Aufgespießt. Dr. Kalethas Kuriositätenkabinett. Humoristische und ernst gemeinte Antworten auf Merkwürdigkeiten

  • 1. Werktreue und Antisemitismus


    „Du sollst nicht die Ehe brechen!“ – sagt eines der Zehn Gebote. Wenn im Männlein oder Weiblein die Hormone sprießen, gehen sie vielleicht fremd. „Treu“ sind diese Fremdgänger ihrem Ehepartner dann allerdings nicht mehr. Ich glaube, Jedermann versteht ganz leicht diesen Sinn – sogar dem Fremdgänger, der nicht „bibelfest“ ist, wird sich der Sinn dieser Moral nicht verschließen. Was sich mir allerdings nicht erschließt, ist die folgende, sehr merkwürdige Reductio an absurdum:


    „Wer „werktreu“ sein will, muss auch zum Antisemiten werden, wenn der Antisemitismus im Werk steckt. Weil man aber natürlich kein Antisemit sein kann und darf, kann auch Werktreue kein Gebot sein.“


    Ist dies nicht einleuchtend mit Blick auf Richard Wagner?


    https://www.handelsblatt.com/a…wagners-werk/8217944.html


    Das „Argument“ ist: Wer „werktreu“ sein will, müsse zwangsläufig in alle Fallen tappen, die das Werk aufstellt, also auch die des Antisemitismus. Man sei also verpflichtet, einer Judenkarikatur bei Wagner „auf den Leim“ zu gehen, nimmt man es mit der „Treue“ Wagners Werk gegenüber wirklich genau. Die Schlussfolgerung ist aber ganz einfach falsch. Treue in der Ehe heißt ja auch nicht, dass man schlechterdings alles akzeptieren und für richtig befinden müsste, was der Ehepartner tut. Würde das Argument stimmen, dann bestände die Treuepflicht selbst gegenüber der schlechten Tat eines Fremdgängers, d.h. die betrogene Ehefrau oder der betrogene Ehemann müsste diese Verfehlung ihres Partners uneingeschränkt akzeptieren. Das ist aber offensichtlich absurd und zeigt: Genauso wenig, wie die Treue zu einer Person zu verwechseln ist mit der Treue gegenüber allem und jedem, was diese Person tut, ist die Treue zum Werk gleichzusetzen mit einer vermeintlichen Treue gegenüber allen Teilen und einzelnen Bestandteilen eines Werks. Und: Zur Treue gehört letztlich auch die Verantwortung im Sinne einer Sorgeverpflichtung, die man für den Anderen übernimmt, ihn vor Dingen zu bewahren, die ihm selber schaden: Wer fremdgeht, wird sich selber untreu und untergräbt seine eigene Moral. Wagners Ring ist nunmal nicht Jud Süß. Das antisemitische Propaganda-Machwerk der Nazis führt man einfach nicht mehr im Kino vor und kann es nicht vorführen, weil es durch und durch verlogen ist, eine antisemitische Verführung. Wagners Ring dagegen hat uns auch heute noch etwas Wesentliches zu sagen und wird deshalb aufgeführt. Wer wirklich „werktreu“ ist, schützt das Wesentliche und Bewahrenswerte vor dem Unwesentlichen und Vergänglichen, also Wagner vor sich selbst und in Bezug auf Wagners Werk das, was es zu einem wirklich großen Werk macht, vor dem, was es klein erscheinen lässt und ihm seine Größe nimmt: hier vor seinen antisemitischen Konnotationen. Das kann freilich auf sehr unterschiedliche Weise geschehen. Nur eines kann man nicht, ignorieren, dass zur Tiefe von Wagners künstlerischer Schöpfung auch die Peinlichkeit der Untiefe des Antisemitismus gehört wie zwei Seiten ein und derselben Medaille. „Werktreue“ gegenüber einem Werk mit antisemitischen Zügen zeigen heißt deshalb, dass man auch diese „problematische“ Seite des Werks verbindlich nimmt – (Werk-)Verbindlichkeiten sind nämlich sowohl das Unproblematische wie das Problematische. Beides gehört untrennbar zusammen. Sowohl auf das Unproblematische wie auch die „Problemzonen“ des Werkes heißt es deshalb eine verbindliche Antwort zu geben – beim Problematischen ist die Antwort dann allerdings unausweichlich eine kritische Antwort.


    Um es am Beispiel von Richard Wagner zu demonstrieren: Auch Jens-Malte Fischer wird nicht behaupten, dass Loge nur eine Judenkarikatur ist. Kritik kommt von griech. krinein, was auf Deutsch heißt: trennen, scheiden. Die Figur ist vielschichtig und die Aufgabe der Inszenierung ist es deshalb, das Unproblematische vom Problematischen, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu scheiden, was dann in der Aufführung konkret heißen kann die Dinge durch die jeweils gewählten Darstellungsmittel anders und nicht etwa gleich zu behandeln, indem man beispielsweise die Judenkarikatur so überzeichnet, dass sie selber zur Karikatur wird in der Absicht, die kompromittierende Schwäche des Werks wie auch des Publikums, dass diese goutiert, offenzulegen und damit zu entlarven. Oder aber man eliminiert die Züge der Judenkarikatur und zeigt allein das, was an dieser Figur wesentlich für das Werk und den dramatischen Werkzusammenhang ist. Denn nicht alles in einem Werk ist auch gleich wichtig für ein Werk. Deswegen mag ich den Begriff „Werktreue“ eigentlich nicht, weil da zu viel von „Buchstabentreue“ mitschwingt, und spreche lieber von „Werkgerechtigkeit“. Dazu, dem Werk gerecht zu werden, gehört eben auch unverzichtbar die Werkkritik, was freilich den Erkenntnisprozess voraussetzt, in dem sich das Wesentliche und Substantielle vom Unwesentlichen und Akzidentellen, das Unverzichtbare vom Verzichtbaren, scheidet.

  • 2. Regietheater-Karneval: Die „Altenheimveranstaltung“ mit Kissin und Perahia.


    Bald ist es endlich wieder soweit! Der Karneval kommt, der Rosenmontag steht fast vor der Tür. Und Theater-Seppel ist dabei, Stoff für seine Büttenrede zusammenzutragen. Und zu seiner großen Freude und seinem Glück wird er bei Tamino fündig:


    Warum überlebt das Regietheater so lange ? - Versuch einer Analyse


    Da ist der folgende Witz zu lesen: Klavierabende mit Kissin und Perahia, die nur eine langweilige „Reproduktion bestehender Werke“ geben, sind nicht mehr jugendlich frisch, sondern eine „Altenheimveranstaltung“ (so – natürlich mit Humor gesprochen und nicht wirklich Ernst gemeint – der nette Christian B., Link s.o.!,) Gleich greift Theater-Seppel zur Feder. Die Büttenrede steht – jedenfalls als Entwurf, den wir hier wiedergeben:


    Helau!


    Meine lieben Karnevalisten! Wer bin ich? Seht Ihr´s nicht? Ich bin – nein, nicht der tolle Bomberg – der tolle Theater-Seppel. Toll bin ich wirklich! Denn ich frage Euch: Gibt es eine Welt außerhalb des Karneval? Was antwortet Ihr? Na….? – – Natürlich nicht!


    Eben!


    Helau!


    Und genau deshalb sage ich: Für mich, den Theater-Seppel, existiert nur EINE Welt, nämlich MEINE Welt: der Theaterboden! Dort entsteht, meine lieben Karnevalisten, etwas wunderbar Schönes, was mich unwiederholbar und unnachahmlich macht, mein ei-ei-einmaliges und ei-ei-einzigartiges Theaterkunstwerk! Ihr kennt doch das Wunderhornlied vom „himmlischen Leben“ – genau so schön, wie der Himmel auf Erden dort humoristisch beschworen wird, ist es in meiner Theaterwelt: „Es gibt ja nichts auf Erden, was mit meinem Theaterkunstwerk kann verglichen werden!“ ICH, der Regisseur und MEIN Theaterkunstwerk – wir sind der Karneval der Welt, das Universum!


    Helau!


    Und in meiner Theaterwelt – das ist wahrlich Karnevals-Tollheit – ist, oh großes Wunder, alles und nichts machbar. Deswegen haben wir Regietheater-Künstler auch diese geniale Fernsehwerbung zu unserem Wahlspruch erkoren:


    „Nichts ist unmöglich, Toyota!“


    Helau!


    Aber nun, meine Lieben, will ich Euch nicht länger mit meiner viel zu gelehrten Einleitung langweilen. Ich erzähle Euch eine schöne Geschichte – und Ihr seht, ob Ihr da etwas zu lachen habt!


    Helau!


    Wisst Ihr, trotz Karnevals-Frohsinn muss ich Euch zunächst ein Klagelied anstimmen – der Clown hat schließlich ein lachendes und ein weinendes Auge!


    Helau!


    Auch der genialste Künstler hat seine menschlich-allzumenschlichen Wehwehchen! Um meine Krampfadern zu pflegen war ich neulich in Bad Schömberg – nicht Schönberg! – zur Kneipp-Kur. Wisst Ihr, wen ich dort getroffen habe? Ihr werdet es kaum glauben: Yevgeny Kissin und Murray Perahia! Jetzt werden Ihr fragen: Was machen solche Weltstars im schwärzesten Schwarzwald von Bad Schömberg, wo sie leider Arnold Schönberg nicht treffen können? Die Antwort: Sie geben ein Kurkonzert!


    Helau!


