy unmöglich nur einmal hören kann und ins Grübeln komme über Debussy-Interpretation überhaupt. Gilels war eben ein Klaviertitan wie Michelangeli auch! Der Prokofieff ist natürlich Gilels´ Welt. Niemand - auch Svjatoslav Richter nicht - spielt die Vision figitives so wie Emil Gilels. Schade nur, dass Gilels den Zyklus nie komplett aufgenommen hat.


    :hail: :hail: :hail:


    P.S. Ich bin auf das fehlerhafte Aufnahmedatum bei Gilels/Reiner aufmerksam gemacht worden. Mein Fehler! Vermerkt ist der 8. Februar 1958 und nicht 8/1958! :!:

  • Meine letzten sporadischen Hörklausuren - Sammlung (3)


    Und nun zum Dritten meines Klausur-Berichts:



    Heute gilt die CD bei vielen Musikfreunden als "Auslaufmodell". Doch dann entgeht einem genau das, was sie (in diesem Falle handelt es sich um eine SACD des schwedischen Labels BIS) so besonders macht: der Klappentext nämlich. Der zum Zeitpunkt der Aufnahme erst 28 Jahre alte Yewgeny Sudbin hat ihn selbst verfasst. Schon der erste Satz dieses ungewöhnlich langen, sehr persönlich und dabei außergewöhnlich sachkundigen Begleittextes auf höchstem Niveau, der eine wirklich intime Kenntnis Scriabins und eine "philosophische" Begabung erkennen lässt, lässt aufhorchen:


    "Wie leicht ist es, Scriabin zu verfallen, eine der rätselhaftesten, umstrittensten und künstlerischsten Persönlichkeiten aller Zeiten. Wurde man erst einmal gebissen und hat das Gift in Gestalt seiner Klangwelt Körper und Geist durchdrungen, so sind die Auswirkungen allumfassend, sogar lebensbedrohlich!"


    Nicht nur im Wort hat Sudbin Sinn für die wahnhaft-wahnsinnigen Aspekte von Scriabins hoch erotischer, spekulativ-mystischer Musik, sondern auch auf dem Klavier. Diese Scriabin-Platte ist eine Offenbarung! Sudbin versteht es meisterhaft, die hohe Konstruktivität Scriabins mit dem Rauschhaften zu verschmelzen. Beides nämlich - nur exaltierte Emotionalität wie eine Reduktion auf analytische Konstruktivität, verfehlt Scriabins Musik. Besonders beeindruckend die 5. und 9. Sonate. So dämonisch beängstigend wie bei Sudbin klingt die Bass-Eruption der 5. Sonate bei Niemandem. Und wie er die freie Fantasie in das formbewusste Gestalten einbringt, ohne die Form zu zerstören, ist beeindruckend. Bei der 9. Sonate, der "Schwarzen Messe", merkt man, dass er das "Dämonische" dieser Musik versteht. Diese Aufnahme möchte ich neben die wirklich außergewöhnliche von Grigory Sokolov stellen. (Ich habe mich mal an einer Analyse dieses Stücks versucht, die mir glaube ich nicht schlecht gelungen ist, als Perfektionist in theoretischen Dingen halte ich meine Skizzen allerdings nicht für veröffentlichungsreif... ^^ ) Bemerkenswert auch Sudbins Fähigkeit zur Charakterisierung. Die Mazurka op. 3 Nr. 1 klingt wirklich "giusto". Die Etüde op. 8 Nr. 12, viel gespielt von den großen russischen Virtuosen von Horowitz bis Berman, besticht durch eine ungemein differenzierte dynamisch-poetische Gestaltung.


    Für Scriabin-Freunde eine unbedingte Empfehlung! :hail::hail::hail:


    Ein Wort noch zur Aufnahme-Technik. Der Flügel ist nicht ganz mittig aufgenommen, steht hörbar rechts und der Klang ist eher dunkel. Ich bevorzuge hier meine AVM Laufwerks/Wandler-Kombi wegen ihrer Klarheit und Offenheit im Hochtonbereich und ziehe ihr in diesem Fall meinem Denon SACD-Player DCD 1600 NE vor, höre also die CD-Spur bei dieser Hybrid-SACD. ^^

  • Vladimir Ashkenazy und Schubert


    Zu Schubert zeigt schon der junge Vladimir Ashkenazy eine besondere Affinität. Als ich in meiner Jugendzeit begann, Schallplatten zu sammeln, und das war zunächst schwerpunktmäßig Klaviermusik, waren die meisten Klavierplatten die von und mit Ashkenazy. Seine frühe Schubert-Platte hatte für mich immer eine besondere Bedeutung. Ich halte sie für eine der besten Schubert-Aufnahmen, die je gemacht wurden:


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    Dazu kam die mit dem "Grand Prix du Disque" ausgezeichnete Aufnahme der großen G-Dur-Sonate. So sah das Plattencover damals aus:


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    1986 habe ich meine Plattensammlung verkauft - darunter auch diese LP. Wenn ich nun bedenke, was die LP mit genau diesem Cover heute kostet! Ein Angebot findet sich tatsächlich - 600 Dollar! ^^ Seltsamer Weise ist ausgerechnet diese im wörtlichen Sinne "ausgezeichnete" Aufnahme nie als Einzel-CD zu Beginn der Compact Disc-Ära oder in einer der späteren preiswerten Serien in Europa veröffentlicht worden. Ich bin aber fündig geworden - 1990 erschien eine CD-Ausgabe jenseits des "großen Teichs", woher mir demnächst ein Exemplar zufliegen wird. :)


    Was ich lange gar nicht wusste, dass Ashkenazy auch die B-Dur-Sonate D 960 etwas später im Jahr 1985 aufgenommen hatte. Die einzig erhältliche CD war eine Rarität. Einst hatte mir der nette Willi wohl ein verfügbares erschwingliches (!) gebrauchtes Exemplar weggeschnappt :D , mir aber die Dateien auf dem berühmten "kleinen Dienstweg" zukommen lassen. Studiert hatte ich die Aufnahme damals aber nicht. Nun, nachdem inzwischen die große Sammelbox sämtlicher Soloaufnahmen von Ashkenazy erschien, sind wohl wieder einige Exemplare auf den Markt "gespült" worden. Und da habe ich mir eines davon endlich "gefischt".


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    Und damit bin ich auch mehr als glücklich! Die Aufnahme ist eine Ashkenazy-Sternstunde! Wunderbar und gleich einnehmend, wie Ashkenazy das melodische Hauptthema mit unglaublich schönem Ton aussingt. Und er trifft den Schubert-Ton des leise versonnen getragenen, Traurig-Schönen ganz genau. Bewundernswert sein Legato-Spiel - eine Ashkenazy-"Spezialität" - zu hören etwa in der Liszt-Etüde Paysage - gerade hier bei Schubert wird dies zum Ausdrucksträger: Es entsteht so ein Kontinuum des immer tragenden und damit eindringlich getragenen Melos. Man zieht den Hut vor Ashkenazys interpretatorischer Intelligenz, immer das Richtige zu tun. Schubert wird hier tiefschürfend bis in die letzte Note ausgeleuchtet und in allen seinen Facetten entfaltet. Ashkenazy ist ein großer Erzähler auf dem Klavier - hier verbindet sich seine epische Signatur mit intimer Lyrik. Das ist wahrlich beglückend - denn genau das ist Schubert! Großartig seine Dramaturgie im langen ersten Satz, wie er quasi symphonisch die dramatischen Spannungsbögen aufbaut und immer absolut organisch sich entwickelnd lässt. Hier merkt man beim Pianisten Ashkenazy den geborenen Dirigenten! Für mich ist das eine der schönsten und bedeutendsten Aufnahmen des musikalischen Juwels, das Schuberts letzte Klaviersonate darstellt!


    :hail: :hail: :hail:

  • Alte Musik neu – Neue Musik alt? Heinrich Schenkers Klavierstücke und György Ligetis Klavierkonzert



    „Brahms, der Fortschrittliche“ – mit diesem Aufsatztitel wollte Arnold Schönberg einst die Fronten auflockern zwischen den „Konservativen“ in der Musik, der „Brahmspartei“, und der Partei der „Neudeutschen“ auf der anderen Seite, Franz Liszt und Richard Wagner mit seiner Idee einer „Zukunftsmusik“. Schönbergs Aufsatz endet mit den Worten, es erscheine „ein Fortschritt in Richtung auf eine uneingeschränkte musikalische Sprache. Er wurde eingeleitet von Brahms, dem Fortschrittlichen.“ Schönberg verstand sich also nicht als Zerstörer der musikalischen „Klassik“, sondern als eine Art Schüler von Brahms im Sinne eines konservativen Revolutionärs, der das klassische Erbe weiterträgt, indem er aber zugleich die Musiksprache – genauer: die musikalische Grammatik – erneuert durch eine die Schranken der Tonalität entschränkende Atonalität. Damit glaubte er die Tradition der Klassiker Beethoven und Brahms weiterschreiben zu können, statt sie untergehen zu lassen in spätromantischer Verunklarung der Tonalität und Verkomplizierung klassischer Formen bis zur Unkenntlichkeit. Kaum einer ist von diesem „fortschrittlichen“ Brahms-Bild weiter entfernt als der erzkonservative Heinrich Schenker (1868-1935), dem mit seiner reduktionistischen „Ursatz“-Lehre weltbekannten, hoch umstrittenen Musiktheoretiker. Kaum bekannt ist, dass Schenker nicht nur Theoretiker, sondern anfänglich auch Komponist war. Das Komponieren gab er allerdings schon in jungen Jahren auf, weil er, der sich in der musikalischen Brahms-Welt zuhause fühlte, diese Welt offenbar in heilloser Auflösung begriffen sah: „Ich komponierte viel in meiner Jugend, meine Sachen wurden mit Beifall aufgenommen; als ich aber sah, wie man Brahms mißverstand, litt ich so sehr darunter, daß ich alles stehen und liegen ließ und meine theoretischen Werke schrieb.“


