Aufgespießt. Dr. Kalethas Kuriositätenkabinett. Humoristische und ernst gemeinte Antworten auf Merkwürdigkeiten

  • 1. Werktreue und Antisemitismus


    „Du sollst nicht die Ehe brechen!“ – sagt eines der Zehn Gebote. Wenn im Männlein oder Weiblein die Hormone sprießen, gehen sie vielleicht fremd. „Treu“ sind diese Fremdgänger ihrem Ehepartner dann allerdings nicht mehr. Ich glaube, Jedermann versteht ganz leicht diesen Sinn – sogar dem Fremdgänger, der nicht „bibelfest“ ist, wird sich der Sinn dieser Moral nicht verschließen. Was sich mir allerdings nicht erschließt, ist die folgende, sehr merkwürdige Reductio an absurdum:


    „Wer „werktreu“ sein will, muss auch zum Antisemiten werden, wenn der Antisemitismus im Werk steckt. Weil man aber natürlich kein Antisemit sein kann und darf, kann auch Werktreue kein Gebot sein.“


    Ist dies nicht einleuchtend mit Blick auf Richard Wagner?


    https://www.handelsblatt.com/a…wagners-werk/8217944.html


    Das „Argument“ ist: Wer „werktreu“ sein will, müsse zwangsläufig in alle Fallen tappen, die das Werk aufstellt, also auch die des Antisemitismus. Man sei also verpflichtet, einer Judenkarikatur bei Wagner „auf den Leim“ zu gehen, nimmt man es mit der „Treue“ Wagners Werk gegenüber wirklich genau. Die Schlussfolgerung ist aber ganz einfach falsch. Treue in der Ehe heißt ja auch nicht, dass man schlechterdings alles akzeptieren und für richtig befinden müsste, was der Ehepartner tut. Würde das Argument stimmen, dann bestände die Treuepflicht selbst gegenüber der schlechten Tat eines Fremdgängers, d.h. die betrogene Ehefrau oder der betrogene Ehemann müsste diese Verfehlung ihres Partners uneingeschränkt akzeptieren. Das ist aber offensichtlich absurd und zeigt: Genauso wenig, wie die Treue zu einer Person zu verwechseln ist mit der Treue gegenüber allem und jedem, was diese Person tut, ist die Treue zum Werk gleichzusetzen mit einer vermeintlichen Treue gegenüber allen Teilen und einzelnen Bestandteilen eines Werks. Und: Zur Treue gehört letztlich auch die Verantwortung im Sinne einer Sorgeverpflichtung, die man für den Anderen übernimmt, ihn vor Dingen zu bewahren, die ihm selber schaden: Wer fremdgeht, wird sich selber untreu und untergräbt seine eigene Moral. Wagners Ring ist nunmal nicht Jud Süß. Das antisemitische Propaganda-Machwerk der Nazis führt man einfach nicht mehr im Kino vor und kann es nicht vorführen, weil es durch und durch verlogen ist, eine antisemitische Verführung. Wagners Ring dagegen hat uns auch heute noch etwas Wesentliches zu sagen und wird deshalb aufgeführt. Wer wirklich „werktreu“ ist, schützt das Wesentliche und Bewahrenswerte vor dem Unwesentlichen und Vergänglichen, also Wagner vor sich selbst und in Bezug auf Wagners Werk das, was es zu einem wirklich großen Werk macht, vor dem, was es klein erscheinen lässt und ihm seine Größe nimmt: hier vor seinen antisemitischen Konnotationen. Das kann freilich auf sehr unterschiedliche Weise geschehen. Nur eines kann man nicht, ignorieren, dass zur Tiefe von Wagners künstlerischer Schöpfung auch die Peinlichkeit der Untiefe des Antisemitismus gehört wie zwei Seiten ein und derselben Medaille. „Werktreue“ gegenüber einem Werk mit antisemitischen Zügen zeigen heißt deshalb, dass man auch diese „problematische“ Seite des Werks verbindlich nimmt – (Werk-)Verbindlichkeiten sind nämlich sowohl das Unproblematische wie das Problematische. Beides gehört untrennbar zusammen. Sowohl auf das Unproblematische wie auch die „Problemzonen“ des Werkes heißt es deshalb eine verbindliche Antwort zu geben – beim Problematischen ist die Antwort dann allerdings unausweichlich eine kritische Antwort.