    Ja helau! Die beiden Starpianisten machten einen Spaziergang und hatten eine griesgrämige Miene aufgesetzt wie zehn Tage Regenwetter. Ich sprach sie an: Warum schaut Ihr so finster wie die Tannen des Schwarzwaldes und warum zum Teufel habt Ihr Euch hierher verirrt? Dann überschütteten sie mich mit ihrem Jammer. (Er imitiert ihre weinerliche Stimme.) „Wir sind hier, um ein Kurkonzert zu geben.“ Ein Kurkonzert, Ihr, die großen Weltstars, die in der Carnegie Hall auftretet? Das ist doch nur ein Scherz, oder? Ich konnte mich vor Lachen nicht mehr halten. „Nein, kein Scherz“, schluchzte Perahia. „Unsere Konzertagentur hat uns hierher verbannt. Von ihr erhielten wir den folgenden Brief:


    „Euren Vertrag habt ihr nicht erfüllt. Kein ausverkauftes Haus! Also: Haut endlich einfach ab! Der große Konzertsaal ist dafür da, vom Volk auch wirklich gefüllt zu werden. Eure Klavierabende sind nur was für das esoterische Häuflein von vergreisten Kulturspießern, die nach den Gesetzen der Biologie sowieso dabei sind, auszusterben. Das junge Volk, das ein ausverkauftes Haus garantiert, kommt erst gar nicht zu Euch. So aber habt Ihr Eure große Chance, die wir Euch lange genug gewährt haben, vertan! Damit zeigt Ihr letztlich nur, wo Ihr eigentlich hingehört: Meine Herren, Euer angestammter Platz ist nicht die Stadthalle oder Tonhalle in der Großstadt und schon gar nicht die Carnegie Hall, es ist das kleine aber feine provinzielle Kurkonzert! Die gute Nachricht für Euch: Dort geben wir Euch eine zweite Chance! Kündigen wir Euch da groß auf Plakaten an, werden all die Kurgäste mit silbrigem Haar in Scharen herbeiströmen, die ein bisschen Kultur konsumieren wollen als höherer Geistes-Genuss und „erhabenen“ Nachtisch gleichsam, nachdem die niederen körperlichen Bedürfnisse befriedigt sind mit dem Kur gemeinen Sinnen-Genuss von Kaffee und Kuchen. Garantiert wird da auch nicht der letzte Lehnstuhl für Gehbehinderte frei bleiben. Dort findet Ihr Euer Publikum: den schon etwas ergrauten Bildungsbürger mit wert- und werkkonservativer Einstellung, der seine Wehwehchen – inclusive „Kurschatten“ – gemütlich auskuriert und dabei viel Gelegenheit und Muße hat, den „guten alten Zeiten“ nachzutrauern. Diese Staubis und Gruftis, das kann ich Euch versichern, sind ganz bestimmt ein dankbares Publikum! „Werktreue“ lieben sie! Denen könnt Ihr so viel Ihr wollt romantisch „Erbauliches“, die heiligen Werke von Beethoven, Schubert und Brahms, andachtsvoll darbieten.““


    Weint Ihr nun schon mit, meine lieben Zuhörer? Nein, das ist doch nun wirklich komisch!


    Helau!


    Ich jedenfalls konnte mir den Bach nicht mehr halten vor Lachen und es platzte aus mir heraus:


    Selber schuld, meine Herren Starpianisten von Weltruf! Leider haben viel zu viele von Euch etablierten, schon etwas altbackenen „großen“ Pianisten immer noch nicht begriffen, dass sich die Zeiten längst geändert haben. Hättet Ihr nur auf Altmeister Schnabel gehört! Artur Schnabel meinte einst scherzend im Gespräch mit Vladimir Horowitz zu seinen Konzertprogrammen mit Beethoven-Werken und „schweren Brocken“ von Brahms: „vor der Pause langweilig – nach der Pause: noch langweiliger!“ Mit der Langweiligkeits-Apotheose von Werkaufführungen könnt Ihr die aufgeweckten jungen Leute von heute nun wirklich nicht von ihrem PC weglocken, wo sie ihre Zeit mit aufregenden Ballerspielen und dem Chatten mit Facebook-Freunden verplempern – immer wieder dazwischen kommt für ein paar Minuten per Mausklick geklickt ein Youtube-Video mit dem üblichen kommerziellen Pop-Zeugs – das aber vor allem geguckt wird wegen der wirklich geilen, sexy Video-Animation, die längst viel wichtiger ist als die Musik. Warum sollten sie, die keine Geduld mehr aufbringen, mal ein Buch ganz zu lesen oder ein Musikstück komplett zu hören, das länger als 5 Minuten dauert, dieses aufregende Spektakel vom Feinsten gegen die Folter eintauschen, einer langatmigen Beethoven-Sonate, auch noch verstaubt „werktreu“ vorgetragen, tatsächlich zuhören zu müssen?


    Helau!


    Und dann habe ich mein Regietheater-Ass aus dem Ärmel geschüttelt, sprich aus meiner Aktentasche gezogen und es Kissin und Perahia, unseren Kurkonzert-Starpianisten, unter die Nase gerieben!


    Helau!


    Seht her, was ich hier habe! Ihr habt nur von der Kulturwelt, die eine Theaterwelt heute ist, nichts mitbekommen. Recht ist Euch geschehen! In dieser Angelegenheit ist nämlich bereits ein behördliches Rundschreiben an alle Konzertveranstalter verschickt wird. Vorbemerkung: Bei diesen Gedanken handelt es sich nicht um Vorschriften, sondern lediglich Empfehlungen mit dem Ziel, die Auslastung von Konzertsälen und anderen Aufführungsstätten zu erhöhen!


    Helau!


    Ich lese Euch die Expertise vor, welche unser Amtsschimmel in Sachen Hochkultur zusammengeschimmelt hat – und Ihr werdet staunen:


    „Die Ethnologen, welche sich mit der „Neuerungsfeindlichkeit“ sogenannter „Naturvölker“ beschäftigen, haben angesichts des Phänomens der Überalterung in den westlichen Industriegesellschaften (auch als „Rentnerschwemme“ bekannt) das Thema „Altersstarrsinn“ für sich entdeckt. Das Ergebnis der inzwischen – in Zusammenarbeit mit Medizinern und Gehirnphysiologen – veröffentlichten wissenschaftlichen Studien ist bemerkenswert: Bei männlichen und weiblichen Personen ab einem Alter von 55 Jahren finden sich Verkrustungen im Gehirn, welche die Fähigkeit zur Aufnahme neuer Gedanken nicht unerheblich erschweren. Im Gegensatz zu einer Demenz-Erkrankung neigen die betroffenen höheren Altersgruppen dazu, nur noch ihre schönen Erinnerungen zu reproduzieren, sich also auf das Gewesene und schon Dagewesene zu fixieren. Das Phänomen ist unter dem Begriff der „Neuerungsfeindlichkeit aufgrund von Gehirnverkalkung“ in die Forschung eingegangen und hat sich dort inzwischen fest etabliert. Dazu gehört auch die manische Sucht, ein Werk unbedingt auch wie ein Werk „werktreu“ aufgeführt bekommen zu wollen. Die „Alten“ mit ihren Gehirnverkrustungen und der daraus folgenden Neuerungsfeindlichkeit stellen ein erhebliches Problem dar, was die öffentlichen Kassen unnötig belastet. Neuerungsfeindliche Aufführungen, die nur noch „alte Leute“ interessieren, haben eine mangelhafte Auslastung der Konzerthäuser zur Folge. Kommerzielle Konzertveranstalter buchen keine Säle mehr, mit denen die klammen Geldsäcke der Kommunen gefüllt werden könnten. Während sich bei den Theatern durch das glorreiche Regietheater die Zustände merklich gebessert haben, sieht es bei Konzertveranstaltungen leider immer noch düster aus. Dem Symphoniekonzert und Klavierabend bleibt das junge Volk fern. Es ist daher dringend ratsam, die folgenden Vorschläge in die Tat umzusetzen, damit die öffentlich geförderte Kultur nicht schon sehr bald an ihren Kulturträgern, den „Alten“, also Rentnern und allen anderen Vergreisten im Kopf, zugrunde geht:


    1. Publikumsmagneten für´s junge Volk wie Yuja Wang und Katia Buniatishvili machen es mit ihrem Exhibitionismus vor, wie es heute nur geht: Mit reichlich zur Schau gestelltem nackten Fleisch wird auch der Klavierabend zum Pop-Spektakel. Also bitte schön: noch mehr Bein und Busen zeigen, ein Kleid mit gaaaanz tiefem Ausschnitt möglichst bis zum Popo, dann kommen die jungen Leute auch zu „Werken“ von Beethoven und Chopin und der Saal ist garantiert voll! Man isst ja auch keinen trockenen Kuchen ohne Schlagsahne – deshalb ist ein veraltetes, im Grunde ungenießbares „Werk“ auch nur ästhetisch genießbar, wenn zugleich auf der Bühne als attraktionsfördernde „Zugabe“ gewissermaßen ein Spektakel für das Auge geboten wird. Sexy Weibchen wie Yuja Wang hübschen den ollen Beethoven mit ihrem Body auf und verjüngen so die altmodischen „Werke“.“


    Ich unterbreche hier für ein kräftiges


    Helau!


    … und fahre fort mit der Komödie:


    „Die Sexualisierung reicht jedoch nicht, um einen Klavierabend z.B. für die Jugend von heute attraktiv zu gestalten. Bei weitem weitreichendere Veränderungen sind erforderlich, damit ein Konzert keine „Altenheimveranstaltung“ mehr ist:


    2. „Werke“ sollten nach Möglichkeit niemals mehr ganz aufgeführt werden für ein junges Publikum, das eines garantiert nicht hat: Geduld zum langen Zuhören! Das Regietheater lehrt uns: Es gibt keine Verpflichtung, das, was ein Werk ist, auch als ein Werk aufzuführen. Also: Ratsam ist ein buntes Potpourri zu präsentieren, wie auf diesen CDs mit Verschnitt-Programmen „Musik zum Chillen“: Ein Appetithäppchen Beethoven (Mondscheinsonate 1. Satz), garniert mit einer Sahnehaube Mozart (natürlich den türkischen Marsch aus der Klaviersonate KV Weißichnicht, ist ja auch egal, weil nicht verbindlich) und – natürlich, der Vocalise von Rachmaninow…


    3. Der reine Klavierabend war eine idiotische Erfindung von diesem verrückten Klavier-Egomanen Franz Liszt. Die Diktatur des Klaviers und des Konzertpianisten muss endlich beendet werden! Zurückzukehren ist zu den demokratischen Zuständen früherer Zeiten: Das Klavier darf kein Primus zu sein, es muss zum Fernerliefen eines gemischten Konzert-Theaterabends zu Unterhaltung herabgesetzt werden, wie es vor Liszt üblich war: auf eine oder mehrere Gesangsdarbietungen, Duospiel, ein Satz aus einem Streichquartett, eine Balletteinlage usw. usw. folgt irgendwann auch mal ein Klavierstückchen. Zeitgemäß „aktualisiert“ heißt das: erst ein Popsong, dann ein bisschen Brahms, danach vielleicht eine orientalische Bauchtänzerin oder auch ein Striptease von schönen Männern in Unterhosen für die junge Damenwelt – und natürlich: alles eingebunden in eine perfekte Show mit Licht- und Leuchteffekten. Ein Konzert muss wieder Entertainment sein! Der Konzertsaal ist doch keine Kirche, wo nur gepredigt wird und auch nicht der Hörsaal an einer Universität. Wie sagte doch Vladimir Horowitz: „A concert is not a lecture!“


    4. Und natürlich: Auch ein Konzertabend, wenn es Regietheater sein soll, braucht wie einst das Barockzeitalter den Zeremonienmeister einen Regisseur. Die Kissins oder Perahias dürfen also nicht mehr länger über ihr Programm selbst entscheiden, und – nicht nur das! Ob sie überhaupt kommen sollen, ist eine Gnade des Regisseurs, der als absolute Herrscher über sein Klavierabend-Theaterkunstwerk so souverän entscheidet wie einst der französische König Ludwig der XIV. über seinen Staat und seine Untertanen. Vielleicht befiehlt er dann Kissin und Perahia das, was Friedrich Gulda freiwillig tat: nackt aufzutreten! Das tun sie dann entweder unfreiwillig oder werden jetzt und in Zukunft nicht mehr engagiert. Dann bleibt ihnen als Wirkungsstätte wirklich nur noch das Kurkonzert. Aber so weit muss es ja nicht kommen – denn es gilt auch für den Klavierabend der Wahlspruch des Regietheaters:


    „Nichts ist unmöglich, Toyota!““


    Helau!