    So zitiert ihn Dirk Joeres, der seine Aufnahme mit Brahms-Klavierstücken bereicherte durch Schenkers Fünf Klavierstücke op. 4 sowie den Nummern 1 und 3 aus den Inventionen op. 5. Und dafür kann man Dirk Joeres nur danken. Denn diese Klavierstücke zeigen das Gespenstische und Ausweglose eines solchen Epigonentums. Schenker beherrscht sein kompositorisches Handwerk und er hat „Empfindung“. Er kupfert auch nicht einfach bei Brahms ab, wenn er sich Brahms zum Vorbild nimmt. Die Tendenz zur konstruktiven Vereinfachung und Reduktion seiner „Ursatz“-Lehre ist zu spüren – Brahms wird zur Brahms-Essenz in der Reduktion auf den einfachen, klaren Gedanken. Geht das ketzerisch gefragt nicht in Richtung auf die „Elementarisierung“ der Formensprache, welche der Moderne des 20. Jahrhunderts eigen ist? Ist also Schenker doch moderner, als er selber glauben will? Das alles geschieht jedoch so vorsichtig, dass diese Musik, obwohl aussagefähig und auch immer schön anzuhören, irgendwie gespenstisch und „irreal“ wirkt. Überall spukt der Geist von Johannes Brahms herum, als sei die Zeit stehen geblieben. Es ist jedoch der unerbittliche Gang des Lebens, dass es immer weitergeht. „Wiederholung ist Lüge“ – hat Gustav Mahler einmal gesagt. Joeres beginnt seinen Klappentext mit der Anekdote, wo der alte Johannes Brahms dem 16jährigen Gustav Mahler gegenüber bekundete, die Musikgeschichte sei im Grunde zu Ende. Joeres, der vom Serialismus der 1950iger Jahre als einer „Sackgasse“ spricht, verschweigt bezeichnend die schlagfertige Antwort des jungen Gustav Mahler, der Brahms auf den Fluss zeigte, an dem sie entlangliefen: „Hier sehen Sie die letzte Welle!“ Dass Schenker sein Komponieren konsequent aufgegeben hat – man versteht es, wenn man diese Stücke von ihm hört. Während Schönberg die Musikgeschichte weitergebracht hat, musste Schenkers kompositorisches Denken folgenlos bleiben. Und genau daran erkennt man die Sackgasse. Schenkers Musiksprache wirkt vielleicht gerade wegen ihrer Gediegenheit wie die Beschwörung einer musikalischen Welt, die schon nicht mehr sein kann. Am besten gefallen haben mir aus diesem Grund die Inventionen. Denn diese sind die Adaptation einer Form von Barockmusik, die auch für Schenker definitiv nicht mehr kompositorisch bleiben kann, was sie einmal war, im romantischen Geiste. Und das hat seinen Reiz des Umdenkens und Umformens eines Vergangenen, seiner Wiedergeburt im neuen Gewand. Man denkt hier durchaus an Schostakowitschs Präludien und Fugen.



    Claude Debussy zog einst sein Klavierkonzert zurück, weil es ihm im Nachhinein zu traditionell erschien. György Ligeti dagegen wagt es, wieder ein Klavierkonzert zu schreiben und steht gewissermaßen Schenker gegenüber auf dem anderen Ufer einer Moderne, welche die Küste der Tradition nur noch von Ferne betrachtet – denn eigentlich kann man als Vertreter der „Neuen Musik“ gar kein herkömmliches Klavierkonzert mehr komponieren. Und wenn man es tut, erntet man dann nicht von allen Seiten – den „Traditionalisten“ ebenso wie den „Progressiven“ – nur Befremden über ein unmögliches Tun? Ligetis Selbsterklärung, die der englischsprachige Wikipedia-Artikel wiedergibt, zeigt, dass der Komponist Ligeti selbst wohl geahnt haben muss, dass er zwischen allen Stühlen sitzt:


    „Im Klavierkonzert stelle ich mein künstlerisches Credo vor: Ich demonstriere meine Unabhängigkeit von Kriterien der traditionellen Avantgarde, wie auch der modischen Postmoderne. Musikalische Illusionen, die ich auch für so wichtig halte, sind für mich kein Ziel an sich, sondern eine Grundlage für meine ästhetische Haltung. Ich bevorzuge musikalische Formen, die einen eher objekthaften als prozessualen Charakter haben. Musik als „eingefrorene“ Zeit, als ein Objekt im imaginären Raum, das durch die Musik in unserer Vorstellung evoziert wird, als eine Schöpfung, die sich tatsächlich in der Zeit entwickelt, aber in der Vorstellung gleichzeitig in allen ihren Momenten existiert. Der Zauber der Zeit, ihr Vergehen zu ertragen, sie in einem Moment der Gegenwart einzuschließen, ist meine Hauptintention als Komponist.“


    Für den Kenner der „Neuen Musik“ äußert Ligeti hier nichts irgendwie Überraschendes: Karlheinz Stockhausen, den Ligeti nach seiner Flucht aus Ungarn 1956 in Köln kennenlernte und in dessen Studio für elektronische Musik arbeitete, prägte den Begriff „Momentform“. Neue Musik kennt keine sukzessive Entwicklung, spiegelt vielmehr das zeitliche Geschehen in eine imaginäre Gleichzeitigkeit, wofür die kreisenden Bewegungen der Zwölftonkompositionen stehen. Schließt das aber nicht die Komposition eines Sonatensatzes aus, der genau das ist, eine sukzessive dramatische Entwicklung mit dem Ziel der Versöhnung der harmonischen Gegensätze in der finalen Reprise? Widerspricht das Komponieren mit klassischen Formen also nicht der seriellen Musik?


    Obwohl Neue Musik eigentlich gar nicht mehr neu ist, sondern längst zur etablierten „Klassik“ gehört, verblüfft bis heute die vehemente Abwehrreaktion, die ihr immer wieder entgegengebracht wird. Lebensweltlich aber eigentlich auch nicht. Wir erleben gerade heute in Deutschland und Österreich die Apotheose des Spießers, die Karikatur des Bürgers und Bildungsbürgers, der sein Eigentum mit der Pike verteidigt, in Gestalt einer unverblümt ausgelebten Fremdenfeindlichkeit. Dem, was man nicht versteht, was einem nicht geheuer ist, begegnet man nicht etwa mit hilflosem Kopfschütteln, sondern mit einer militanten Abwehrhaltung, betrachtet jegliche Andersheit und Fremdheit als Bedrohung des Eigenen. Es ist immer der oder das Fremde, was für die eigene Misere ganz allein verantwortlich ist, von dem man sich deshalb nicht nur fern halten, sondern was man aus der eigenen Wahrnehmungswelt komplett ausweisen muss, so dass es für die Weltwahrnehmung nicht mehr existent ist. Der selbsternannte „Volkskanzler“ Herbert Kickl will Österreicher ganz einfach ausbürgern, wenn sie keine Blut-und-Boden-Österreicher von Geburt sind. Das jugendlich Junge (AfD-)Deutschland der Jetztzeit (wie in den Nachrichten zuletzt sich selber feiernd zu sehen) will Migranten egal ob mit oder ohne deutschen Pass gleich millionenfach nach Afrika oder sonst wohin verfrachten, wo sie hergekommen sind. „Remigration“, die Wiederausbürgerung der längst Eingebürgerten, ist das Stichwort und erklärte Allheilmittel gegen die Zumutungen von Migration. György Ligetis Klavierkonzert ist nicht nur die Komposition eines Migranten, es ist als Musikstück ein hybrides Migrationsprodukt, halb klassische Musik und halb Neue Musik. Der Fremde ist der Gast, der bleibt, formulierte einst Georg Simmel, also anders gesagt ein Migrant, der nicht mehr migriert. Gäste sind erwünscht, wenn sie nicht nur kommen, sondern auch in absehbarer Zeit wieder gehen. Bleiben sie aber auf unabsehbare Zeit, dann werden sie zu aufdringlichen und unerwünschten „Fremden“. Unerwünschte Gäste will man loswerden, sie sich vom Leib schaffen. Entsprechend nimmt man sie – obwohl sie vielleicht eigentlich gar nicht so fremd sind – nur noch als Störenfriede wahr: Das Fremde ist das, was man so allein noch vom befremdlich Unverständlichen her erfasst, das Vertraute am Fremden, was noch irgendwie verbinden könnte, merkt und bemerkt man dagegen nicht mehr, man übersieht und überhört es. In Bezug auf die Musik heißt das: Was fremdelt wie Ligetis hybrides Klavierkonzert, wird nur noch als Fremdes überhaupt gehört: als „Krach“ und sinnloses Geräusch und damit aus der musikalischen Heimwelt kurzerhand ausgebürgert.


    Dabei ist die bis heute hartnäckig sich behauptende Meinung, wonach nur „Melodien“ Musik sein könnten und alles Unmelodische entsprechend nur unmusikalisches Geräusch, nicht mehr als ein historisch aufklärbares Vorurteil. Es war die Empfindsamkeit des 18. Jhd., welche die einfach singbare Melodie, welche „das Herz rührt“, zum Kriterium der Musik schlechthin erhob. Geräusche sind nicht rührselig – und deshalb auch keine Musik. So einfach und so platt war das im Prinzip begründet und ist es bis heute. Dabei widerspricht diese Brandmarkung des Unmelodischen als das schlechterdings Unmusikalische ganz einfach der Erfahrung. Das Rauschen des Meeres, das Spiel der Wellen mit ihrem rhythmischen Wellenschlag, das Zwitschern der Vögel im Wald, die sich mischenden Klänge einer Festveranstaltung in der Abenddämmerung, die wir aus der Ferne wahrnehmen: Ist das etwa keine Musik, bloßer „Krach“, nur weil da keine „Melodie“ drin ist? Wer für solche Geräusch-Musik ein Ohr hatte, war Charles Ives. Freilich war er so wenig wie seine Musik sentimental. Ives, der große Humorist und Publikumsschreck, komponierte Central Park in the Darc, wo die sich chaotisch mischenden Klänge und Geräusche zunächst bezaubern, um sich dann allerdings zum bedrohlichen Lärm zu entfalten.