    Um es am Beispiel von Richard Wagner zu demonstrieren: Auch Jens-Malte Fischer wird nicht behaupten, dass Loge nur eine Judenkarikatur ist. Kritik kommt von griech. krinein, was auf Deutsch heißt: trennen, scheiden. Die Figur ist vielschichtig und die Aufgabe der Inszenierung ist es deshalb, das Unproblematische vom Problematischen, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu scheiden, was dann in der Aufführung konkret heißen kann die Dinge durch die jeweils gewählten Darstellungsmittel anders und nicht etwa gleich zu behandeln, indem man beispielsweise die Judenkarikatur so überzeichnet, dass sie selber zur Karikatur wird in der Absicht, die kompromittierende Schwäche des Werks wie auch des Publikums, dass diese goutiert, offenzulegen und damit zu entlarven. Oder aber man eliminiert die Züge der Judenkarikatur und zeigt allein das, was an dieser Figur wesentlich für das Werk und den dramatischen Werkzusammenhang ist. Denn nicht alles in einem Werk ist auch gleich wichtig für ein Werk. Deswegen mag ich den Begriff „Werktreue“ eigentlich nicht, weil da zu viel von „Buchstabentreue“ mitschwingt, und spreche lieber von „Werkgerechtigkeit“. Dazu, dem Werk gerecht zu werden, gehört eben auch unverzichtbar die Werkkritik, was freilich den Erkenntnisprozess voraussetzt, in dem sich das Wesentliche und Substantielle vom Unwesentlichen und Akzidentellen, das Unverzichtbare vom Verzichtbaren, scheidet.

  • 2. Regietheater-Karneval: Die „Altenheimveranstaltung“ mit Kissin und Perahia.


    Bald ist es endlich wieder soweit! Der Karneval kommt, der Rosenmontag steht fast vor der Tür. Und Theater-Seppel ist dabei, Stoff für seine Büttenrede zusammenzutragen. Und zu seiner großen Freude und seinem Glück wird er bei Tamino fündig:


    Warum überlebt das Regietheater so lange ? - Versuch einer Analyse


    Da ist der folgende Witz zu lesen: Klavierabende mit Kissin und Perahia, die nur eine langweilige „Reproduktion bestehender Werke“ geben, sind nicht mehr jugendlich frisch, sondern eine „Altenheimveranstaltung“ (so – natürlich mit Humor gesprochen und nicht wirklich Ernst gemeint – der nette Christian B., Link s.o.!,) Gleich greift Theater-Seppel zur Feder. Die Büttenrede steht – jedenfalls als Entwurf, den wir hier wiedergeben:


    Helau!


    Meine lieben Karnevalisten! Wer bin ich? Seht Ihr´s nicht? Ich bin – nein, nicht der tolle Bomberg – der tolle Theater-Seppel. Toll bin ich wirklich! Denn ich frage Euch: Gibt es eine Welt außerhalb des Karneval? Was antwortet Ihr? Na….? – – Natürlich nicht!


    Eben!


    Helau!


    Und genau deshalb sage ich: Für mich, den Theater-Seppel, existiert nur EINE Welt, nämlich MEINE Welt: der Theaterboden! Dort entsteht, meine lieben Karnevalisten, etwas wunderbar Schönes, was mich unwiederholbar und unnachahmlich macht, mein ei-ei-einmaliges und ei-ei-einzigartiges Theaterkunstwerk! Ihr kennt doch das Wunderhornlied vom „himmlischen Leben“ – genau so schön, wie der Himmel auf Erden dort humoristisch beschworen wird, ist es in meiner Theaterwelt: „Es gibt ja nichts auf Erden, was mit meinem Theaterkunstwerk kann verglichen werden!“ ICH, der Regisseur und MEIN Theaterkunstwerk – wir sind der Karneval der Welt, das Universum!


    Helau!