    Hat Ihnen diese Büttenrede gefallen, wertes Karnevalspublikum? Wenn nein – ab zum nächsten garantiert bierernst werktreuen Kurkonzert! Da habt Ihr dann aber gar nichts mehr zu lachen. Ätsch!


    Auf all das ein dreifaches:


    Helau!


    Helau!


    Helau!

  • 3. Warum länger warten auf Godot? Das Regietheater ist doch schon da!

    Die Tamino-Gemüter bewegte die folgende kuriose Meldung:


    https://www.faz.net/aktuell/fe…n-gecancelt-18657962.html


    Zitat daraus:


    „Dass nur Männer zum Casting für die Männerrollen eingeladen worden seien, entspreche einfach nicht den Subventionsregeln des Kulturzentrums: Jedes Casting müsse für alle Gruppen offen sein. Oisín Moyne, der sechsundzwanzigjährige Regisseur des abgesagten Abends, sagte dazu das Offensichtliche: Er komme sich vor, als ob er „in einem absurden Traum gelandet“ sei.“


    Oisin Moyne der Regisseur hat, gerade einmal 26 Jahre jung, offenbar keine Kunde davon, dass es Regietheater gibt! Wüsste er, was ein Regietheaterkunstwerk ist, hätte er das Problem des Kulturzentrums Groningen ganz einfach gelöst: Für die Erstellung eines „Theaterkunstwerks“ ist die Tatsache, dass Samuel Beckett ein Männer-Stück geschrieben hat, schlicht und einfach in keiner Weise verbindlich! Die Regietheater-Ästhetik sagt: Weder das Werk, noch der Autor kann den Theaterkünstler zu irgend etwas verpflichten. Was aufgeführt werden kann und darf, darüber entscheidet nicht das Werk und nicht der Autor, sondern allein der Regisseur nach seinem Gutdünken. Also: Wenn das Kulturzentrum ein Casting wünscht, was die Frauenquote erfüllt, dann soll es die doch bekommen – Beckett und sein Stück hin oder her! Na und! Dann wird das Stück eben zweigeschlechtlich gespielt! Wo gibt es da irgendein Problem? Groningen muss auf eine Aufführung von Warten auf Godot Dank dem Regietheater-Prinzip


    „Nichts ist unmöglich. Toyota!“


    … nun wirklich nicht warten!


    Aber eines freilich hat der gute Oisin Mayne sehr gut erkannt! Den Rattenfänger-Flötentönen des Regietheaters offenbar noch nicht hörig trifft er des Pudels Kern: Das Regietheater ist schon längst „in einem absurden Traum gelandet“ – es ist nichts anderes als eine ästhetische Absurdität und absurdes Theater. Martin Esslin interpretiert Warten auf Godot als „Ausweichen vor Verantwortung“ als „gesellschaftliches Lebenskonzept“. Genau das ist die Unverbindlichkeitsmasche von Regietheaterkunst als Lebenskonzept: absurde künstlerische Verantwortungslosigkeit und absurder Zynismus der Missachtung von Werken als Form der absoluten Selbstbehauptung des Künstlers.

  • Beschluss des Tamino-Wahrheitsausschusses in der Sache Dr. Pingel


    (Anmerkung: Der Tamino-Wahrheitsausschuss wurde gegründet in der hochheiligen Tradition des jakobinischen Wohlfahrtsausschusses. Es geht ihm um die allgemeine Verteidigung der klassischen Musik in der Öffentlichkeit, die Feststellung von Falschbehauptungen und die Ahndung von Verbrechen gegen das Wahrheitsgebot in Sachen klassische Musik bis hin zur Todesstrafe.)


    Beschluss vom 18.5.2023:


    "Der Tamino-Wahrheitsausschuss verurteilt Dr. Pingel dazu, dass er nicht mehr behaupten darf, der Chor aus Beethovens 9. Symphonie habe nicht die idealische Vollkommenheit erreicht und klinge nicht wirklich chorisch. Zudem gilt ab sofort die folgende Bewährungsauflage, mit der Dr. Pingel dem Gang auf die Choristen-Guillotine, wo er seinen Kopf verliert, so dass er nie mehr in einem Chor singen kann, entgehen kann: Es ist ihm von nun an nur noch erlaubt, bei den Fischer-Chören mitzusingen.


    Begründung:


    Auch wenn ein Chorsänger-Laie bei 1000 Aufführungen mitgewirkt hat, bleibt er ein inkompetenter Laie, für den gilt: Denn sie wissen nicht was sie tun (singen). Denn: Nur der Profi-Sänger weiß was er singt und hat das Recht und die Kompetenz, Gesangsleistungen ästhetisch zu beurteilen. Das entspricht auch dem gesunden Menschenverstand: Kein Hobby-Autofahrer kann auch nach einer Million Fahrstunden das Fahrverhalten seines Autos beurteilen, sondern nur der Fahrer mit Rennfahrerlizenz. Kein Hobby-Klavierspieler kann und darf sich zum Klavierspiel eines Horowitz äußern, sondern nur einer, der ein Konzertexamen abgelegt hat. Nicht die Handlung qualifiziert, sondern die Prüfung. Nur Profis haben Sachverstand und ästhetische Urteilskompetenz - Laien ist sie a priori aus reinen Vernunftgründen abzusprechen. Eigentlich müssten alle Laienchöre wegen Dilettantismus als eine Kulturschande verboten werden - jedenfalls dürften sie nicht die heiligen Werke der klassischen Musik mit ihrem laienhaften Gekrächze verschandeln. In der klassischen Musik gibt es keine Demokratie. Der gute Geschmack und das richtige ästhetische Urteilsvermögen bleibt dem Fachmann und universitätsgeprüften Vollprofi vorbehalten.


    Nachtrag: Dr. Pingels Angebot, den Chor durch symphonische Stimmen zu ersetzen, wird abgelehnt. Diesen Einspruch hat ein gewisser Herr Richard Wagner erwirkt, der auf der "Erlösung der Musik durch das Wort" und also auf diesem Chorfinale besteht. Das sollte der Theologe Dr. Pingel verstehen. Die Möglichkeit auf eine Berufung gegen dieses Urteil wird deshalb ausgeschlossen.


    Hochachtungsvoll

    Der Tamino-Wahrheitsausschuss in Sachen klassische Musik"


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  • Umbenennung der Richard-Strauss-Straße in Wiesbaden


    Umbenennung der Richard-Strauss-Straße in Wiesbaden


    Sören Kierkegaard war nicht nur Theologe und Philosoph, sondern auch ein großer Humorist. Er schrieb einmal anlässlich der Eröffnung eines Vergnügungsparks in Kopenhagen eine ausführliche Abhandlung, die sich angesichts der mit diesem Ereignis verbundenen Versuchung für einen Christenmenschen – insbesondere wenn er auch noch ein puritanischer Protestant ist –, ganz zentralen Frage beschäftigt: Darf ein frommer Christ, der sein ganzes Leben Gott gewidmet hat, in so einen Vergnügungspark überhaupt gehen? Anschließend werden alle Einwände und Ermahnungen der protestantischen Sitten- und Glaubenspolizei vorgetragen, die in jeden, auch den verborgensten Winkel der armen Sünder-Seele leuchtet und Rechenschaft fordert, dass nirgendwo ein schwarzer Fleck des Unglaubens und der Sünde zu finden ist. Kierkegaards Humor macht nun all diese Gesinnungschnüffelei lächerlich und formuliert schließlich eine wiederum humoristische, geradezu lächerlich absurde Antwort, die aber ihren Tiefsinn hat, denn auf so eine Frage kann es schließlich nur eine absurde Antwort geben. Kierkegaard, der philosophische Entdecker des Absurden, sagt zuletzt: Ja, es ist unbedingt erforderlich, dass der Christenmensch sein ganzes Leben immer und in jedem Augenblick einzig und allein Gott widmet, nur muss er leider von dieser Verpflichtung des Glaubens manchmal „Urlaub“ nehmen – darf also in den Vergnügungspark gehen.