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    Ives selbst schrieb dazu:


    „Die Streicher stellen die nächtlichen Geräusche und die stille Dunkelheit dar - unterbrochen von Klängen aus dem Casino über dem Teich - von Straßensängern, die vom Circle heraufkommen und stellenweise die Melodien jener Tage singen - von einigen „Nachteulen“ aus Healy's, die das Neueste vom Freshman March pfeifen - die „occasional elevated“, eine Straßenparade, oder eine „Panne“ in der Ferne - von Zeitungsjungen, die „uxtries“ schreien - von Pianolas, die im Wohnhaus „über der Gartenmauer“ einen Ragtime-Krieg führen, ein Straßenauto und eine Straßenkapelle stimmen in den Chor ein - ein Feuerwehrauto, ein Droschkenpferd rennt davon, landet „über dem Zaun und hinaus“, die Wanderer rufen - wieder ist die Dunkelheit zu hören - ein Echo über dem Teich - und wir gehen nach Hause.“


    Luigi Russolo verfasste 1913 ein futuristisches Manifest Die Kunst der Geräusche. Dort wird der Frage nachgegangen, wie man auch mit Geräuschen wirkliche Musik machen kann. In Geräuschen steckt eine Musik, wenn man – so Russolo – nur in der Lage ist, ihren tonalen „Kern“ herauszuhören, ihre Skalen und geordneten Strukturen im scheinbar Ungeordneten erfasst. Dann ist die Geräuschmusik lediglich die klanglich und klangfarblich komplexere Musik gegenüber melodischer Musik. György Ligeti, dem die Fähigkeit zur Anschaulichkeit in besonderem Maße eignete, drückte das Problem der Geräuschmusik wie folgt aus, als eines der ästhetischen Wahrnehmung in der Nähe oder aus der Distanz. Das Erkennen einer Struktur im scheinbar Chaotischen ist „dem An- und Ausblitzen des Neonlichtnetzes in einer Großstadtstraße vergleichbar: (...) In größerer Entfernung verschwimmen diese Lichtkomplexe zu einer noch höheren Einheit, die wieder auf eigene Weise sinnvoll wird – so auch die Struktur dieser Musik beim mehrmaligen Anhören: Dann dringt unsere Wahrnehmung übers anfängliche Registrieren des Zufälligen hinaus, immer weiter vor bis zum Auffinden der größeren Zusammenhänge und Proportionen.“


    Unser Hören ist geprägt von durchaus alltäglichen Verhaltensmustern. Was man ablehnt, mit dem will man nicht in Berührung kommen. Entsprechend verschließt man die Ohren und dringt auch nicht unter die Oberfläche des Befremdlichen und Unverständlichen nach dem Motto: Was ich nicht gleich und unmittelbar verstehe, ist auch nicht zu verstehen, hat keinen Sinn – hier: ist keine Musik. „Krach“ ist Ligetis Klavierkonzert nun wirklich nicht – wenn man allerdings wie Ligeti es andeutet die Geduld des Nachhörens und mehrfachen Hörens nicht aufbringt und sich abschrecken lässt von dem, was man nicht gleich versteht, dann kann diese Musik tatsächlich als Krach erscheinen.


    Aber kommen wir endlich zu meiner Hörerfahrung mit Ligetis Klavierkonzert. Ganz unbefangen stellt sich durchaus auch bei mir der Eindruck des „Chaos“ ein – allerdings nicht im Sinne des Unmusikalischen, sondern eher einer faszinierenden Assoziation dieser Musik mit Charles Ives Central Park in the Darc. Dass Ligetis Musik auch den Sinn hat, das Chaos auszudrücken – und anders als die „klassische Musik“, die wir kennen, davor auch keine Angst mehr hat – das bestätigt der Höreindruck. Doch was ist so faszinierend am musikalischen Chaos? Ligeti beschäftigte sich mit moderner Physik, mit der „Chaos“-Theorie. Diese hat das populäre Bild vom Chaos als einem turbulenten Durcheinander grundlegend geändert. Das Chaos ist physikalisch gerade kein Tohuwabohu, sondern die Dimension der Kreativität – die Physiker sprechen von der „Selbstorganisation“ der Materie. Im Chaos entstehen also Ordnungsstrukturen, wozu die „Selbstähnlichkeit“ gehört. Im Chaos sind die Elemente unverbunden in ihrer Vermischung, sie weisen aber eine Strukturgleichheit auf im Großen und im Kleinen. Beispiel dafür ist der Birnbaum: Die einzelne Birne hat dieselbe oval-bauchige Form wie der ganze Birnbaum. Genau diese faszinierenden Strukturgleichheiten kann man in Ligetis Klavierkonzert heraushören, wenn man eben bewusst und aufmerksam hört. Die Ereignishaftigkeit und Zufälligkeit, mit der urplötzlich wie kleine Bomben zerplatzende Klangereignisse schockartig mitunter auf das Ohr treffen, ohne dass sie mit anderen klanglichen Erscheinungen in Verbindung stehen und also auch nicht sinnvoll „anschlussfähig“ sind im musikalischen Zeitverlauf, wie es die gewohnten „Melodien“ sind, kann oberflächlich gehört ein verstörendes Tohuwabohu bedeuten. Das eingeübte strukturelle Hören dagegen entdeckt die Analogien, welche alles mit allem verbinden. Dann wird das Viele zur faszinierenden Mannigfaltigkeit, in der sich das Eine und Selbe immer wieder überraschend neu und anders zeigt. Im wirbelnden Chaos, wo (noch) nichts festgelegt ist, vielmehr alles in Bewegung bleibt, entsteht das Leben. Wer ein Ohr dafür hat, für den ist diese chaotische Musik deshalb kein Tohuwabohu, kein „Krach“, sondern das faszinierende Erlebnis des Lebens selbst als ein unaufhörlicher Schöpfungsakt.


    Voraussetzung ist allerdings, dass die Musiker, welche das Stück aufführen, mit wachen Strukturbewusstsein und äußerster Präzision arbeiten, was in etlichen Aufführungen, die als Youtube-Video zur Verfügung stehen, mitunter nicht wirklich gelingt und damit dann auch den Zugang zu dieser Musik erschwert. Pierre Boulez und Pierre-Laurent Aimard musizieren in dieser Hinsicht tadellos, doch ist auch diese Aufnahme, die mir allein auf CD zur Verfügung steht, letztlich nicht befriedigend. Pierre Boulez ist als Komponist der Vertreter der „reinen Lehre“ Neuer Musik, mit seinem kompromisslos objektivistischen, strukturbetonten Ansatz. Für das Hybride, das Unreine und Heterogene von Ligetis Klavierkonzert fehlt sowohl Boulez als auch Aimard der Sinn – sie spielen Ligetis Klavierkonzert so, als sei es ein Exerzitium abstrakter Neuer Musik sozusagen in Reinkultur. Deshalb springt bei mir auch der berühmte Funke im Eröffnungssatz nicht über. Aimards Vortrag wirkt absolut humorlos, er hämmert die Rhythmen pedantisch in die Tasten, was allzu bemüht und fast schon verkrampft skurril wirkt. Die Haken und Häkchen der rhythmischen Asymmetrien haken deshalb auch nur. Der Motor der Musik stottert gleichsam, als hätte er zu wenig Öl bekommen, was sogar ein bisschen unfreiwillig komisch wirkt. Was Aimards Vortrag abgeht ist die Nonchalance, der Swing, das Jazzige, das entspannt Unterhaltsame, was eben zum Hybriden vom Ligetis Musik gehört, die zugleich ernst und unterhaltend, modern und traditionsbewusst sein will. Boulez und Aimard setzen Ligeti gleichsam eine musikalische Gelehrtenbrille auf und exerzieren vor, wie hypermodern seine Musik ist. Dass insbesondere der erste Satz zugleich an die Tradition entspannt-konzertanten Musizierens anknüpft, verschwindet damit einfach. John Orfe (Aufnahme bei Youtube von 2018) gelingt es hier deutlich besser, das Hybride von Ligetis Musik darzustellen mit seiner unverkrampften Lässigkeit, mit der er die vertrackten Rhythmen aus dem Ärmel schüttelt. So kann ich mich mit diesem Satz gleich anfreunden. Auch gelingt es dieser Aufnahme mit John Orfe weitaus besser als Boulez und Aimard, die großformale Anlage hörbar zu machen. Es gibt zwar keine „Entwicklung“ in diesem Satz, aber so etwas wie eine Progression: die Klavierstimme bewegt sich im Tonraum immer mehr in die Höhe und diese Bewegung kommt auch zu einer Art Abschluss, wonach dann dieser Bewegungszug wiederholt wird. Auch das ist hybrid: eine Quasi-Sukzessivität im Anklang an einen dramatischen Sonatensatz, die dann in der Wiederholung in die antisukzessive, imaginäre Gleichzeitigkeit aufgehoben wird. Boulez geht es um die „Struktur“ und darum, die Allgegenwärtigkeit dieser Struktur musikalisch aufzuzeigen. Entsprechend betont er die Kontinuität und überspielt gleichsam die konventionelle Formanlage mit ihren Abschnitten und Einteilungen. Gerade im Finale eliminiert er damit das Hybride und eigentlich Aufregende an diesem Satz, die an ein klassisches Schlussrondo von Ferne erinnernden formalen Abschnitte. So wirkt der Finalsatz bei Boulez auf das Strukturelle reduziert relativ kontrastarm und „chaotischer“, als er eigentlich ist. Seine Schlussfunktion wird auf diese Weise auch nicht so recht deutlich.