    Und in meiner Theaterwelt – das ist wahrlich Karnevals-Tollheit – ist, oh großes Wunder, alles und nichts machbar. Deswegen haben wir Regietheater-Künstler auch diese geniale Fernsehwerbung zu unserem Wahlspruch erkoren:


    „Nichts ist unmöglich, Toyota!“


    Helau!


    Aber nun, meine Lieben, will ich Euch nicht länger mit meiner viel zu gelehrten Einleitung langweilen. Ich erzähle Euch eine schöne Geschichte – und Ihr seht, ob Ihr da etwas zu lachen habt!


    Helau!


    Wisst Ihr, trotz Karnevals-Frohsinn muss ich Euch zunächst ein Klagelied anstimmen – der Clown hat schließlich ein lachendes und ein weinendes Auge!


    Helau!


    Auch der genialste Künstler hat seine menschlich-allzumenschlichen Wehwehchen! Um meine Krampfadern zu pflegen war ich neulich in Bad Schömberg – nicht Schönberg! – zur Kneipp-Kur. Wisst Ihr, wen ich dort getroffen habe? Ihr werdet es kaum glauben: Yevgeny Kissin und Murray Perahia! Jetzt werden Ihr fragen: Was machen solche Weltstars im schwärzesten Schwarzwald von Bad Schömberg, wo sie leider Arnold Schönberg nicht treffen können? Die Antwort: Sie geben ein Kurkonzert!


    Helau!


    Ja helau! Die beiden Starpianisten machten einen Spaziergang und hatten eine griesgrämige Miene aufgesetzt wie zehn Tage Regenwetter. Ich sprach sie an: Warum schaut Ihr so finster wie die Tannen des Schwarzwaldes und warum zum Teufel habt Ihr Euch hierher verirrt? Dann überschütteten sie mich mit ihrem Jammer. (Er imitiert ihre weinerliche Stimme.) „Wir sind hier, um ein Kurkonzert zu geben.“ Ein Kurkonzert, Ihr, die großen Weltstars, die in der Carnegie Hall auftretet? Das ist doch nur ein Scherz, oder? Ich konnte mich vor Lachen nicht mehr halten. „Nein, kein Scherz“, schluchzte Perahia. „Unsere Konzertagentur hat uns hierher verbannt. Von ihr erhielten wir den folgenden Brief:


    „Euren Vertrag habt ihr nicht erfüllt. Kein ausverkauftes Haus! Also: Haut endlich einfach ab! Der große Konzertsaal ist dafür da, vom Volk auch wirklich gefüllt zu werden. Eure Klavierabende sind nur was für das esoterische Häuflein von vergreisten Kulturspießern, die nach den Gesetzen der Biologie sowieso dabei sind, auszusterben. Das junge Volk, das ein ausverkauftes Haus garantiert, kommt erst gar nicht zu Euch. So aber habt Ihr Eure große Chance, die wir Euch lange genug gewährt haben, vertan! Damit zeigt Ihr letztlich nur, wo Ihr eigentlich hingehört: Meine Herren, Euer angestammter Platz ist nicht die Stadthalle oder Tonhalle in der Großstadt und schon gar nicht die Carnegie Hall, es ist das kleine aber feine provinzielle Kurkonzert! Die gute Nachricht für Euch: Dort geben wir Euch eine zweite Chance! Kündigen wir Euch da groß auf Plakaten an, werden all die Kurgäste mit silbrigem Haar in Scharen herbeiströmen, die ein bisschen Kultur konsumieren wollen als höherer Geistes-Genuss und „erhabenen“ Nachtisch gleichsam, nachdem die niederen körperlichen Bedürfnisse befriedigt sind mit dem Kur gemeinen Sinnen-Genuss von Kaffee und Kuchen. Garantiert wird da auch nicht der letzte Lehnstuhl für Gehbehinderte frei bleiben. Dort findet Ihr Euer Publikum: den schon etwas ergrauten Bildungsbürger mit wert- und werkkonservativer Einstellung, der seine Wehwehchen – inclusive „Kurschatten“ – gemütlich auskuriert und dabei viel Gelegenheit und Muße hat, den „guten alten Zeiten“ nachzutrauern. Diese Staubis und Gruftis, das kann ich Euch versichern, sind ganz bestimmt ein dankbares Publikum! „Werktreue“ lieben sie! Denen könnt Ihr so viel Ihr wollt romantisch „Erbauliches“, die heiligen Werke von Beethoven, Schubert und Brahms, andachtsvoll darbieten.““


    Weint Ihr nun schon mit, meine lieben Zuhörer? Nein, das ist doch nun wirklich komisch!