    Leider sind die Wiesbadener Stadtväter weder Humoristen noch haben sie Sinn für das Absurde hinter ihrem Tun. Die puritanistische Gesinnungsschnüffelei trägt heute den Namen political correctness und hält überall fleißig Ausschau nach den schwarzen Flecken: Wehe, eine öffentliche Person hat keine weiße Weste! Dann muss sie aus dem öffentlichen Gedächtnis schlicht gelöscht werden. War die Stadt Wiesbaden vom Teufel besessen, als sie es erlaubte, dass ein Richard Strauß mit einem Straßennamen zu ehren? Er hat doch mit Goebbels, also dem Teufel, paktiert! Also weg mit seinem Namen, auf dass die Erinnerung an ihn verschwindet. Und die deutsche Bundeshauptstadt Berlin erstellt eine „schwarze Liste“, da steht sogar ein Dietrich Bonhoeffer drauf! Das ist an sprichwörtlich gewordener „deutscher Gründlichkeit“ kaum noch zu überbieten! Auch sein Namen darf wohl bald nicht mehr ein ordinäres Straßenschild zieren. Warum? Die Sauberkeits-Schnüffler und Hüter der reinen öffentlichen Moral haben auf Bonhoeffers vermeintlich weißer Weste eines der wenigen Aufrichtigen, die anders als seine evangelische Kirche, die willfährig mit den Nazis kollaborierte, seinen Widerstand gegen den Nazi-Terror mit dem Leben im KZ bezahlte, schwarze Flecken das Antisemitismus ausgemacht. Es ist bei all dieser Hysterie nur eine Frage der Zeit, dass auch der Urvater des Protestantismus, Martin Luther, zur öffentlichen Unperson wird und nicht mehr als Wegweiser für die Gesellschaft fungieren darf. Denn auch bei ihm finden sich wie längst bekannt antisemitische Tiraden. Die Luther-Stadt Wittenberg? Er schadet damit doch dem Ansehen der Stadt! Warum haben das die Wittenberger nur noch nicht bemerkt? Es ist höchstwahrscheinlich nur noch eine Frage der Zeit, bis auch die Luther-Straßen und Luther-Plätze in Deutschland ganz und gar verschwinden.


    Und wenn schon Konsequenz und „deutsche Gründlichkeit“ – dann richtig! Richard Strauss auf Programmheften in der Oper, die aus Steuergeldern subventioniert wird? Fördert der deutsche Staat damit nicht das Wegsehen von Strauss´ schwarzen Flecken des Mitläufertums, von seinem Pakt mit dem Teufel, mit Freund Goebbels? Mein Vorschlag: Alle Namen von Persönlichkeiten und Künstlern, die schwarze Flecken auf ihrer weißen Weste haben, werden eliminiert und durch Pseudonyme ersetzt. Die reale Persönlichkeit verschwindet damit vollkommen hinter der Künstlerpersönlichkeit – nur sie darf geehrt werden und ist erinnerungswürdig für eine „saubere“ Gesellschaft, die sich so ein reines Gewissen verschafft. Also: Parsival wird nicht mehr als Oper von Richard Wagner angekündigt, sondern als das Werk von Tristan. Also sprach Zarathustra ist nicht mehr eine Symphonische Dichtung von Richard Strauss, sondern von einem gewissen Salome. Und als Bibelübersetzer wird nicht mehr Martin Luther genannt. Luther ist ab sofort nur noch zitierfähig als Der Bibelleser.


    Thomas Bauer, der Islamwissenschaftler und Kulturkritiker, sieht den Fundamentalismus nicht nur als ein religiöses Phänomen, sondern einen fatalen Grundzug der modernen, gerade auch westlichen Gesellschaft an. Wie Recht er damit hat, zeigt sich gerade hier. Den Fundamentalismus kennzeichnet nach Bauer, dass er das, was für das Leben einer freien Gesellschaft unerlässlich ist, die „Ambiguitätstoleranz“, beseitigt und in „Ambiguitätsintoleranz“ verwandelt. Ambiguitätstoleranz zeigt etwa Kierkegaards Humor, der das Widersprüchliche eines Glaubens, der sich einerseits ganz Gott widmet und es doch nicht tut, toleriert. Der Fundamentalismus dagegen akzeptiert nur das Widerspruchsfreie und Eindeutige und löscht entsprechend das Widersprüche, Vieldeutige aus, das er als bedrohlich ansieht. Dass Wagner ein großer Komponist und ein widerlicher Antisemit war, Richard Strauß ebenso ein bedeutender Komponist und zugleich ein gemeiner Mitläufer, Bonhoeffer ein Widerstandskämpfer und zugleich ein Mensch, der wohl auch nicht frei war von antisemitischen Ressentiments, davon, das sagt die fundamentalistische Moral ethischer Sauberkeit, will sich die Gesellschaft befreien, dies aus ihrem gesellschaftlichen Gedächtnis löschen.


    Die Lebenslüge und Doppelmoral dabei ist, dass sich speziell unsere deutsche Gesellschaft mit diesem Austausch von Namensschildern sehr bequem ein Alibi verschafft: Die „schwarzen Flecken“ sind keine Flecken mehr auf dem Hemd der Gesellschaft, die sich in Wahrheit als Gesellschaft im Ganzen in den Nationalismus verstrickt hat, was bis heute gilt, wo Nazis in den Parlamenten sitzen mit verfassungsfeindlichen Bestrebungen, was das Verfassungsgericht gerade festgestellt hat. Daran, an diese kollektive Verstrickung in die Verbrechen des Nationalsozialismus, muss sie sich nun nicht mehr erinnern, indem sie diese schwarzen Flecken den Individuen, ihren „charismatischen Führern“ stellvertretend anhängt und anschließend deren Namen aus der öffentlichen Erinnerung löscht. Dann kann sie sich beruhigen und sagen: Ich habe eine „reine Weste“. Gerade damit aber, dass die kulturell prägenden großen Persönlichkeiten eben keine „reine Weste“ hatten, zeigt sich doch, dass die Gesellschaft, die sie so gerne vergöttert hat und bis heute vergöttert, selber eine „reine Weste“ nicht besessen hat und bis heute nicht besitzt.


    Mein Vorschlag an die Wiesbadener Stadtväter ist deshalb, die „Richard-Strauß-Straße“ in „Adolf-Hitler-Straße“ umzubenennen. Denn Bücherverbrennungen, die Vergasung von Menschen im KZ verfolgten letztlich dasselbe Ziel der Auslöschung von Erinnerung. Die Beseitigung des Namens von großen Persönlichkeiten aus dem Stadtbild, sie „leistet“ wieder einmal, Menschen aus dem gesellschaftlichen Gedächtnis einfach verschwinden zu lassen. So kann die „Adolf-Hitler-Straße“ in Wiesbaden an alle durch das Austauschen von Namensschildern in Deutschland nunmehr namenlos Gewordenen erinnern: Hitler lebt! Die Verurteilung von Menschen zur Namenlosigkeit ist Fundamentalismus und totalitäres Denken – damals nicht anders als heute.

  • Der ekelhafte Rausch






    Den Begriff "ekelhaft" verbinde ich mit grober ästhetischer Verfehlung, was verstehst du darunter konkret im vorliegenden Fall?


    Eine grobe ästhetische Verfehlung ;) .

    Konkret: Sie missbraucht das Stück für eine billige, abgeschmackte Show, indem sie ein Tempo anschlägt, bei dem kein Rhythmus mehr erkennbar sowie keine Artikulation und keine Differenzierung möglich ist, und bei dem sie am Ende völlig versagt und mehr falsche als richtige Töne spielt. Dafür springt sie mit dem Schlusston beifallheischend und wie von sich selbst berauscht auf. Sie sollte sich statt dessen schämen für einen solchen Schund.


    Na, jedenfalls sind die Künstler großteils nicht mehr Mönche, offenbar bleibt auch nichts, wie es einmal war!

    Was für ein Sturm im Tamino-Bildungsphilister-Wasserglas! ^^ Ist vielleicht Khatia Buniatishvili die Fleisch gewordene Teufelin der Verführung aus Franz Schrekers Oper Der Schmied von Gent, die der listige Schmee schließlich in einen magischen Sack steckt, damit sie ja nicht mehr rauskommt? Bei Tamino wird nicht nur Buniatishvilis Erotik in den Keuschheits-Sack aufrichtiger Entrüstung der Wahrer der hohen und heiligen "klassischen Musik" gesteckt, sondern gleich damit das Publikum, dass sich von ihr faszinieren lässt, in die Hölle verbannt. Das kann ja wohl auch nicht sein! || Für den wahren Romantiker ist die Musikstunde eine Art religiöser Andacht. Wie bei einem Gebet vor dem Kruzifix hat der Künstler vor dem großen Werk gefälligst die Hände zu falten, auf den Knien zu rutschen und in dieser Demutshaltung nur das Werk und nichts als das Werk zu spielen, als wären es nicht seine Töne, die er seinem Instrument mit manueller Geschicklichkeit entlockt, sondern etwas ihm ganz Fremdes, englische Musik, als tönte hier die Stimme Gottes.


    Was aber tut Teufelin Buniatishvili? Sie versetzt sich und ihr Publikum in einen wahren Rausch. Hoppla - da denke ich Bildungspießer natürlich gleich an Friedrich Nietzsche: das "Dionysische", das "Dionysische" aus der Geburt der Tragödie! Der Rausch des Weingottes Dionysos, er soll, so Nietzsches scharfsinnige Analyse, in der europäischen Kultur nicht sein, er muss durch das "Apollinische" stets verklärt werden. Das ist der verflixte "Sokratismus" mit all seiner aufgeklärten Verständigkeit. Apollon mit Pfeil und Bogen heißt bekanntlich mit Beinamen "der Ferntreffer". Das Dionysische in seiner verfänglichen Unmittelbarkeit und Distanzlosigkeit ist demnach das Unkünstlerische - wahre Kunst dagegen ist apollinisch und nicht dionysisch, berauscht also nicht sondern schafft immer Distanz! Also gerade nicht in einen Rausch versetzen sollen uns Musik und Musiker wie die rauschenden Flötenklänge bei Platon, weswegen der große Philosoph die Dichter gleich aus dem Staat verbannt, weil sie dionysisch von Sinnen die Sittlichkeit zerstören. Zugelassen ist bei Platon nur ein Instrument: die Leier - weil sie so schön apollinisch-mathematisch ist mit ihren verständig-vernünftigen harmonischen Klängen und eines gewiss niemals: sinnlich berauschend! Und ist nicht das Klavier die moderne - klassisch-romantische - Leier?