    Bevor ich zur Beantwortung der Frage komme, ob Ligetis Klavierkonzert als ein „klassisches“ Klavierkonzert noch anzusehen ist bzw. dazu taugt, ein Klassiker zu sein oder noch zu werden, noch einige Bemerkungen zu den einzelnen Sätzen. Zu einem klassischen Konzert gehört der empfindsame langsame Satz. Ligetis Musik übernimmt von der klassischen Form des langsamen Satzes die intime Expressivität, transformiert sie aber in die Moderne durch die Elementarisierung der Ausdrucksmittel. Zudem treibt er dabei den Sinn eines Konzerts über seine Grenzen hinaus – aus dem Konzertieren wird ein Verstummen in der Isolation aller Stimmen. Wenn man Bezüge zur Musik der Vergangenheit herstellen will, so erinnert dieser Satz am ehesten an das Debussy-Prélude Des pas sur la neige – Spuren, die sich in der Schnee- und Eiswüste verlieren, eine musikalische Studie der Verlassenheit. Den Satz hat Ligeti mit Lento e deserto überschrieben. Die Wüste ist ein Ort der Leere und die Musik kontrastiert so auch zur Dichte des ersten Satzes mit ihrem ausgedünnten Tonsatz in Anknüpfung an das Webern-Prinzip Ton und Stille. Der Wüstensand besteht aus Milliarden von einzelnen Sandkörnen, ist also ein unverbundener Haufen von Atomen. Entsprechend ist die Stimmung des Satzes Ausdruck radikaler Vereinzelung: Das Klavier schweigt bezeichnend zunächst und die Bläser formulieren ihren Klageton solus ipse. Das Ausbleiben des Konzertierens als Zeichen für die Beraubung von Geselligkeit und Gesellschaft lässt sich deshalb auch als Versetzung der Musik zurück in den Naturzustand vor aller Vergesellschaftung deuten: Die Klage wird in radikaler Vereinsamung und Vereinzelung zum Naturlaut elementarisiert, zum Empfindungston mit der kläglich versagenden Resonanz einsamen Verhallens. Symbol dieser Aufhebung geselligen Konzertierens ist das Wolfsgeheul. Wölfe heulen, wenn die Wolfsrudel getrennt sind; das Geheul ist also eine Form der Kommunikation aus der Ferne ohne wirkliche Begegnung. Der Ausdruck der Musik bewegt sich hier an der Grenze von Natur und Kunst – von Ligeti sehr bewusst auskomponiert. Das Geräuschhafte des Geheuls verrät sich musikalisch mit der nicht genau festgelegten Tonhöhe. Wenn Luigi Russolo verkündete, es ginge in der Geräuschmusik gerade nicht darum, Geräusche nur nachzuahmen, dann scheint Ligeti dies beherzigt zu haben: Den heulenden, in der Tonhöhe nicht festgelegten Laut lässt Ligeti mit den festgelegten Tönen korrespondieren, so, dass das Heulen eben nicht als etwas ganz und gar Kunstloses, ein bloßes Geräusch, erscheint, vielmehr zur (Kunst-)Musik wird als die geräuschhafte Fluktuation um ein tonales Zentrum herum: keine billige Imitation von Wolfsgeheul also, sondern der geräuschhafte Naturlaut als Selbstüberschreitung von Kunstmusik im Rahmen der Kunstmusik. Der Schmerz steigert sich in dieser Wüste der Vereinzelung ins schrille Extrem, weil er bar von Geselligkeit kein Mitleid erwarten kann, im wahrsten Sinne mit sich allein ist. Dieser langsame Satz mit seiner geradezu bestürzenden Expressivität erreicht eine Eindringlichkeit, die wahrlich erschüttert als Steigerung der Empfindsamkeit ins Äußerste reinen Schmerzes, ohne jede rhetorische Ästhetisierung. Wohl einmalig in der Musikgeschichte!


    Ligeti lässt die Sätze des Konzertes so aufeinanderfolgen, dass sie sich in Form und Charakter als Gegensätze manifestieren: Auf den schrillen Schrei in der Wüste, dem Ausdruck höchster Anspannung, folgt ein entspannt fließendes Vivace cantabile. Die fließenden Bewegungen des Klaviers erinnern deutlich an Bartok – mir geht da eine Stelle aus Bartoks Klavierkonzerten durch den Kopf. Wer das cantabile in diesem Satz vermisst, hat wiederum nicht genau hingehört. Auch hier handelt es sich um einen hybriden Charakter. Melodische Musik wie ein Schubert-Lied wird von der Kantabilität getragen – und alle anderen nicht melodischen Elemente haben nur begleitenden oder figurativen Sinn. Serielle Musik geht jedoch von der Gleichberechtigung aller Stimmen und musikalischen Parameter aus. In diesem Satz ist deshalb das Melodische lediglich ein „Material“ neben anderen Materialien unmelodischen Charakters auch. Wie ein Schauspieler nicht gleich von Anfang an auf der Bühne erscheinen muss und auch wieder abtreten kann, bleibt das Melodische im musikalischen Geschehen dieses Satzes mal nahezu unmerklich, dann tritt es zeitweilig als dominierende Eigenschaft hervor, um irgendwann wieder zurückzutreten. Es setzt freilich den entscheidenden Akzent in diesem Satz, ohne ihn aber im Ganzen zu okkupieren.


    Der vierte Satz präsentiert dem Hörer nun gleichsam die Essenz des Konzertanten – sich ergänzende Frage- und Antwortspiele in modern elementarisierter Formelhaftigkeit, einer zur staccatohaften Kürze verdichteten Aufeinanderfolge. Klavier und Orchester stehen sich bildlich gesprochen gegenüber wie zwei Ballspieler, die so dicht beieinander stehen, dass die Wurfbewegung extrem kurz ist, so dass sie sich den Ball fast in die Hand geben. Doch dabei bleibt es nicht. Dieses Staccato kurz aufeinander folgender Anwürfe wird schließlich dermaßen dicht, dass wir nicht mehr wissen, in welcher Hand sich der Ball befindet und glauben, beide halten den Ball ständig in der Hand. Aus der Sukzessivität entsteht also im gleitenden Übergang Simultaneität. Auch das ist wiederum hybrid – das Miteinander des Konzertanten wandelt sich in seiner Verdichtung zum Anti-Konzertanten des bloßen Beieinander, zu einem quasi ignoranten Nebeneinanderherspielen. Das Hybride dieser Verdichtung löst damit die Aporie, dass sukzessiv anschließende, konzertierende Antwortspiele im Prinzip dem Gedanken der „Momentform“ widersprechen. Die äußerste Verdichtung der sukzessiven Sequenzen projiziert das Nacheinander schließlich in die simultane Gleichzeitigkeit. Bela Bartok populärstes Stück, die Musik für Streichinstrumente, Schlagzeug und Celesta, verwirklichte zuerst das Simultaneitätsprinzip des parallelen Erklingens von Gruppen, was Karlheinz Stockhausen (der seine Magisterarbeit über Bartok geschrieben hatte) zu seiner Komposition Gruppen für drei Ochester inspirierte, wo die simultan spielenden Orchester sogar von drei verschiedenen Dirigenten geleitet werden. Der gleitende Übergang von Sukzessivität in Simultaneität in Ligetis Klavierkonzert zeigt wiederum, dass das Konzertante ein Charakter in dieser Komposition zweifellos ist, anders als bei einem traditionellen Klavierkonzert diese musikalische Form allerdings nicht mehr ganz und gar erfüllt.


    Und genau damit sind wir bei der Frage angelangt, ob Ligetis Klavierkonzert ein „Klassiker“ der Gattung Klavierkonzert ist, also nicht nur im Rahmen der Gattung komponiert ist, sondern die Gattung Maßstab setzend um eine neue Form bereichert. Ich meine ja! In Ligetis Klavierkonzert wird das Klavierkonzert sich selber zum Problem, indem sein Prinzip, das dialogische Konzertieren von Klavier und Orchester, sich gegen die Tendenz zur Selbstauflösung in einer „Momentform“ immer wieder behauptet. Wenn Hegel von der (Selbst-)Auflösung der romantischen Kunstform gesprochen hat, dann ist Ligetis Konzert so etwas wie die Götterdämmerung der Gattung „Klavierkonzert“. Und genau das ist exemplarisch klassisch: Ligeti treibt die Gattung Klavierkonzert mit dieser hybriden Form an ihre Grenze, ein helles Wetterleuchten ihrer einstigen Größe und zugleich Zeichen des Abschieds von dieser großartigen Formtradition.


  • Maurizio und Daniele Pollini – Schubert als Vermächtnis


    Im Juni 2022 begab sich Maurizio Pollini gemeinsam mit seinem Sohn Daniele Pollini nach München, um im Herkulessaal Schuberts große G-Dur-Sonate D 894 aufzunehmen sowie die Fantasie D 940 für Klavier zu vier Händen. Keiner von beiden hat damals wohl geahnt, dass dies ihr letztes gemeinsames Projekt und Maurizio Pollinis Vermächtnis werden würde. Vor dem Kitsch, diese Aufnahme als „Schwanengesang“ des großen italienischen Pianisten zu verklären, sollte man sich hüten. Auch der Klappentext enthält keinerlei pathetische Abschieds-Worte. Dies liegt den Pollinis wohl fern. Der Musikwissenschaftler Paolo Petazzi, der für Maurizio Pollini über Jahrzehnte immer sehr intelligente und lesenswerte Klappentexte schrieb, verfasste auch diesen. Kein Wort aber zu ihm und seiner Freundschaft mit Pollini, sondern allein eine Analyse der gespielten Werke! Der Originaltext ist selbstverständlich Italienisch – es gibt jedoch anders als früher üblich nicht noch eine deutsche und französische, sondern allein eine englische Übersetzung.