    Helau!


    Ich jedenfalls konnte mir den Bach nicht mehr halten vor Lachen und es platzte aus mir heraus:


    Selber schuld, meine Herren Starpianisten von Weltruf! Leider haben viel zu viele von Euch etablierten, schon etwas altbackenen „großen“ Pianisten immer noch nicht begriffen, dass sich die Zeiten längst geändert haben. Hättet Ihr nur auf Altmeister Schnabel gehört! Artur Schnabel meinte einst scherzend im Gespräch mit Vladimir Horowitz zu seinen Konzertprogrammen mit Beethoven-Werken und „schweren Brocken“ von Brahms: „vor der Pause langweilig – nach der Pause: noch langweiliger!“ Mit der Langweiligkeits-Apotheose von Werkaufführungen könnt Ihr die aufgeweckten jungen Leute von heute nun wirklich nicht von ihrem PC weglocken, wo sie ihre Zeit mit aufregenden Ballerspielen und dem Chatten mit Facebook-Freunden verplempern – immer wieder dazwischen kommt für ein paar Minuten per Mausklick geklickt ein Youtube-Video mit dem üblichen kommerziellen Pop-Zeugs – das aber vor allem geguckt wird wegen der wirklich geilen, sexy Video-Animation, die längst viel wichtiger ist als die Musik. Warum sollten sie, die keine Geduld mehr aufbringen, mal ein Buch ganz zu lesen oder ein Musikstück komplett zu hören, das länger als 5 Minuten dauert, dieses aufregende Spektakel vom Feinsten gegen die Folter eintauschen, einer langatmigen Beethoven-Sonate, auch noch verstaubt „werktreu“ vorgetragen, tatsächlich zuhören zu müssen?


    Helau!


    Und dann habe ich mein Regietheater-Ass aus dem Ärmel geschüttelt, sprich aus meiner Aktentasche gezogen und es Kissin und Perahia, unseren Kurkonzert-Starpianisten, unter die Nase gerieben!


    Helau!


    Seht her, was ich hier habe! Ihr habt nur von der Kulturwelt, die eine Theaterwelt heute ist, nichts mitbekommen. Recht ist Euch geschehen! In dieser Angelegenheit ist nämlich bereits ein behördliches Rundschreiben an alle Konzertveranstalter verschickt wird. Vorbemerkung: Bei diesen Gedanken handelt es sich nicht um Vorschriften, sondern lediglich Empfehlungen mit dem Ziel, die Auslastung von Konzertsälen und anderen Aufführungsstätten zu erhöhen!


    Helau!


    Ich lese Euch die Expertise vor, welche unser Amtsschimmel in Sachen Hochkultur zusammengeschimmelt hat – und Ihr werdet staunen:


    „Die Ethnologen, welche sich mit der „Neuerungsfeindlichkeit“ sogenannter „Naturvölker“ beschäftigen, haben angesichts des Phänomens der Überalterung in den westlichen Industriegesellschaften (auch als „Rentnerschwemme“ bekannt) das Thema „Altersstarrsinn“ für sich entdeckt. Das Ergebnis der inzwischen – in Zusammenarbeit mit Medizinern und Gehirnphysiologen – veröffentlichten wissenschaftlichen Studien ist bemerkenswert: Bei männlichen und weiblichen Personen ab einem Alter von 55 Jahren finden sich Verkrustungen im Gehirn, welche die Fähigkeit zur Aufnahme neuer Gedanken nicht unerheblich erschweren. Im Gegensatz zu einer Demenz-Erkrankung neigen die betroffenen höheren Altersgruppen dazu, nur noch ihre schönen Erinnerungen zu reproduzieren, sich also auf das Gewesene und schon Dagewesene zu fixieren. Das Phänomen ist unter dem Begriff der „Neuerungsfeindlichkeit aufgrund von Gehirnverkalkung“ in die Forschung eingegangen und hat sich dort inzwischen fest etabliert. Dazu gehört auch die manische Sucht, ein Werk unbedingt auch wie ein Werk „werktreu“ aufgeführt bekommen zu wollen. Die „Alten“ mit ihren Gehirnverkrustungen und der daraus folgenden Neuerungsfeindlichkeit stellen ein erhebliches Problem dar, was die öffentlichen Kassen unnötig belastet. Neuerungsfeindliche Aufführungen, die nur noch „alte Leute“ interessieren, haben eine mangelhafte Auslastung der Konzerthäuser zur Folge. Kommerzielle Konzertveranstalter buchen keine Säle mehr, mit denen die klammen Geldsäcke der Kommunen gefüllt werden könnten. Während sich bei den Theatern durch das glorreiche Regietheater die Zustände merklich gebessert haben, sieht es bei Konzertveranstaltungen leider immer noch düster aus. Dem Symphoniekonzert und Klavierabend bleibt das junge Volk fern. Es ist daher dringend ratsam, die folgenden Vorschläge in die Tat umzusetzen, damit die öffentlich geförderte Kultur nicht schon sehr bald an ihren Kulturträgern, den „Alten“, also Rentnern und allen anderen Vergreisten im Kopf, zugrunde geht:


    1. Publikumsmagneten für´s junge Volk wie Yuja Wang und Katia Buniatishvili machen es mit ihrem Exhibitionismus vor, wie es heute nur geht: Mit reichlich zur Schau gestelltem nackten Fleisch wird auch der Klavierabend zum Pop-Spektakel. Also bitte schön: noch mehr Bein und Busen zeigen, ein Kleid mit gaaaanz tiefem Ausschnitt möglichst bis zum Popo, dann kommen die jungen Leute auch zu „Werken“ von Beethoven und Chopin und der Saal ist garantiert voll! Man isst ja auch keinen trockenen Kuchen ohne Schlagsahne – deshalb ist ein veraltetes, im Grunde ungenießbares „Werk“ auch nur ästhetisch genießbar, wenn zugleich auf der Bühne als attraktionsfördernde „Zugabe“ gewissermaßen ein Spektakel für das Auge geboten wird. Sexy Weibchen wie Yuja Wang hübschen den ollen Beethoven mit ihrem Body auf und verjüngen so die altmodischen „Werke“.“


    Ich unterbreche hier für ein kräftiges


    Helau!


    … und fahre fort mit der Komödie:


    „Die Sexualisierung reicht jedoch nicht, um einen Klavierabend z.B. für die Jugend von heute attraktiv zu gestalten. Bei weitem weitreichendere Veränderungen sind erforderlich, damit ein Konzert keine „Altenheimveranstaltung“ mehr ist:


    2. „Werke“ sollten nach Möglichkeit niemals mehr ganz aufgeführt werden für ein junges Publikum, das eines garantiert nicht hat: Geduld zum langen Zuhören! Das Regietheater lehrt uns: Es gibt keine Verpflichtung, das, was ein Werk ist, auch als ein Werk aufzuführen. Also: Ratsam ist ein buntes Potpourri zu präsentieren, wie auf diesen CDs mit Verschnitt-Programmen „Musik zum Chillen“: Ein Appetithäppchen Beethoven (Mondscheinsonate 1. Satz), garniert mit einer Sahnehaube Mozart (natürlich den türkischen Marsch aus der Klaviersonate KV Weißichnicht, ist ja auch egal, weil nicht verbindlich) und – natürlich, der Vocalise von Rachmaninow…