    Der Bildungsspießer in mir steigert sich hier weiter beinahe rauschhaft hinein in literarische Geistreichigkeiten: Du weißt ja, Thomas Mann Der Tod in Venedig! Da geht es um die Kunst, eine Kunst der Bemeisterung, welche das heiß Dämonische, Rauschhafte in die kühle Flamme der Form bannt. Nur leider entgleitet dem künstlerischen Willen zur Form, welcher das Sexuelle unterdrückt, sein Eros. Das Dämonische bricht durch und die Kunst der Meisterschaft und Bemeisterung findet ihren Tod im sinnlich-erotischen Erlebnis. Khatia Buniatishvili besitzt die Unverschämtheit, einfach erotisch zu sein und diese Triebe in ihr loszulassen. Sie berauscht sich selbst und ihr Publikum. In das precipitato, was wörtlich "sich hineinstürzend" heißt, stürzt sie sich, dies wörtlich nehmend, als Bauchmusikerin einfach ungeniert hinein. Darf sie das? - fragt sich nun der europäische Bildungsspießer in uns. Freilich bleibt bei Buniatishvili das Apollinische, das es auch bei diesem Prokofieff gibt, auf der Strecke, Prokofieffs Musik stirbt bei Buniatishvili ihren Tod in Venedig, die Musik wird, so kopflos, wie die Bauchmusikerin Buniatishvili spielt, nicht mehr souverän formbewusst bewältigt. Statt dessen lässt sich Buniatishvili von ihrem Spiel selbst überwältigen und überwältigt ihre Zuhörer! Pfui Teufel, schreien wir da alle als Bildungsspießer und beginnen mit sehr vernünftig-sachverständigem Erbsenzählen, was sie da alles an Formen zertrümmert. Und unterstellen ihr dabei noch, dass sie als Musikerin nicht ehrlich ist, sondern nur Show machen will. Nein! Buniatishvili macht keine Show, sie spielt so, wie sie ist, emotional und sentimental wie eine Bauchmusikerin es nunmal tut. Da ist nichts Gewolltes dabei - sie lässt ihre sinnlich-erotischer Natur einfach raus ohne artifizielle Sublimierung. Sie ist ein musikalisches Naturkind und wird es wohl immer so bleiben.


    Es ist natürlich klar: Prokofieff wollte nicht den Tod in Venedig sterben mit diesem seinem mitreißenden Precipitato, das Maschinenhaft-Mechanische ist gerade das rauschbändigend Apollinische, welches mit seiner eisernen Totenstarre den wilden Lebensrausch artifiziell kultiviert. Dafür hat Naturkind Buniatishvili freilich keinen Sinn. In der Tat! Aber ich bin eben nicht Bildungspießer genug, um für diese musikalische Dionysosfeier sowas wie Abscheu und Ekel zu empfinden. Lasst doch die Naturkinder Naturkinder sein - und leben!


    Die Dämonisierung des Rauschhaft-Erotischen ist nunmal auch ein verfluchtes christliches Erbe. Und diese Kultur verklemmter Leibfeindlichkeit sollen wir weiter pflegen? Pfui Teufel, kann ich dazu nur sagen! :saint: :angel: :D :D :D

  • Dies irae - oh Gott, ein Verriss!


    Kopfhörer-Klausuren. Dr. Kalethas esoterisches Hörtagebuch


    Die Aufnahme von Bruce Liu habe ich mir gleich dreimal hintereinander angehört und hatte dann noch immer den Eindruck, nicht alle Facetten seines farbenreichen Spiels hinreichend gewürdigt zu haben. Holger fehlt in den Stücken im Vergleich zu anderen Aufnahmen jeweils die große Linie, aber auch das Abgründige und Dramatische. Ich muss das nochmal nachhören, aber ich hatte die Aufnahme nicht mit einer bestimmten Erwartung gehört, auch nicht vergleichen, sondern mich einfach darauf eingelassen. Den Verriss kann ich in dieser Schärfe überhaupt nicht nachvollziehen und ich habe den Eindruck, dass die Kritik hier ihr Ziel verfehlt.


    Das Grimaud-Album hatte Holger auch verrissen, offenbar findet er Gefallen an dieser Textsorte.

    Was esoterische Klausuren doch alles exoterisch bewirken! :D "Klausur" kommt wie das Wort "Kloster" von lateinisch claustra und meint einen umschlossenen Bezirk. Was dort geschieht, ist also eigentlich privatissime. Ich erlaube freilich den geheimen Blick in meine Kammer, wo man meine esoterischen Gedanken findet, mein Entzücken - und eben auch meine Enttäuschung, vielleicht sogar herbe Enttäuschung! Ist das ein "Verriss"? Eigentlich nicht, denn diese Form der Kritik ist überhaupt keine esoterische, private Klausur, sondern ganz und gar exoterisch, nicht privat, sondern für die Öffentlichkeit geschrieben. Ich erinnere mich eigentlich nur an einen deftigen Verriss, den ich tatsächlich in Tamino eingestellt habe. Das war eine Kritik von Lang Langs Wiener Konzert. Sie zu finden, ist leider für mich und wohl alle anderen Leser hier so gut wie unmöglich wegen der katastrophalen Suchfunktion der Forensoftware. Gibt man "Lang Lang" ein, wird das automatisch geändert in "lang lang" und die Suchfunktion listet über 50 Seiten alle Wortverbindungen auf, wo "lang", also "ellenlang" "viel zu lang" usw. usw. vorkommt. Lang Lang findet man so vergeblich (warum muss der auch so einen bescheuerten Namen haben, den keine Software versteht, wenn sie kein Chinesisch kann!) - und so darf man meinen streng betrachtet einzigen Verriss bei Tamino als verschollen betrachten. =O


    Merkwürdig, was Leser alles finden in dem, was man schreibt. Ich öffne also ein wenig weiter die Tür zu meiner ganz privaten Kammer. Als geradezu besessener Freund des Klaviers und aller guten Klavierspieler halte ich ständig Ausschau. Wer von den neu auftauchenden Sternen oder Sternchen am pianistischen Sternenhimmel könnte nicht von der Art sein, dass er nur allzu hell aufleuchtet um gleich wieder zu verglühen? Bruce Liu vielleicht? Der Name war mir neu. Also googelte ich und fand seinen Chopin. Gerade die Nocturnes überzeugten mich nicht. Ja, da spielt einer empfindsam und kultiviert. Nur leider reduziert er ein Chopin-Nocturne wie zumeist zu hören auf ein romantisches Stimmungsbild und eine Aneinanderreihung von "schönen Empfindungen". Sensualismus halt. Das ist mir aber leider zu wenig. Dann klickte ich bei Youtube auf Vladimir Ashkenazy, um für mich die Dinge zurecht zu rücken: Was ist das doch für ein anderes Niveau! Bei Ashkenazy gibt es einen roten Faden, so ein Chopin-Nocturne hat bei ihm eine Dramaturgie. Jedenfalls dachte ich mir nach all dem: Nein, diese Sternschnuppe Liu leuchtet zwar hell mit dem Chopin-Preis, aber vom Himmel herunterzupflücken brauche ich sie nicht. Dann gab es interessante Diskussionen hier, die mein Augenmerk auf Lius Debut-CD legten - mit den Miroirs. Debussy und Ravel - das ist "meine" Musik und war es immer schon. Also begann ich wieder zu googeln und fand jenen Trailer, wo er auf einem kleinen Bösendorfer-Flügel Oiseaux tristes spielt. Das gefiel mir - gerade wegen des sehr eigenen Klangs. Sensualismus zum Trotz - es hatte eine eigene Note. Also dachte ich mir, auch wegen der interessanten Programmzusammenstellung mit Rameau und Alkan: Diese CD kaufe ich mir!


    Nun ist das eine Debut-CD, wodurch der Künstler ein Markenzeichen setzen kann. Rafal Blechacz ist das damals nach seinem Gewinn des Chopin-Preises und Exklusivvertrag mit der Deutschen Grammophon mit seiner fabelhaften Einspielung der Chopin-Preludes gelungen. Damit konnte er sich schlagartig in der Weltspitze etablieren und man hat ihn seitdem sozusagen "auf der Rechnung" als einen führenden Pianisten seiner Generation. Debut-CDs schaffen also eine gewisse Erwartungshaltung. Wettbewerbsgewinner gibt es wie Sand am Meer - aber auch solche, die wirklich zum Olymp der Klaviergötter - oder Halbgötter zumindest - aufsteigen? Nun muss ich auch gestehen, dass ich gerade die zahlreichen Aufnahmen der jüngeren Generation mit Einspielungen von Debussy und Ravel meist wenig begehrlich und anachronistisch finde - weil sie altmodisch romantisieren. Das Aufrührerische, Moderne dieser beiden "Impressionisten" ist weg. Da wird sehr gefällig, klangschön gespielt - aber so ein Debussy und Ravel ist dann mehr Musik des ausgehenden 19. als beginnenden 20. Jahrhunderts. Von den Miroirs gibt es inzwischen viele schön gespielte neuere und neue Aufnahmen - nur keine einzige erreicht die kompromisslose Radikalität und Modernität der inzwischen sehr betagten maßstabsetzenden Aufnahme von Monique Haas. Bei Monique Haas ist unmissverständlich klar, dass es sich bei Ravel um "moderne" Musik des 20. Jhd. handelt. Gerade bei den Mirroirs - so messerscharf analysiert und den Strukturalismus in Ravels Klaviersatz zum Vorschein gebracht hat das bis heute Niemand! So etwas hatte ich natürlich von einem Sensualisten wie Bruce Liu nicht erwartet, aber doch etwas mehr, eine unverwechselbare eigene Note. Von einer Debut-CD erwartet man schließlich etwas Besonderes. Leider aber spielt er in der Studioaufnahme schlicht auf dem falschen Flügel! Die gewisse Verzauberung, die er mit dem Bösendorfer mit dem Trailer bei mir erreicht hatte, sie will sich nicht einstellen. Der Bösendorfer hat diesen satten, dunklen und farbigen Klang, der Bruce Lius doch etwas dünnem Klavierton Fleisch geben kann, so dass auch die dunklen Untertöne anklingen. So aber hört man auf dem Steinway der Studioproduktion eine gefällige, klangschöne, aber auch absolut aus der Masse der guten bzw. ansprechenden Einspielungen nicht herausragende Aufnahme. Das Wesen von Ravels Musik trifft sie dabei nicht wirklich, sondern bleibt an der elegant-gefälligen Oberfläche - eine Gefahr, die gerade bei impressionistischen Klavierstücken für den Pianisten immer lauert. Und das war meine Enttäuschung.