    Wegen der Besonderheit dieser Aufnahme habe ich sie mir in der Ruhe des Sonntag-Nachmittags über meine „große“ Anlage mit Lautsprechern angehört. Und ich kann nur sagen, dass dies ein mehr als würdiger Schlusspunkt von Maurizio Pollinis Discographie ist. Pollini hatte eine besondere Affinität zu Schubert. Das liegt einmal an seiner Klangästhetik und seinem Pedalspiel, ein Klangkontinuum zu erzeugen, in das alles eingebettet ist. Das passt zu Schubert kongenial. Und er vermag es auch hier, seine Sicht von Schubert vorzutragen, die sich von der der russischen Klavierschule deutlich unterscheidet. Nicht nur, dass er 4-5 Minuten „schneller“ im Kopfsatz unterwegs ist. Das Entscheidende ist, dass sich mit der anderen Auffassung musikalischer Zeit der Sinn der Musik ändert. Das macht der Vergleich mit den großartigen Aufnahmen von Vladimir Ashkenazy und Arcadi Volodos deutlich. Ich hatte zu meiner Freude vor zwei Tagen mit anderthalbjähriger Verspätung Ashkenazys Aufnahme der G-Dur-Sonate von 1970 auch auf CD bekommen – für die Schallplatte wurde er damals mit dem Grand Prix du Disque ausgezeichnet. Die DECCA-CD-Veröffentlichung aus der preisgünstigen „Ovation“-Serie enthält als Klappentext einen lesenswerten kleinen Aufsatz von Peter Cossé über den jungen Ashkenazy und Schubert – von wegen „Billigserie“! Der Unterschied von Pollinis Interpretation zu den beiden Russen wird gleich mit der Eröffnung des musikalischen Geschehens im Kopfsatzes deutlich. Zu Beginn dominieren die lang ausgehaltenen liegenden Akkorde, die durch eine kurze Sechzehntel, eine Art Vorschlag, gleichsam aus ihrer Ruhe gebracht werden. Bei Ashkenazy und Volodos ist diese Sechzehntel die Bestätigung des In-sich-Ruhens der Musik, indem sie nach kurzem Aufschrecken gewissermaßen zur Ruhe der liegenden Akkorde wieder zurückfindet. Es dominiert entsprechend das resignierend in sich ruhende melodische Kreisen, das keinen dramatischen Fortschritt kennt, sondern immer wieder andere überraschende Weltperspektiven entdeckt in quasi unendlich wechselnden Beleuchtungen. Ashkenazy und Volodos machen das jeder auf seine Weise so überzeugend, dass man an gar keinen Interpretationsvergleich und auch keine zerpflückende Analyse denken will. Ashkenazys wunderbare Fähigkeit, eine „Geschichte“ auf dem Klavier zu erzählen und Volodos´ faszinierendes Vermögen, die Musik in allen Facetten punktgenau auszuleuchten, sprechen für sich selbst. Aber eben auch Pollinis konträre Sicht. Bei ihm wird die Sechzehntel zum Antrieb, zum Motor und Drang, über die melodischen Phrasen unruhig hinauszudrängen. Wie schon in seiner grandiosen ersten Schubert-Platte merkt man hier die romantische Morgenstimmung des revolutionären Aufbruchs, die sich in der Literatur etwa in Eichendorffs Roman Ahnung und Gegenwart findet. Pollinis Schubert ist damit Beethoven näher, hat einen durchgehenden dramatischen Puls und Fluss. Die Synthese der Gegensätze, die Balance zu finden zwischen melodischem Kreisen und dramatischem Vorwärtsdrängen, gelingt ihm meisterhaft. Wunderbar seine Schattierungen wie auch die an Artur Rubinstein erinnernde Natürlichkeit. Wenn man so will, tendiert die Interpretation der beiden Russen zur geschlossenen Form, die immer auf sich zurück deutet, Pollinis fließend-dramatischer Ansatz zur offenen Form, die überall über sich hinausweist. Das sind gewissermaßen zwei gleichermaßen authentische Schubert-Gesichter, eine Janusköpfigkeit, welche die Musik selber zeigt in ihrem romantischen Weiterdenken von Beethovens Sonatenprinzip.


    Überrascht hat mich der Beitrag von Sohn Daniele Pollini, seine Interpretation der Moments musicaux. So gewissenhaft und sorgfältig durchgestaltet mit Tiefgang und der Fähigkeit, die tragischen Gegensätze bei Schubert herauszuarbeiten braucht diese Aufnahme keinen Vergleich zu scheuen. Hier wandelt Sohn Daniele auf den Spuren des Vaters! Ich finde das ganz großartig! Die Fantasie f-moll für Klavier vierhändig ist eine ungewöhnliche und schwer beeindruckende Komposition. Gerade auch deswegen, weil es Schubert meisterhaft versteht, der Schwäche vierhändiger Klaviermusik zu entkommen, dem „Klappern“ in der Verdopplung, indem er dem Klavierklang die Dimension der Fülle einer Orgel gibt. Und das Zusammenspiel von Vater und Sohn Pollini ist beeindruckend. Ein schöneres Abschiedsgeschenk hätte uns Klavierbegeisterten Daniele Pollini nicht machen können mit der Veröffentlichung dieser gemeinsamen Aufnahme mit dem Vater!

  • Nachtrag: Pollini und Schuberts G-Dur Sonate – Salzburg 1991 und München 2022


    Die Sphinx stellte dem Menschen ein im Grunde unlösbares Rätsel – nämlich das seiner Selbsterkenntnis. Die den Tod bringende Rätselfrage lautete bekanntlich: Welches Wesen geht zuerst auf vier, dann auf zwei und schließlich auf drei Beinen? König Ödipus löste es auf: Es ist der Mensch. Zuerst krabbelt er als Baby auf allen Vieren, dann steht er da im aufrechten Gang und schließlich in der Gebrechlichkeit des Alters braucht er als drittes Bein den Stock. Für Künstler gilt gerade dieses Rätsel der Selbsterkenntnis – allerdings haben sie im Alter keinen Stock, der sie stützt, wenn die Stimmbänder nicht mehr so flexibel sind und der Klang der Stimme nicht mehr schön oder bei einem Pianisten die Finger nicht mehr so wie mit Öl geschmiert laufen und präzise auf die Tasten hämmern. Der alte Künstler ohne Stock wird dann zum Gespött von hochnäsigen Kritikern, die sich wichtig tun wie auch neidischen jüngeren Kollegen, die einfach keine vergleichbare Lebensleistung vorzubringen haben, sich dafür aber nun rächen durch das Ressentiment: Hat er nicht kapiert, dass er besser längst hätte aufhören sollen? Auch ein Pollini ist doch gar nicht so überragend, wie es scheint! Dem „alten“ Pollini unterstellte man gerne, dass er nicht mehr wüsste, was er tut, sondern statt sich selbst zu pensionieren durch das Künstler-Arbeitsleben so durchmogeln würde, also einfach eine Pedalsoße über alles gießt und zu doof ist zu merken, dass er nur noch ein Schatten seiner selbst ist und eine Peinlichkeit für seine geduldigen Zuhörer. Ich finde das einfach nur ärgerlich und ungebührlich. Über menschliche Schwächen – auch die eines Künstlers in seiner Kunst – darf man freilich reden. Nur wenn dies die eigentliche Sache ganz und gar verdrängt, nämlich die Frage nach dem Gewicht und dem Wert der Interpretation, wird es ärgerlich – und respektlos. Ein so bedeutender Künstler wie Maurizio Pollini hat es verdient, dass man ihm auch im Lebensalter des Stockes als Interpreten und Künstler Ernst nimmt. Weder hat er hämische Kritik noch den pseudo-gönnerischen Gestus herablassenden Mitleids verdient. Ich beschränke mich deshalb darauf, Pollini mit Pollini zu vergleichen. Zwischen den Aufnahmen in Salzburg 1991 und München 2022 liegen mehr als drei Jahrzehnte und es zeigt sich, dass Pollini in beiden Fällen der Pollini ist, der er gewesen ist und immer war.


    Zunächst aber zwei grundsätzliche Vorbemerkungen.