    3. Der reine Klavierabend war eine idiotische Erfindung von diesem verrückten Klavier-Egomanen Franz Liszt. Die Diktatur des Klaviers und des Konzertpianisten muss endlich beendet werden! Zurückzukehren ist zu den demokratischen Zuständen früherer Zeiten: Das Klavier darf kein Primus zu sein, es muss zum Fernerliefen eines gemischten Konzert-Theaterabends zu Unterhaltung herabgesetzt werden, wie es vor Liszt üblich war: auf eine oder mehrere Gesangsdarbietungen, Duospiel, ein Satz aus einem Streichquartett, eine Balletteinlage usw. usw. folgt irgendwann auch mal ein Klavierstückchen. Zeitgemäß „aktualisiert“ heißt das: erst ein Popsong, dann ein bisschen Brahms, danach vielleicht eine orientalische Bauchtänzerin oder auch ein Striptease von schönen Männern in Unterhosen für die junge Damenwelt – und natürlich: alles eingebunden in eine perfekte Show mit Licht- und Leuchteffekten. Ein Konzert muss wieder Entertainment sein! Der Konzertsaal ist doch keine Kirche, wo nur gepredigt wird und auch nicht der Hörsaal an einer Universität. Wie sagte doch Vladimir Horowitz: „A concert is not a lecture!“


    4. Und natürlich: Auch ein Konzertabend, wenn es Regietheater sein soll, braucht wie einst das Barockzeitalter den Zeremonienmeister einen Regisseur. Die Kissins oder Perahias dürfen also nicht mehr länger über ihr Programm selbst entscheiden, und – nicht nur das! Ob sie überhaupt kommen sollen, ist eine Gnade des Regisseurs, der als absolute Herrscher über sein Klavierabend-Theaterkunstwerk so souverän entscheidet wie einst der französische König Ludwig der XIV. über seinen Staat und seine Untertanen. Vielleicht befiehlt er dann Kissin und Perahia das, was Friedrich Gulda freiwillig tat: nackt aufzutreten! Das tun sie dann entweder unfreiwillig oder werden jetzt und in Zukunft nicht mehr engagiert. Dann bleibt ihnen als Wirkungsstätte wirklich nur noch das Kurkonzert. Aber so weit muss es ja nicht kommen – denn es gilt auch für den Klavierabend der Wahlspruch des Regietheaters:


    „Nichts ist unmöglich, Toyota!““


    Helau!


    Hat Ihnen diese Büttenrede gefallen, wertes Karnevalspublikum? Wenn nein – ab zum nächsten garantiert bierernst werktreuen Kurkonzert! Da habt Ihr dann aber gar nichts mehr zu lachen. Ätsch!


    Auf all das ein dreifaches:


    Helau!


    Helau!


    Helau!

  • 3. Warum länger warten auf Godot? Das Regietheater ist doch schon da!

    Die Tamino-Gemüter bewegte die folgende kuriose Meldung:


    https://www.faz.net/aktuell/fe…n-gecancelt-18657962.html


    Zitat daraus:


    „Dass nur Männer zum Casting für die Männerrollen eingeladen worden seien, entspreche einfach nicht den Subventionsregeln des Kulturzentrums: Jedes Casting müsse für alle Gruppen offen sein. Oisín Moyne, der sechsundzwanzigjährige Regisseur des abgesagten Abends, sagte dazu das Offensichtliche: Er komme sich vor, als ob er „in einem absurden Traum gelandet“ sei.“


    Oisin Moyne der Regisseur hat, gerade einmal 26 Jahre jung, offenbar keine Kunde davon, dass es Regietheater gibt! Wüsste er, was ein Regietheaterkunstwerk ist, hätte er das Problem des Kulturzentrums Groningen ganz einfach gelöst: Für die Erstellung eines „Theaterkunstwerks“ ist die Tatsache, dass Samuel Beckett ein Männer-Stück geschrieben hat, schlicht und einfach in keiner Weise verbindlich! Die Regietheater-Ästhetik sagt: Weder das Werk, noch der Autor kann den Theaterkünstler zu irgend etwas verpflichten. Was aufgeführt werden kann und darf, darüber entscheidet nicht das Werk und nicht der Autor, sondern allein der Regisseur nach seinem Gutdünken. Also: Wenn das Kulturzentrum ein Casting wünscht, was die Frauenquote erfüllt, dann soll es die doch bekommen – Beckett und sein Stück hin oder her! Na und! Dann wird das Stück eben zweigeschlechtlich gespielt! Wo gibt es da irgendein Problem? Groningen muss auf eine Aufführung von Warten auf Godot Dank dem Regietheater-Prinzip


    „Nichts ist unmöglich. Toyota!“


    … nun wirklich nicht warten!