    Und sie wurde noch gesteigert schließlich durch La vallée des cloches, was schlicht eine kapitale Fehlinterpretation ist. Ich kenne gerade dieses Stück nur zu gut - denn ich spiele es schließlich auch selbst. Worum es geht, kann man gut nachvollziehen, denke ich, nicht zuletzt, weil es eine Welte-Mignon-Rollenaufnahme von Maurice Ravel selbst gibt:



    Ravel erlaubt sich durchaus Freiheiten wie Dehnungen, die aber bezeichnet immer die "Form" betonen, also die Abschnitte unterstreichen. Dasselbe gilt für die Akzentuierungen, die stets die "Grammatik" des Musikstücks verdeutlichen. Bruce Liu dagegen erlaubt sich Rubatis, schönfärberische Sentimentalisierungen, mal wird ein Licht hier aufgesetzt, mal dort etwas mit einem leichten Schatten zärtlich säuselnd verklärt, ohne Rücksicht auf die Architektur dieses musikalischen Gebäudes. So wird solche natürlich sehr fantasievolle Empfindsamkeit aber geschmäcklerisch, dient nicht mehr der Verdeutlichung von musikalischem Sinn. Doch das ist gar nicht das wirkliche Gebrechen bei Bruce Liu. Mit dem Glockenschlag ist der Ton immer "auf einmal da", hat diese charakteristische Vollendung des Anfangs, der dann lange und sehr lange dauernd ausklingt. Genau das verschafft diesem Glockenstück die Aura des Zeitlosen, eines Stillstandes von Zeit, indem die Glocken ineinanderklingen und so die Zeit dehnend zum "Dauern an sich" verdichten, einer Art Apothoese von Dauer. Was aber macht Bruce Liu? Schon zu Beginn beschleunigt das Glockengeläute, die Glocken laufen quasi weg, als liefen sie vor etwas davon, es gibt willkürliche Crescendos und Rubatos. All das ist eine Dynamisierung, welche sinnwidrig ist: Das Glockengeläute kennt weder ein Ziel, wohin es sich bewegt, noch sind die eisernen Glocken lebende, artmende Wesen. Der Eindruck von zeitloser Dauer und Stille - er wird damit empfindlich gestört. Und genau das geht nicht und ist schlicht eine Fehlinterpretation. Das demonstriert eindrucksvoll Ravels eigene Aufnahme als auch alle anderen guten Interpretationen dieses Stücks.


    Bevor ich mich nun wieder in meine Klausur zurückziehe, noch die Anmerkung zu einer weiteren Seltsamkeit. Wie kann man nur auf die groteske Idee kommen, ich hätte eine Apologie von Khatia Buniatishvilis Vortrag des Precipitato aus Prokofieffs 7. Klaviersonate schreiben wollen?


    Aufgespießt. Dr. Kalethas Kuriositätenkabinett. Humoristische und ernst gemeinte Antworten auf Merkwürdigkeiten


    Dort steht doch nun klar und deutlich zu lesen, dass ich Buniatishvilis furiosen Tastenrausch u.a. als "kopflos" bezeichnet habe! Anlass für dieses Aufspießen einer Kuriosität ist eben nicht Buniatishvilis missglückte Interpretation, sondern die Art und Weise, wie ihr Vortrag in der Tamino-Resonanz skandalisiert wird: als ekelhaft, als unseriöse bloße Show mit der Konsequenz, ihr den "künstlerischen Anspruch" abzusprechen. Leider ist das Youtube-Video ihres Auftritts beim Vebrier-Festival 2011, wo sie die komplette 7. Klaviersonate gespielt hat, das ich verlinkt hatte, nur bei Youtube direkt abhörbar und in meinem besagten Beitrag ein schwarzes Fensterloch geblieben, das sich deshalb wohl Niemand angehört hat. Beim Vebrier-Festival trifft sich die Creme de la Creme der Pianistengarde, Martha Argerich, Kissin usw. Das Publikum ist entsprechend - durch den möglichen Vergleich der Klaviertitanen - sehr aufmerksam und kritisch. Man merkt es Khatia Bunbiatishvili hier an, dass sie sich sorgfältig vorbereitet hat. Und sie spielt 2011 beim Festival das Precipitato-Finale ganz genauso wie bei ihrer Zugabe 2018! Also ist das ihr interpretatorisches Konzept, was man freilich für missglückt halten und das auch durch eine Analyse begründen kann. Nur ein Skandal, der es erlaubt, ihr selbstherrlich jegliche künstlerische Seriosität abzusprechen, ist dieser ihrer so mitreißender Vortrag damit einfach nicht. Auf diese Unsäglichkeit nimmt dieser mein Beitrag Bezug. Nicht mehr und nicht weniger.


    Und damit verabschiede ich mich in die Stille meiner Klausur, wo ich mit großem Vergnügen Ravels Glockenstück spiele. :saint:

  • Dr. Pingel´s Schreibtisch - nur echt mit dem falschen Apostroph


    Eine Nachricht an Mit-Schreibtischtäter Holger Kaletha


    Das Kuriosenkabinett erfreut mich immer wieder, obwohl ich so gut wie nichts vom Klavier verstehe. Es ist wohltuend, dort keine Beschwerden, Wortklauberei oder gar shit storms zu erleben, wobei es dir besser gelingt, diese zu vermeiden als mir: QUOD LICET JOVI NON LICET BOVI. Danke noch mal für den Wohlfahrtsausschuss, meine Analogie ist ja das "Politbüro", was auch nicht goutiert wird. Jetzt aber kommt das Druckfehler-Trüffelschwein (PINGEL HOG) zu seinem Recht. In Artikel zwei gibt es einen sehr schönen Druckfehler. Ungefähr in der Mitte folgt auf ein kräftiges "Helau" diese Aussage: "Ich konnte mir den Bach nicht mehr halten..."

    Die Fülle der Interpretationen müssen wir verschieben...

    Lieber Dr. Pingel,


    Du hast meinen Tag gerettet! Das beste und gesündeste Lachen ist doch, wenn man über sich selber lacht! ^^ Das Novembergrau hat einen golden-glänzenden Schimmer bekommen - das als Andeutung meines folgenden Beitrags. Die karnevalistisch-tolle Stelle muss ich erst noch finden. ;) Bach und das Lachen - das erinnert mich an die Kaffeekantate, die damals zu meiner Schulzeit unser Kunstlehrer Albert Fürst mit seiner Familie aufführte mit seiner privaten Panto-Mini-Oper (so hieß sie glaube ich - stimmt! S.u.!). Er sang den Bass, seine Tochter und sein Sohn sangen und seine Frau, Annemarie Franken-Schwann, spielte das Cembalo. Schöne Erinnerungen! :hello:


    Albert Fürst (Künstler) – Wikipedia


    Ein schönes Wochenende wünschend mit lieben Grüßen

    Holger

  • Von der inneren Schönheit und ihrem tiefen Leben


    kein Fan vom weichgespülten Glanzravel?


    Die tiefer versteckte Schönheit ist und bleibt dem gewöhnlichen Zuhörer mMn verschlossen.


    Ich sprach von tiefer versteckter Schönheit, du von Schönheit.


    Hmm. rein logisch betrachtet würde ich den Begriff "versteckte Schönheit" doch in Schönheit und das Attribut versteckt zerlegen, so dass man , wenn man darüber spricht, doch eigentlich beides definieren können sollte.


    Das macht die Sache nur schlimmer, weil Du weder "tief versteckt" noch "Schönheit" definierst. Da bleibt nur ein inhaltsleeres Schlagwort übrig, das keinen Hochmut gegenüber dem "gewöhnlichen Hörer" rechtfertigt.


    Wo erkennst du Hochmut?


    Warum wird die Sache nur schlimmer?


    In Deiner Abgrenzung zum "gewöhnlichen Hörer", von dem Du ohne Begründung behauptest, dass er im Gegensatz zu Dir die in der Tiefe verborgenen Schönheiten nicht kapiert. Aber lassen wir das, ich will Dir Dein wohliges Überlegenheitsgefühl nicht weiter trüben. Statt dessen lieber ein passendes Gedicht von Eugen Roth:


    Warum so aggressiv und spöttisch?


    Pardon, aber jetzt mische ich mich doch noch ein - vorhin habe ich kurz überlegt und dann Abstand genommen -, ... Doch ich hätte an seiner Stelle ganz genauso spöttisch und dezent aggressiv reagiert, mit Verlaub!


    Solche Gedanken können aber nicht diskutiert und entwickelt werden, wenn jemand einfach nur behauptet, er würde "tief versteckte Schönheiten" wahrnehmen, die dem "gewöhnlichen Hörer" verschlossen blieben, und dann auf Nachfragen keinerlei Antworten gibt.


    Supplement:

    Zitat

    "Wenn Du in der Bewegung, die dieses große Schauspiel Dir verursachen muß" - sagt bei Gelegenheit entsprechender Dinge der große Plotin, er, der von allen Geistern, die ich kenne, der Gottheit am nächsten stand, "wenn Du in dieser Bewegung nicht ausrufst, daß es schön sei, und wenn Du dann, beim Versenken Deines Blickes in Dich selbst, den Zauber der Schönheit nicht empfindest, so suchest Du in einem solchen Zustande vergeblich nach intelligibler Schönheit; denn Du suchest sie nur mit dem Unschönen und Häßlichen. Darum auch richten sich die Gespräche, die wir hier halten, nicht an alle Menschen. Wenn Du aber in Dir die Schönheit erkannt hast, so erhebe Dich zur Erinnerung der intelligiblen Schönheit …"


    Maurice Maeterlink: Von der inneren Schönheit

    Oh, was hätte doch der große Humanist Erasmus von Rotterdam an dieser Tamino-"Diskussion" für eine große Freude gehabt! Das wäre ihm glatt ein weiteres Kapitel seines "Lobes der Torheit" wert gewesen. Da er das aber nicht mehr schreiben kann, will ich es an seiner Stelle hier hinzufügen. Es trägt die Überschrift: "An alle Toren in Sachen Ravel im esoterischen Tamino-Club aber auch außerhalb im Rest der Welt!"


    Meine Lieben Tamino-Toren! Wer war Maurice Maeterlink? Vielleicht kennt Ihr ihn ja doch! Ich gebe einen Wink: Er war der Textdichter von Claude Debussys Oper... Na, wie hieß sie denn noch? Und Plotin? Ich bitte zu googeln! Was sagt der Philosoph Plotin - ich verrate es, er ist der Begründer des sogenannten Neuplatonismus. Neuplatonismus! Man muss also Platon kennen, um Plotin zu verstehen. Die Erkenntnis der Schönheit wird bei Plotin esoterisch - sie ist keineswegs für alle Menschen bestimmt. Wie erklärt sich das? Ihr wundert Euch! Platon lesen! Platon lesen, sage ich da nur! Erkenntnis ist Erinnerung (griechisch anamnesis) dessen, was man im tiefen Inneren der Seele eigentlich schon weiß. Aber, werdet ihr Toren fragen: Warum ist diese Weisheit nicht gleich und leicht verständlich und nicht für alle Menschen bestimmt, sondern nur für einen eitlen esoterischen Zirkel? Nur keine Ungeduld! Auch das lässt sich beantworten. Nur Platon lesen. Dialog Politeia (ich verzichte auf die problematische Übersetzung, was Ihr Toren natürlich nicht verstehen könnt, aber egal, wir sind hier schließlich in meinem esoterischen Philosophenzirkel), das berühmte satirische Höhlengleichnis, Satire auf alle menschlichen Toren, die keine wahre Erkenntnis besitzen. Was war das noch...