    Die erste: H.H. Eggebrecht charakterisierte die Entwicklung der Musik einmal als eine von der musikalischen Rhetorik über die „Entrhetorisierung“ in der Romantik bis hin zur „Entsprachlichung“ in der Neuen Musik. Der Romantiker Ludwig Tieck sprach davon, die Musik sei so lange nicht frei, wie sie „erhöhte Deklamation und Rede“ bleibe. Das zeigt sich im Falle der Pianistik nicht zuletzt im Vortragsstil, wie er auch bis heute in der akademischen Lehre gepflegt wird. Rhetorisch ist, der Musik dadurch zur Ausdrucksstärke verhelfen zu wollen, indem man die Musik nicht einfach sein lässt, wie sie ist, sondern ständig glaubt, etwas mit ihr „machen“ zu müssen. Der rhetorische Vortrag pointiert, setzt Akzente, arbeitet mit leichten expressiven Übertreibungen und will damit dem Zuhörer das deutlich und aufregend überdeutlich auffällig machen, was an musikalischen Gehalten zwar da ist, aber so noch keinen Auffälligkeitswert hat. Der rhetorische Stil redet nicht einfach, er artikuliert mit „Deutlichkeit“ (Gustav Mahlers Wort), so dass er den Hörer mit der Nase sozusagen auf die musikalischen Dinge stoßen lässt. Horowitz sagte mal: „Im Konzert musst du immer ein bisschen übertreiben!“ Man kann nun auch bei Schubert rhetorisch zeigen, wie aufregend ungewöhnlich das Ungewöhnliche bei ihm ist, es also als musikalische „Sensation“ präsentieren, so dass der Hörer tief seufzend sagen kann: „Oh, ist das aber aufregend schön!“ Bezeichnend dafür ist der natürlich hoch musikalische und faszinierende, aber eben auch sehr manierierte Vortrag des Finalsatzes der G-Dur Sonate von Daniel Barenboim – leider ist seine Schubert-Box schon vergriffen, so dass man auf das Youtube-Video zurückgreifen muss. Barenboim kostet jede Wendung genüsslich aus, so, als sei Schuberts Musik ein Garten von lauter seltenen Blumen und Blüten, die der Gärtner sich daran berauschend jede einzeln abpflückt. Das ist musikalische Rhetorik, die sich immer – dies ist für den rhetorischen Stil konstitutiv – an der Grenze zum Manierismus bewegt. Im Finalsatz gibt es die Stelle Takt 178 bis 180, eine harmonische Wendung, die in der Tat aufregend wirken kann. Selbst Vladimir Ashkenazy, der einen eher „objektiven“ Vortragsstil pflegt, hebt sie hervor durch eine zeitliche Dehnung. Pollini blieb dieser rhetorische Stil, geprägt von der „Neuen Sachlichkeit“ der 1960iger und 1970iger Jahre, immer fremd. Die Aussage der Musik in ihrer Aussagekraft zu steigern und übersteigern durch das Kunstmittel dosierter Übertreibung, dieses Gestaltungsmittel hat er sich Zeit seines Lebens quasi verboten. Man höre seine Aufnahme aus Salzburg von 1991! Er spielt Takt 178 bis 180 einfach die Noten, wie sie da stehen ohne jede Übertreibung. Pollini „macht“ nichts, er lässt die Musik durch sich selber sprechen. Und die Stelle wirkt auch so – ganz ohne rhetorische Aufputschmittel. In seiner letzten Aufnahme 2022 bleibt er sich hier absolut selber treu, spielt also wiederum einfach notentexttreu. Nur ist sein Tempo jetzt deutlich geschwinder als 1991 und die Stelle kann sich entsprechend als „singulärer Moment“ nicht mehr herausheben. Darauf wird noch einzugehen sein. Eins ist aber sicher: Das alles hat nichts und rein gar nichts mit „Altersschwäche“ oder interpretatorischer Einfallslosigkeit zu tun, sondern ist nur die Konsequenz aus einem Vortragsstil, der jegliche Art von rhetorischen Kunstmitteln dosierter Übertreibung meidet. Hier ist der alte Pollini einfach sich selber treu geblieben.


    Die zweite Bemerkung betrifft Pollinis Altersstil, die Musik beim Vortrag „in Fluss“ zu bringen und stets im Fluss zu halten. Bei Schubert ist das einfach authentisch. Wilhelm Kempff gehört zu der Generation von Pianisten, die von Beethoven geprägt große Schwierigkeiten mit Schuberts Klaviersonaten hatte. Kempff beschreibt, wie er sich den Sonatenkosmos von Schubert schließlich erschlossen hat, nämlich dadurch, Schubert als Antipode von Beethoven zu begreifen. Bei Beethoven geht es um die „Architektur“, das Denken in Kontrasten und formalen Komplementaritäten, bei Schubert dagegen herrscht das melodische Flussprinzip.


    Und damit kommen wir zu Pollinis Aufnahme der G-Dur-Sonate aus Salzburg 1991. Ich finde diese Aufnahme grandios in ihrer Klassizität! Das ist ein im wahrsten Sinne des Wortes „klassischer“ Schubert. Das Tempo im Kopfsatz ist damals merklich langsamer als in seiner letzten Aufnahme. Pollini betont die abgeschlossenen Phrasen, die Korrespondenzen, den dynamischen Aufbau, die Kontraste und Gegensätze. Das wird alles mit der von ihm gewohnten hohen und höchsten Präzision und einem großen Spektrum von Kraftanspannung und lyrischer Zartheit bewältigt. Hört man sich nun im Vergleich die Aufnahme von 2022 an, dann ist von der musikalischen Struktur her immer noch alles da, was 1991 schon zu hören war. Es geht also nichts verloren! Nur spielt Pollini nun weniger „klassisch“ die formale Architektur betonend, sondern dynamisiert romantisch: Die klassischen Kontraste werden entsprechend zu Lichtreflexen in einem fließenden Kontinuum. Die Konturenschärfe der Phrasen ist sehr wohl vorhanden, nur wird sie gleichsam sachte angedeutet, um den Bewegungsfluss nicht zu stören, den leise alles durchziehenden drängenden Puls. Was steht als Motto über Schumanns Phantasie op. 17? „Durch alle Töne tönet/ Im bunten Erdentraume/ ein leiser Ton gezogen/ für den, der heimlich lauschet“. Diesen durchtönenden „leisen Ton“ vernimmt man eben nur, wenn der „bunte Erdentraum“ in seiner Buntheit nicht zu bunt wird. Die alles durchziehende Grundstimmung herauszuarbeiten gelingt letztlich nur durch das gestalterische Mittel der Kontrastminimierung. Genau das macht Pollini 2022. Wenn man das nur als Symptom von Altersschwäche deutet, dann hat man freilich schlicht die spezifisch romantische Semantik gerade auch in formaler Hinsicht nicht verstanden.


    Der langsame Satz unterscheidet sich so gut wie nicht 1991 und 2022. Pollini spielt schlicht. Für ihn ist diese Sonate eine Art Pastorale im Geiste von Jean-Jacques Rousseau – die vollkommen ungekünstelte, einfache und schlichte Melodie als Ausdruck des „Zurück zur Natur!“ Das Scherzo hat bei Pollini 1991 immense Kraft und Wucht, die ihm damals physisch zur Verfügung stand. 2022 wirken die Kontraste merklich gemildert, der jugendliche Kraftüberschuss ist nicht mehr da. Aber auch das ist nicht nur privativ – wenn man nur genau hinhört. Die leise Aufgeregtheit in den Piano-Oktaven Takt 9 ff. ist neu in Pollinis letzter Aufnahme. Damit zeigt sich wiederum der alles durchziehende „leise Ton“, die romantisch-einheitliche Grundstimmung des Ganzen, die man hier freilich in der Lage sein muss herauszuhören. Die Aufnahme von 1991 in ihrer Klassizität ist klassisch präsent mit allem was dazu gehört – der Klarheit und Präzision. Die 2022iger Aufnahme ist weniger dynamisch, weniger glasklar, dafür aber romantisch hintergründig. Der „Verlust“ bedeutet beim „alten“ Pollini eben keine bloße privatio, sondern zugleich einen musikalischen Gewinn.


    Am deutlichsten wohl unterscheidet sich Pollinis Gestaltung des Finalsatzes in beiden Aufnahmen. Das zeigt sich an der Gestaltung des für Schubert so typischen Motivs mit den Tonrepititionen. 1991 in Salzburg „klopft“ dieses Motiv eigentlich nur wie bei so vielen anderen Interpreten auch. Pollini spielt hier technisch perfekt und exakt. 2022 im deutlich angezogenen Tempo werden auf einmal die Töne verwischt, wenn nicht gar verschluckt. Eine Frage nur von nachlassender Fingerbeweglichkeit? Nein! Pollini wollte offenbar kein „klassisches“ Rondo-Finale mehr spielen wie 1991. Er dynamisiert und romantisiert. So verändert dieses Klopfmotiv auch seine Bedeutung. Klassisch gedacht wie im Salzburger Konzert 1991 ist das Motiv ein thematisches Motiv, das mit seiner amelodischen Klopfrhythmik mit der fließenden Melodik korrespondiert. Deswegen klopft es auch klar und sauber um den thematischen Kontrast und die Komplementarität zu unterstreichen. Man sollte hier Pollinis musikalischen Verstand nicht unterschätzen. Pollini war ein Grenzgänger von Klassik und Moderne, ein Interpret nicht nur von Beethoven und Schubert, sondern auch der Klavierstücke Karlheinz Stockhausens, wo es die Spielanweisung gibt „... ohne Rücksicht auf nicht anspringende Tasten“. Diese Rücksichtslosigkeit in Bezug auf die Anschlagspräzision hat also ihren musikalischen Sinn. In der Aufnahme von 2022 wird das Motiv wie es seinem Wortsinn entspricht – lat. movere heißt bewegen – zum „Bewegungs“-Motiv, zum Bewegungsreiz, der die Lust am Sich-Fortbewegen weckt: „Das Wandern ist des Müllers Lust!“ Und dazu taugt ein pedantisches Auf-der-Stelle-klopfen nicht, weil es diesen Bewegungsreiz schlicht abtötet. Die Ungenauigkeit hat hier also einen formdynamischen Sinn. Der Eindruck von Pollinis Vortrag 2022 ist ein rastloses Vorwärtstreiben, das die Rondo-Einschnitte sozusagen überspielt, auch wenn sie noch da sind. Pollini macht aus den Einschnitten und Einteilungen „ineinanderspielende Einteilungen“ (der Ausdruck stammt von Ernst Kurth) – der Verlust an „Deutlichkeit“ hat also seinen Sinn und seine Bedeutung in der formdynamischen Anlage von Pollinis Sicht auf diesen Satz von Schubert. Bezeichnend ist der Schluss. Peter Cossé lobt Vladimir Ashkenazys DECCA-Aufnahme von 1970 für seinen Formsinn gerade im Finale. Das auch zu Recht. Ashkenazy macht den Schluss des Satzes plausibel, gestaltet ihn als den Schlusspunkt einer Art Coda. Und Pollini? Bezeichnend unterschlägt er die „Schlussbekräftigung“, die Schubert durch die Notierung un poco piu lento in den letzten Takten andeutet. Es ist ausgeschlossen, dass ein so intelligenter und gewissenhafter Musiker wie Maurizio Pollini das einfach überliest. Wenn er hier Schuberts Spielanweisung nicht folgt, dann mit voller interpretatorischer Absicht. Bei Pollini schließt dieser Satz nicht, er hört auf oder bricht ab, so ähnlich wie die Ballettmusik Jeux von Claude Debussy. Es gibt kein „klassisches Ende“ mehr wie in einer Klaviersonate von Beethoven, sondern die Musik läuft einfach irgendwann aus. Das ist letztlich romantischer Geist, das Wissen um die prinzipielle Unabschließbarkeit der Lebensreise, was der altersweise Maurizio Pollini hier einbringt: Das Leben ist nicht des Philisters Fahrt vom Buttermarkt zum Käsemarkt, sondern eine unendliche Reise in das Himmelreich (Josef von Eichendorff).