    Aber eines freilich hat der gute Oisin Mayne sehr gut erkannt! Den Rattenfänger-Flötentönen des Regietheaters offenbar noch nicht hörig trifft er des Pudels Kern: Das Regietheater ist schon längst „in einem absurden Traum gelandet“ – es ist nichts anderes als eine ästhetische Absurdität und absurdes Theater. Martin Esslin interpretiert Warten auf Godot als „Ausweichen vor Verantwortung“ als „gesellschaftliches Lebenskonzept“. Genau das ist die Unverbindlichkeitsmasche von Regietheaterkunst als Lebenskonzept: absurde künstlerische Verantwortungslosigkeit und absurder Zynismus der Missachtung von Werken als Form der absoluten Selbstbehauptung des Künstlers.

  • Beschluss des Tamino-Wahrheitsausschusses in der Sache Dr. Pingel


    (Anmerkung: Der Tamino-Wahrheitsausschuss wurde gegründet in der hochheiligen Tradition des jakobinischen Wohlfahrtsausschusses. Es geht ihm um die allgemeine Verteidigung der klassischen Musik in der Öffentlichkeit, die Feststellung von Falschbehauptungen und die Ahndung von Verbrechen gegen das Wahrheitsgebot in Sachen klassische Musik bis hin zur Todesstrafe.)


    Beschluss vom 18.5.2023:


    "Der Tamino-Wahrheitsausschuss verurteilt Dr. Pingel dazu, dass er nicht mehr behaupten darf, der Chor aus Beethovens 9. Symphonie habe nicht die idealische Vollkommenheit erreicht und klinge nicht wirklich chorisch. Zudem gilt ab sofort die folgende Bewährungsauflage, mit der Dr. Pingel dem Gang auf die Choristen-Guillotine, wo er seinen Kopf verliert, so dass er nie mehr in einem Chor singen kann, entgehen kann: Es ist ihm von nun an nur noch erlaubt, bei den Fischer-Chören mitzusingen.


    Begründung:


    Auch wenn ein Chorsänger-Laie bei 1000 Aufführungen mitgewirkt hat, bleibt er ein inkompetenter Laie, für den gilt: Denn sie wissen nicht was sie tun (singen). Denn: Nur der Profi-Sänger weiß was er singt und hat das Recht und die Kompetenz, Gesangsleistungen ästhetisch zu beurteilen. Das entspricht auch dem gesunden Menschenverstand: Kein Hobby-Autofahrer kann auch nach einer Million Fahrstunden das Fahrverhalten seines Autos beurteilen, sondern nur der Fahrer mit Rennfahrerlizenz. Kein Hobby-Klavierspieler kann und darf sich zum Klavierspiel eines Horowitz äußern, sondern nur einer, der ein Konzertexamen abgelegt hat. Nicht die Handlung qualifiziert, sondern die Prüfung. Nur Profis haben Sachverstand und ästhetische Urteilskompetenz - Laien ist sie a priori aus reinen Vernunftgründen abzusprechen. Eigentlich müssten alle Laienchöre wegen Dilettantismus als eine Kulturschande verboten werden - jedenfalls dürften sie nicht die heiligen Werke der klassischen Musik mit ihrem laienhaften Gekrächze verschandeln. In der klassischen Musik gibt es keine Demokratie. Der gute Geschmack und das richtige ästhetische Urteilsvermögen bleibt dem Fachmann und universitätsgeprüften Vollprofi vorbehalten.


    Nachtrag: Dr. Pingels Angebot, den Chor durch symphonische Stimmen zu ersetzen, wird abgelehnt. Diesen Einspruch hat ein gewisser Herr Richard Wagner erwirkt, der auf der "Erlösung der Musik durch das Wort" und also auf diesem Chorfinale besteht. Das sollte der Theologe Dr. Pingel verstehen. Die Möglichkeit auf eine Berufung gegen dieses Urteil wird deshalb ausgeschlossen.


    Hochachtungsvoll

    Der Tamino-Wahrheitsausschuss in Sachen klassische Musik"


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