    In der Höhle sitzen Menschen, gefesselt, schauen auf eine Höhlenwand und sehen lauter Schatten von den Dingen, aber nie die Dinge selbst. Dazu müssten sie aufstehen und in die Sonne blicken, die in ihrem Rücken die Schattenbilder an die Höhlenwand projiziert. Erkenntnis ist also eine Anstrengung. Der Mensch muss die Fesseln der Torheit, die er sich selber angelegt hat, sprengen und eine "Umwendung der Seele" (griech. periagoge) vollziehen, sich also im Bild des Höhlengleichnisses um 180 Grad drehen und hinaufgehen zur Sonne der Erkenntnis. Das ist aber nicht leicht und selbstverständlich, wenn man, um das Wahre, Schöne und Gute zu erkennen, gleich seine ganze Lebenseinstellung ändern muss. Deshalb also sagt Plotin: Die Erkenntnis des Schönen ist eine esoterische Angelegenheit - das Schöne erkennen können nur die wenigen Menschen, welche die Kraft aufbringen, diese periagoge zu vollziehen, in die Sonne zu blicken.


    Karl und Kalli und vielleicht noch einige hier Ungenannte gehören zu den wenigen Menschen, die das geschafft haben. Sie haben von Ravels Musik nicht nur die Schattenbilder der Oberflächenreize vernommen, sondern die wahre, verborgene Schönheit dieser Musik erblickt. Dafür haben sie von Euch versammelter Torenschar Prügel eingesteckt. Warum eigentlich Ihr Toren die Prügel verdient habt, erkläre ich nun mit der Gelehrsamkeit eines Ästhetikprofessors. Es gibt zwei Arten von Schönheit, die innere Schönheit und die oberflächliche Schönheit. Die Toren bei Platon, das ist die "doxa", die alltägliche Meinung. "Dokei moi" - die griechische Wendung heißt: "Es erscheint mir so". Die Doxa ist also eine Erscheinung im Sinne einer bloß beschränkten Ansicht oder Meinung. Doxa hat aber noch die ästhetische Bedeutung von "Glanz" - wie bei dem goldglänzenden Bolusgrund einer Ikone. Die äußere Schönheit ist die glänzende Schönheit, welche die Doxa - Euch Tamino-Toren - durch ihre Reizqualität gefangen nimmt. Weil Reize verfänglich sind, kostet es eben wie bei Platons Höhlenbewohnern eine Anstrengung, diese Fesseln des oberflächlichen, reizenden Schönen zu sprengen und so befreit in die Tiefe zu schauen, um dort die wahre, innere Schönheit zu erblicken. Dann ist das Schöne nicht nur Reiz, nicht nur Wirkung, sondern Darstellung und Ausdruck. Das werden Ihr Toren natürlich nicht verstehen! Nur einen Rat solltet Ihr annehmen: Nicht dem Ressentiment verfallen, also Eure Schwäche, keinen Tiefsinn und keinen Blick für die innere Schönheit zu haben, zum Verdienst umlügen. Es ist kein Hochmut, Esoteriker in Sachen Schönheit sein. Es ist aber Torheit und pures Ressentiment, solche Esoterik als Hochmut zu verachten!


    Karl und alle anderen Ravel-Esoteriker! Lasst Euch also nicht von der Tamino-Torenschar beirren! Ravel hat "innere Schönheit" und ein "tiefes Leben" (das ist der Titel eines Prosatextes von Maurice Maeterlinck - Anmerkung für alle Toren) ^^ :saint: :angel:

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  • Nun wird auch Karajan "entfernt"


    Theater Aachen baut Karajan-Büste ab (aachener-zeitung.de)


    Was ist dran an Karajan? - Versuch einer Analyse


    Also Karajan ist der nächste! Ich brauche hier nur meinen obigen Beitrag Nr. 6


    Aufgespießt. Dr. Kalethas Kuriositätenkabinett. Humoristische und ernst gemeinte Antworten auf Merkwürdigkeiten


    zu zitieren - "Namensschilder austauschen" ist lediglich durch "Büsten entfernen" zu ersetzen:


    Die Lebenslüge und Doppelmoral dabei ist, dass sich speziell unsere deutsche Gesellschaft mit diesem Austausch von Namensschildern sehr bequem ein Alibi verschafft: Die „schwarzen Flecken“ sind keine Flecken mehr auf dem Hemd der Gesellschaft, die sich in Wahrheit als Gesellschaft im Ganzen in den Nationalismus verstrickt hat, was bis heute gilt, wo Nazis in den Parlamenten sitzen mit verfassungsfeindlichen Bestrebungen, was das Verfassungsgericht gerade festgestellt hat. Daran, an diese kollektive Verstrickung in die Verbrechen des Nationalsozialismus, muss sie sich nun nicht mehr erinnern, indem sie diese schwarzen Flecken den Individuen, ihren „charismatischen Führern“ stellvertretend anhängt und anschließend deren Namen aus der öffentlichen Erinnerung löscht. Dann kann sie sich beruhigen und sagen: Ich habe eine „reine Weste“. Gerade damit aber, dass die kulturell prägenden großen Persönlichkeiten eben keine „reine Weste“ hatten, zeigt sich doch, dass die Gesellschaft, die sie so gerne vergöttert hat und bis heute vergöttert, selber eine „reine Weste“ nicht besessen hat und bis heute nicht besitzt.

  • Karajan - Versuch einer Analyse???


    Letztlich und ungeachtet all meiner persönlichen Skepsis seinen ästhetischen Idealen gegenüber finde ich, daß Herbert von Karajan es nicht verdient hat, dass der Blick auf den privaten Karajan und das von ihm selber inszenierte Marketing die Bewertung des Musikers überlagert.

    Sehr richtig! :!:


    Zur Bewertung des Musikers Karajan mal ein Zitat - von einem auch nicht ganz unbedeutenden Dirigenten, Mariss Jansons nämlich:


    “Karajan war einer der größten Dirigenten aller Zeiten und eine der größten Persönlichkeiten, die ich je getroffen habe. (...) Er erschien mir immer wie ein großer Vogel mit weiten Schwingen. Wir weilten unten auf der Erde, doch er überflog die Welt und betrachtete sie aus einer viel höheren Perspektive. Seine großen Ideen hat er tatsächlich auch verwirklicht. Ein Genie wie Karajan gibt es nur sehr selten in unserer Welt.”


    Wo gerade das Verhältnis Karajans zum Nationalsozialismus so in den Schlagzeilen ist, dazu ein biographisches Detail:


    Mariss Jansons – Wikipedia


    Mariss Jansons wurde 1943 in Riga als Sohn des lettischen Dirigenten Arvīds Jansons geboren. Seine Mutter Iraida Jansone war eine Mezzosopranistin jüdischer Herkunft.[2] Sie brachte ihren Sohn in einem Versteck zur Welt, in das sie sich geflüchtet hatte, nachdem ihr Vater und ihr Bruder im Rigaer Ghetto umgekommen waren.


    Was Mariss Jansons, würde er noch leben, wohl dazu gesagt hätte, dass man seine Büste in Aachen entfernt, weil dies das Ansehen der Stadt angeblich schädigt wegen seines Verhältnisses zu Nazi-Deutschland?


    Nein, eine wirklich in die Tiefe gehende "Analyse" des Phänomens Karajan gibt dieser Tamino-Thread nicht. Alles was da steht, bleibt an der Oberfläche.


    Anmerkung: Karajan war überhaupt nicht der Dirigent, der meine Hörgewohnheiten geprägt hat. Ich habe eigentlich immer einen Bogen um ihn gemacht. An seiner herausragenden künstlerischen Bedeutung gibt es aber für mich keinen Zweifel. Gerade, wenn man wie in meinem Fall sich ihm aus der Distanz genähert und ihn spät entdeckt hat, wird das evident.

  • Hallo Holger !

    Als Forenbetreiber habe ich natürlich auch zu "reservierten" Threads Zugang

    Das es solche Reservierungen gibt, wird von einigen beanstandet - dem folge ich nicht, denn MIR wäre es am liebsten, wenn jedes Mitglied seine Beiträge schreibt ohne das andere zu kennen, wie etwa bei FONO FORUM oder anderen themenbezogenen Zeitschriften mit "Korrespondenten" als Mitarbeitern. Das brächte mehr Sachlichkeit


    ABER - Es wurde ferner auch beanstandet - IMO zu Recht, daß dieser Thread hier dazu benutzt wird, auf Threads ausserhalb dieses Bereichs zu reagieren und das oft negativ - UND

    das man dann keine Möglichkeit hat sich zu wehren .- sosagen eine Einbahnstraße - oder wie ein Heckenschütze.


    Ich wurde daher von EINIGEN Aufgefordert, dieses Privileg abzuschaffen - was ich DERZEIT NICHT mache.

    ABER -ich bitte nachdrücklich, HIER im geschützen Bereich - keine wie immer gearteten Statements auf andere Beiträge im Forum zu verfassen, sondern dort - quasi mit offenem Visier- für seinen Standpunkt einzustehen und gegebenfalls Gegenangriffe - bis hin zum (hoffentlich nicht stattfindenden)"Shitstorm" zu riskieren.


    Ich bitte freundlichst, das zu akzeptieren


    mfg aus Wien

    MOD 001 + ADM001

    Alfred

    Die Tamino Moderation arbeitet 24 Stunden am Tag - und wenn das nicht reicht - dann fügen wir Nachtstunden hinzu.....



  • Ich wurde daher von EINIGEN Aufgefordert, dieses Privileg abzuschaffen - was ich DERZEIT NICHT mache.