    Gleichwohl beglückt mich Pollinis Finallösung letztlich doch nicht völlig. Pollinis Dynamisierung dramatisiert und nimmt Schuberts Musik damit ihren episch-episodischen Charakter unvorhersehbarer überraschender Wendung. Die aufregende harmonische Wendung Takt 178-180 wird bezeichnend überspielt, vom dramatischen Fluss aufgesogen. Es gibt kein Halten bei Pollini in diesem Satz. Hier muss ich sagen, geht die interpretatorische Gewinn-Verlustrechnung für mich dann doch nicht ganz auf. Man vermisst bei Pollini den Mut des späten Michelangeli zu radikaler Subjektivität, welche abgründig Risse schafft in der klassisch-romantischen Fassade des Nur-Schönen. Es spricht freilich für die unanfechtbare musikalische Integrität Pollinis, dass er die klassische Gelassenheit und Distanziertheit nicht gleichsam unterwandern will. Seine behutsame Andeutung von Ausdrucksintensität, mit der er den klassischen Rahmen wahrt, wirkt deshalb aber auch etwas zu verhalten um nicht zu sagen ausdrucksarm. Pollinis Altersreserviertheit ist eine Noblesse, die vielleicht bei symbolistischem Debussy treffend wäre, aber weniger bei ausdrucksintensiver Romantik wie dem späten Schubert angemessen scheint. Statt Gebrochenheit auszudrücken bleibt Pollinis Schubert trotz drängender Unruhe in der musikalischen Bewegung dann doch ungebrochen „schön“. Auch 2022 kommt Pollinis sehr „ästhetische“ Interpretation deshalb – trotz aller Romantisierung und Dramatisierung – nicht über die Naturnaivität einer Pastorale hinaus.

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  • Reflexionen zum Jahreswechsel 2024/2025


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    Vor Weihnachten hat meine Kopfhöreranlage einen neuen CD-Spieler als Zuspielgerät bekommen: einen Marantz CD 60, der meine bisherige Kombination – einen in diesem Jahr 2025 sage und schreibe 35 Jahre alten Marantz CD 80 als Zuspiellaufwerk in Kombination mit einem italienischen DAC, dem Northstar Design Essensio – nun ersetzt. Der Marantz CD 80, ein Panzerschrank von 15 kg, läuft zwar auch nach Jahrzehnten von absolviertem Arbeitspensum so zuverlässig wie am ersten Tag, nur wird dieses Oldtimer-Laufwerk irgendwann einmal seinen Dienst versagen und ist dann irreparabel. Bevor wegen des dramatischen Rücklaufs von CD-Verkäufen in absehbarer Zeit die bezahlbaren und zugleich guten und soliden CD-Spieler alle vom Markt verschwinden, habe ich mir so also rechtzeitig ein hochwertiges Ersatzgerät gesichert. Der andere Grund für diesen Neukauf war meine schon länger anhaltende Unzufriedenheit mit der bisherigen Kopfhöreranlage. Im Allgemeinen stimmt es zwar, dass man einen CD-Player mit veralteter Wandlertechnik mit einem externen DAC auf dem aktuellen Stand der Wandlertechnik aufwerten kann. Doch ist das Kopfhörerhören doch anders als das über Lautsprecher. Das Ohr reagiert beim Kopfhörer sehr empfindlich auf Inhomogenitäten. Ich habe Monate experimentiert, mir zuletzt noch ein anderes Digitalkabel gekauft – aber die mich immer wieder störende klangliche Inhomogenität nicht wegbekommen können. Meine Erfahrung ist – und das würde ich auch jedem Kopfhörerliebhaber inzwischen empfehlen – für die Kopfhöreranlage einen kompletten CD-Spieler zu verwenden und keine Laufwerks-Wandler-Kombination – wenn es sich nicht um perfekt aufeinander abgestimmte Geräte handelt wie bei meiner nun auch schon betagten AVM Laufwerks-Wandler-Kombi.


    Das Auspacken des Marantz CD 60 macht schon Freude, hier zu sehen in einem Video:


    https://www.youtube.com/watch?v=2kyLPp9VmUE


    Sehr wertig alles! Zuerst begegnete mir beim Auspacken die Rückfront – die macht Eindruck mit den Marantz-typischen verkupferten Schrauben (ein Erbe des inzwischen verstorbenen legendären Marantz-Entwicklers Ken Ishiwata). Die Verarbeitung ist sehr gediegen! Dann drehe ich das Gerät um. Die Frontseite, die ich nun zu Gesicht bekomme, ist vom Design her ganz sicher originell und erkennungstypisch für die Marke Marantz. Das war den Designern wohl wichtig. So richtige Begeisterung will dieses Industrie-Design bei mir dann aber doch nicht auslösen – es ist sicher ein gutes Design, aber auch keines, was ich „erhaben“ nennen würde, dass es unbedingt einen Schönheitspreis gewinnen könnte. Aber darauf kommt es letztlich auch nicht an. Das Gerät wiegt immerhin 8 kg – für heutige Verhältnisse ist das viel, gemessen am 35 Jahre alten CD 80 aber etwas mehr als nur das halbe Gewicht. Sehr vertrauenerweckend ist die sanft, leise und butterweich ein- und ausfahrende CD-Schublade aus allerdings etwas dünnem Plastik. Das sind halt die Kompromisse, die man bei diesem Preis machen muss.


    Zu meckern habe ich eigentlich nur an zwei Dingen: Die Standby-Schaltung ist beim CD 60 nicht abschaltbar, dafür muss man den Stecker ziehen – anders als bei meinem Denon DCD 1600 NE im Wohnzimmer an der großen Anlage. Beim Denon kann man das Gerät per Knopf komplett ausschalten. Der Nachteil der fehlenden Möglichkeit der Abschaltung per Knopf zeigt sich, wenn ich mit der Fernbedienung den alten CD 80 bediene, welcher nun von der Kopfhöreranlage getrennt dafür frei ist, meine Desktop-Anlage mit CDs zu versorgen. Die Fernsteuerung des CD 80 schaltet dann den CD 60 gleich mit ein, wenn man nicht den Stecker gezogen hat. Was mir an der Fernsteuerung gefällt ist die einfache Bedienung des Menüs. In einem Test steht fälschlich, dass man beim CD 60 den klanglich sehr ordentlichen Kopfhörerverstärker abschalten könne. Nein, es ist natürlich der digitale Ausgang, der per Fernsteuerung auf „ein“ oder „aus“ geschaltet werden kann! Wie schon vor 35 Jahren braucht man bei der Marantz-Fernsteuerung bei Tracks höherer Zahl als 10 einfach nur bequem schnell die Ziffern hintereinander drücken. Das Laufwerk – ich vermute, es ist ein einfacheres von Denon, denn Denon und Marantz sind heute ein Konzern – erlaubt allerdings nicht mehr die Anzeige-Umschaltung auf die Restzeit des laufenden Titels und die Gesamtspielzeit der CD wie vor 35 Jahren beim CD 80. Aber damit kann man leben!


    (Noch ein kleiner Kritikpunkt als Nachtrag. Er betrifft die Anordnung der Knöpfe auf der Fernsteuerung. Man kann die CD-Schublade per Fernsteuerung ein- und ausfahren. Nur ist der Knopf so dicht gleich neben dem Ausschaltknopf platziert, so dass man sehr aufpassen muss, nicht versehentlich das Gerät abzuschalten. Etwas mehr Abstand zwischen den Knöpfen, um solch ein Malheur aus Unachtsamkeit zu vermeiden, wäre hier besser.)


    Und wie klingt es? Meine Eindrücke bisher: fantastisch, ein klanglicher Glücksgriff also! Ich wähle übrigens nicht wie im Test empfohlen den „weichen“ Filter 2, sondern den vom Hersteller als Standard empfohlenen Filter 1. Filter 2 hemmt die Impulsschnelligkeit, die Bässe hinken etwas nach. Der Marantz CD 60 klingt tonal heller als die Kombi CD 80 als digitales Zuspiellaufwerk betrieben mit dem Northstar-DAC. Genau das ist aber für mich richtig. Denn ich bin von Stax-Kopfhörern sowie der Elektronik von Yamaha und AVM klanglich geprägt, kann einen „eingedunkelten“ und irgendwie schönfärberischen Klang deshalb kaum ertragen – im Kopfhörer schon gar nicht. Es passt also. Der Kopfhörerverstärker des CD 60 ist erstaunlich gut, kommt aber natürlich bei weitem nicht an das Niveau meines separaten Kopfhörerverstärkers Lehmann Audio Linear heran, der zudem mit einem absoluten Top-Kabel, dem Audioquest Water, mit dem CD 60 verbunden ist, ein Kabel, das freilich fast so viel kostet wie der ganze CD-Player, aber für die Farbigkeit sorgt und dafür, dass trotz einer gewissen Aufhellung die Hochtonwiedergabe des CD 60 nie „kühl“ oder aggressiv wirkt wie auch eine ungemein substanzreiche und differenziert-präzise Basswiedergabe.


    Wenn man ein neues Gerät hat, hört man sich durch seine ein Leben lang gehörten Aufnahmen durch, nimmt sich seine „Testmusiken“ vor, die man in und auswendig kennt. Und je mehr ich mich „einhöre“ in das neue Gerät, desto begeisterter bin ich. Beim Kopfhörer nervt, wenn man ständig gezwungen ist am Lautstärkeregler zu drehen, die leisen Stellen lauter und die lauten leiser machen muss. Das muss ich nun mit dieser meiner Kopfhöreranlage gar nicht. Sie klingt immer locker, luftig und unangestrengt entspannt: Die Dynamikspitzen schmerzen nicht in den Ohren und im ganz Leisen wird jeder Winkel atemberaubend klar ausgeleuchtet. Dazu kommt die Lebendigkeit – ich realisiere endlich, dass ich einen französischen Kopfhörer habe, den Focal Clear, es klingt „vif“, ohne je aufdringlich knallig zu sein.


    Das größte Glücksgefühl mit einem neuen Gerät oder einer neuen Anlage ist, wenn man sich seine „Lieblingsplatten“ aus der großen Sammlung holt, also die Aufnahmen, die man unzählige Male gehört hat und dann frappiert feststellt: So gut hast Du sie aber noch nie gehört! – oder gar das Gefühl hat: Jetzt erst höre ich diese Aufnahme richtig! So ging es mir mit Horowitz in Moskau, mit Michelangelis später DGG-Aufnahme der Mozart-Klavierkonzerte aus Bremen und auch dem Mitschnitt aus Tokyo von 1973, wo ABM u.a. Valses nobles et sentimentales spielt. Atemberaubend die Räumlichkeit insbesondere bei den Life-Aufnahmen: Man bekommt die Illusion, beim Konzert sei man im Saal dabei, so realistisch gibt der CD 60 die Raumakustik z.B. der Bremer „Glocke“ wieder. Die Feinauflösung ist atemberaubend und der vollkommen klare Hochtonbereich vermittelt wirklich die „Atmosphäre“ des Aufnahmeortes, wogegen die meisten Wiedergaben auf Tonkonserve, die man im Ohr hat, eher glanzlos „stumpf“ wirken. Das Kopfhörerhören bekommt damit eine eigene Qualität, ist nicht nur ein Kompromiss, sich unter die Ohrmuscheln zu verkriechen, wenn man mit der großen Lautsprecheranlage nicht immer „Krach“ machen kann.


    Beindruckend auch, wie genau man mit dem Marantz CD 60 die verschiedenen Remasterings und Abmischungen derselben Aufnahme oder die Unterschiede von Original-CD, CD-R und einer hochwertigen UHQCD nachvollziehen kann. Die Geigen klingen immer samtig geschmeidig mit dem CD 60, haben niemals diese störende drahtige und gläserne Härte wie bei vielen anderen Wiedergabeketten, ohne dass aber irgendwelche Kanten glattgebügelt oder etwas aufgeweicht würde. Alles in allem ist das einfach ein perfekt ausgewogenes, großräumiges Klangbild, zugleich feinzeichnend und geschlossen. Für die Kopfhöreranlage ist dies somit ein ideales Arbeitsgerät! An die etwas hellere „Temperatur“ des CD 60 gewöhnt man sich so schnell, zumal etwas Mitten lastige, leicht undurchsichtige Aufnahmen nun ungemein klar und sauber klingen, strahlenden Glanz bekommen, wie z.B. die CD-Erstausgabe von Horowitz DGG-Aufnahme der „Kreisleriana“. Was die eigentlich „richtige“ Temperatur ist, etwas dunkler oder heller, ist sowieso eine Frage, die sich kaum „objektiv“ beantworten lässt. Wenn man einen Steinway-Flügel aus dem Konzert kennt oder ihn selber angespielt hat, klingt er nie so dunkel wie auf manchen CDs. Da hat die Tontechnik ein klangliches Kunstprodukt geschaffen – und nur das können wir letztlich bewerten. Im Test wurde der Marantz CD 60 als „neutral“ klingend bewertet. Ich würde es „ausgewogen“ nennen mit einer leichten Tendenz zur Aufhellung. Wirklich perfekt „ausgewogen“ ist letztlich nur meine AVM-Kette, die in keiner Richtung irgendwie über- oder untertreibt, einfach unglaublich homogen, wie „aus einem Guss“, klingt – das ist wirkliches „High-End“, wofür man dann aber auch entsprechend bezahlen muss. Für einen Player, der derzeit kaum mehr als 700 Euro kostet (Listenpreis laut Marantz: 1000 Euro), ist der Klang des Marantz CD 60 jedenfalls einfach märchenhaft gut und die reine Freude zu hören.


    Zum Schluss eine CD-Empfehlung und eine Bemerkung zum diesjährigen Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker.



    Vaclav Neumann, für mich war er immer einer der Dirigenten, die ich am meisten geschätzt habe, wird offenbar bei uns erst jetzt entdeckt. Es erschien dieser Konzertmitschnitt aus Luzern, der ein seltenes Dokument der Auslandstourneen der Tschechischen Philharmonie ist. Von Neumann gibt es drei Studioaufnahmen der Dvorak-Symphonien, darunter auch der 8., zwei bei Supraphon und eine nach der Wende 1989 gemachte – die Aufnahmen erschienen beim Label Exton. Dieser Mitschnitt der 8. Dvorak von 1988 ist nun der vierte, den ich habe. Die wirklich sehr hörenswerte Aufnahme (ich ziehe Neumann hier eindeutig der natürlich auch sehr guten Aufnahme von Herbert v. Karajan vor) lohnt sich auch wegen des sehr aufschlussreichen Klappentextes zu haben, mit schönen Fotos und interessanten biographischen Hinweisen zu Vaclav Neumann. Die Aufnahme ist für den ICMA (International Classical Music Awards) 2025 in der Kategorie „Historische Aufnahmen“ nominiert. Klangtechnisch ist das sehr gut – der Klang ist etwas „dunkler“ als die Aufnahmen aus dem Rudolphinum in Prag, allerdings gerade richtig für meinen neuen Marantz CD 60 mit seiner großen Klarheit, der das Dunkel trefflich etwas aufhellt.


    Jedes Jahr ist das Neujahrskonzert eine wahre Freude – endlich Tanzmusik mit wirklicher Kultur und geprägt von gutem Geschmack als Erholung von der Quälerei durch den geschmacklosen und musikalisch nichtigen Pop-Musik-Mist von heute, dem man zu Silvester nicht entkommen kann. Diesmal war es beim ZDF besonders gräuslich mit diesem unterirdischen „Popo“-Song als letztem musikalischem Gruß für das ablaufende Jahr: „Musik“ wirklich zum Hintern abputzen! Damit verabschiedete man das alte Jahr so geschmacklos, wie es geschmackloser nicht geht. Vielleicht hat es das abgelaufene Jahr 2024 aber auch nicht besser verdient, das u.a. mit der bedenklichen Geschmacklosigkeit aufhorchen ließ, dass das Volk einen verurteilten Straftäter zum Präsidenten der USA meinte wählen zu müssen. Dieses Jahr dirigierte Ricardo Muti in Wien. Zu Recht – es war letztlich die Genugtuung dafür, dass er es auf sich nahm, das Corona-Neujahrskonzert ohne Publikum zu dirigieren. Muti ist ein Altmeister und Perfektionist. Er dirigierte ungemein präzise und machte alles „richtig“. Die große Rührung und Begeisterung gerade beim abschließenden Donauwalzer wollte bei mir aber auch nicht aufkommen.


    Also habe ich nachgehört. Irgendwann vor vielen Jahren erwarb ich die Doppel-CD vom Neujahrskonzert 1997, das damals ebenfalls von Ricardo Muti dirigiert wurde. Mit meiner neuen Kopfhörer-Anlage schließlich verglichen habe ich die Muti-Aufnahme mit Herbert von Karajan und Carlos Kleiber. Obwohl Muti heute alterserfahren noch ausgefeilter dirigiert, ist sein Interpretationsansatz über die vielen Jahre derselbe geblieben – ein nüchtern-präziser Objektivismus. Hört man im Anschluss Herbert von Karajans Aufnahme, wird deutlich, was Muti fehlt: Karajan ist nicht weniger hyperpräzise, doch verbindet sich bei ihm die Präzision mit der Intuition, die Musik „schwingt“ walzerselig in großen Bögen, ohne dass Karajan die Zügel auch nur den kleinsten Moment locker lassen oder aus der Hand geben würde. Das ist einfach berührend schön – eine, man kann es nicht anders sagen, ideale und zeitlos gültige Interpretation des Donauwalzers. Und wo Carlos Kleiber die Stimmungswechsel von Verträumtheit und erwachender Tanzeslust spürbar werden lässt mit seinem Enthusiasmus, ereignet sich bei Muti einfach nichts. Es bleibt alles gleichsam uniform, ein perfekt ausphrasiertes aber auch emotional eher lebloses Grau in Grau. Für mich sind Karajan und Kleiber nach wie vor die Neujahrskonzerte, welche die Maßstäbe setzen. Man sieht: Obwohl die Wiener Philharmoniker ihren Donauwalzer im Schlaf spielen können, setzt der jeweilige Dirigent die entscheidenden Akzente.