    ABER -ich bitte nachdrücklich, HIER im geschützen Bereich - keine wie immer gearteten Statements auf andere Beiträge im Forum zu verfassen, sondern dort - quasi mit offenem Visier- für seinen Standpunkt einzustehen und gegebenfalls Gegenangriffe - bis hin zum (hoffentlich nicht stattfindenden)"Shitstorm" zu riskieren.

    Lieber Alfred,


    das akzeptiere ich natürlich. Aber meine Entscheidung ist nach den letzten Erfahrungen, dass ich keinen "Shitstorm" mehr riskieren werde. Anders und klar gesagt: Von mir gibt es bis auf weiteres keine Diskussionsbeiträge mehr im Tamino-Forum. Das ist für mich bei der derzeitigen Konstellation der Mitglieder ausgeschlossen. Ich werde nur noch meine Kolumnenbeiträge verfassen. Über die darf und soll diskutiert werden - nur ohne mich! Wer mit mir diskutieren will, kann mich privat per Mail kontaktieren (meine Mail haben etliche Mitglieder). Öffentliche Diskussionen mit mir wird es wie gesagt nicht mehr geben.


    Einen schönen Sonntag wünschend

    von Holger (der an Corona erkrankt ist)

  • Wir hoffen auf Deine baldige Genesung.

    .. und natürlich auf kommende Aktivitäten.

    Das wird sich finden....


    Und-keine Angst -die von mir gemachten Einschübe und die Antwort darauf wird mittelfristig gelöscht


    LG

    Alfred

    Die Tamino Moderation arbeitet 24 Stunden am Tag - und wenn das nicht reicht - dann fügen wir Nachtstunden hinzu.....



  • Das Huhn im abstrakten Bild - oder warum Neue Musik nicht verständlich ist


    Gerade lese ich Hans Heinrich Eggebrecht Musik im Abendland - darin das Kapitel über die Klassik. Eggebrecht stellt dort heraus, dass in der Klassik die Musik zur "Publikumsmusik" wird, allen voran bei Wolfgang Amadeus Mozart. Damit ist gemeint, dass die klassische Musik sich um "Verständlichkeit" und Eingängigkeit bemüht. Das geschieht, indem ein Komponist wie W.A. Mozart sich der musikalischen "Umgangssprache" als Ausgangspunkt bedient, also leicht fassliche und allgemein verständliche Melodien benutzt. Allerdings bleibt er natürlich nicht dabei stehen. Auch Mozart schafft sich eine höchst anspruchsvolle musikalische Kunstsprache, die jedoch die Verfeinerung und Kultivierung dieser musikalischen Umgangssprache ist. Der Hörer bekommt so gleichsam das Eingangstor zur Kunstmusik mitgeliefert. Mozart macht es seinem Publikum leicht, in das Haus seiner Kunstmusik einzutreten. Erst dann scheiden sich der Kenner vom Liebhaber je nachdem, wie gründlich die Hörer das klassisch-musikalische Haus erkunden können oder wollen.


    Bei der Neuen Musik - so Eggebrecht - fällt genau das weg: Hier wird eine reine Kunstmusik geschaffen, wo das Artifizielle eben nicht nur eine Kultivierung von umgangssprachlichen Formen der Musik ist wie bei Mozart. Der Hörer wird deshalb von der Kunstmusik auch nicht mehr gleichsam zuhause abgeholt bei seinem umgangssprachlichen Musikverständnis. Er muss im Grunde zu einem neuen Menschen werden, der anders hört, anders die Musik wahrnimmt, d.h. komplett seine alltäglichen Hörgewohnheiten ausblenden kann. Er wird gleichsam wie ein Nichtschwimmer in ein Becken mit tiefem Wasser geworfen und man erwartet von ihm, dass er dabei schwimmen lernt. Und das können dann auch nicht alle Hörer. Wer den musikalisch-umgangssprachlichen Zugang zur Musik unbedingt braucht, dem bleibt deshalb auch die Tür zur Neuen Musik für immer verschlossen: Er wird sie als ein sinnloses Getön und bloßes Geräusch empfinden. Und da helfen auch keinerlei Erklärungen und Belehrungen. Für die Neue Musik ist das auch kein Problem, weil sie schlicht keine "Publikumsmusik" sein wollte, sondern Musik für einen esoterischen Zirkel von Eingeweihten abseits vom normalen Musikbetrieb.


    Daraus erwachsen dann einige grundlegende Missverständnisse. Es gibt die schöne Anekdote, wo Theodor W. Adorno für den erkrankten Arnold Schönberg in Darmstadt einsprang. Dort führte die junge Generation serieller Komponisten ihre Werke vor. Adorno war irritiert. Verstört fragte er in der Diskussion: "Wo ist denn hier Vordersatz und Nachsatz?" Da stand ein junger Student auf und entgegnete ihm: "Herr Professor, Sie suchen nach dem Huhn im abstrakten Bild!" Der damals noch unbekannte Student war Karlheinz Stockhausen. Die Anekdote zeigt, dass Arnold Schönberg und Alban Berg (Adorno war Kompositionsschüler von Alban Berg) durchaus noch "klassische" Komponisten waren und sich auch so verstanden. Aus einem Vordersatz und Nachsatz besteht eine traditionelle Phrase und Melodie, wie sie Mozart, Beethoven oder Brahms verwendeten. Man sollte deshalb nicht die Grammatik mit der musikalischen Form verwechseln. Schönberg baute durchaus konservativ und gar nicht revolutionär mit seiner Zwölftonreihe und Zwölftongrammatik ganz klassische Melodien und melodische Formen, wollte also weiter so komponieren wie Beethoven und Brahms. Genau das war der Einschnitt, den die junge Generation serieller Komponisten seit 1950 vollzog, die sich davon ganz bewusst abkehrte. Die Musik orientiert sich nicht mehr am Sprechtonfall, wird komplett amelodisch, wofür die Intervallsprünge bei Anton Webern stehen - Webern und nicht Schönberg wurde bezeichnend zum Vorbild der Serialisten. Pierre Boulez schrieb einen Artikel "Schoenberg est mort!" - "Schönberg ist tot!"


    An dieser Stelle noch einmal zurück zu Hans Heinrich Eggebrecht. Eggebrecht unterscheidet die verschiedenen Begriffe von "Klassizität" und "Klassik". Zur Klassik gehört das Vollendete und Mustergültige der Form. Die Orientierung an diesem Klassizitätsideal zeigt sich daran, dass Komponisten sich in diese Formtradition stellen. Das geschieht nun nicht im Sinne der bloßen Nachahmung, sondern der sich wiederholenden Erneuerung im Kanonischen einer solchen Formtradition. Schönbergs Beitrag ist da etwa die Schöpfung der "Kammersymphonie". Kammermusik und die große, weltlich orientierte Symphonie schließen sich eigentlich aus, wie das aus einem für den heutigen Leser kuriosen Brief von Gustav Mahler hervorgeht, der eine Schülerin vor der Kammermusik warnte, die sie nur für das Üben und für den Hausgebrach und ansonsten nicht weiter Ernst nehmen solle! Bezeichnend setze Mahler Kammermusik wie Schuberts Streichquartett "Der Tod und das Mädchen" für großes Orchester. Schönberg geht hier gegenüber Mahler den genau umgekehrten Weg, orientiert die große Symphonie am Ideal der Kammermusik, dem immer klar-durchsichtigen, von der Souveränität der Einzelstimmen geprägten Stil. Damit hat er die Gattung der Symphonie um eine neue Form bereichert. Schönbergs Kammersymphonien sind deshalb klassische Werke wie die Symphonien von Beethoven, Brahms oder Schumann auch.


    Kann man nun Ligetis Klavierkonzert auch ein klassisches Werk nennen wie Schönbergs Kammersymphonien? Das ist die Frage. Ich habe mir vorgenommen, mich mit dem Klavierkonzert Ligetis eingehender zu beschäftigen und werde diesbezüglich noch von mir hören lassen.


    Zum Schluss meine Empfehlung. Den Zugang zur Neuen Musik kann man durch keine Belehrung finden, man muss ihn selber finden, indem man sich davon befreit, musikalisch-umgangssprachlich hören zu wollen, nach dem "Huhn im abstrakten Bild" zu suchen. Auch das kann man durchaus schrittweise vollziehen ohne den Sprung ins kalte Wasser. Die Brücke ins Unerhörte Neuer Musik war für mich die Musik von Claude Debussy. Bei Debussy ist die Melodik zwar noch da, aber die Akkordik emanzipiert sich davon. Debussy setzt Akkorde gegeneinander wie ein moderner Maler mit Farbkontrasten malt: die Kontraste an sich, die Formen und Strukturen an sich machen das Formen und Farbenspiel aus. Wenn man das unter der melodischen Decke als Untergrund sozusagen herauszuhören im Stande ist, dann kann man auch Ligetis Klavierkonzert ohne Befremden hören.


    Debussy: Préludes / Book 2, L. 123 - 2. Feuilles mortes - YouTube

  • Nathalie Stutzmann will nicht woke sein


    „Vielleicht bin ich verrückt“ | FONO FORUM – Das Beste aus Klassik, Jazz und HiFi


    Zitat:

    (A.C.): Geben Sie inzwischen auch Interviews, in denen Sie nicht auf Ihre Rolle als Frau am Dirigentenpult angesprochen werden?

    (N.St.): Selten. Ehrlich gesagt: Ich war sehr naiv. Ich dachte, die Zeiten hätten sich geändert, das sei kein Thema mehr. Das erste Mal, dass ich nur als „Stutzmann“ angekündigt wurde und nicht als Dirigentin – female conductor im Englischen klingt noch schlimmer, wie eine seltene Tier-Spezies –, da war ich wirklich glücklich. Es ist besser geworden, aber es ist immer noch ein Thema. Es gibt in Deutschland drei Frauen auf 120 Chefdirigentenposten, glaube ich. Da ist noch Luft nach oben. Deshalb nervt es mich auch nicht, darüber zu sprechen. Dabei hab ich das nie verstanden: Ich sehe den Dirigenten als eine Funktion, wie einen Priester. Ich wollte nie eingeladen werden, nur weil ich eine Frau bin und weil es politisch korrekt ist. Ich bin nicht woke. Ich bin auch keine Maestra – das ist eine Lehrerin für kleine Kinder im Italienischen. Ich bin ein Maestro, das ist eine Funktion, kein Geschlecht.


    (Hervorhebung von mir)


    ^^ ^^ ^^