1. Werktreue und Antisemitismus
„Du sollst nicht die Ehe brechen!“ – sagt eines der Zehn Gebote. Wenn im Männlein oder Weiblein die Hormone sprießen, gehen sie vielleicht fremd. „Treu“ sind diese Fremdgänger ihrem Ehepartner dann allerdings nicht mehr. Ich glaube, Jedermann versteht ganz leicht diesen Sinn – sogar dem Fremdgänger, der nicht „bibelfest“ ist, wird sich der Sinn dieser Moral nicht verschließen. Was sich mir allerdings nicht erschließt, ist die folgende, sehr merkwürdige Reductio an absurdum:
„Wer „werktreu“ sein will, muss auch zum Antisemiten werden, wenn der Antisemitismus im Werk steckt. Weil man aber natürlich kein Antisemit sein kann und darf, kann auch Werktreue kein Gebot sein.“
Ist dies nicht einleuchtend mit Blick auf Richard Wagner?
https://www.handelsblatt.com/a…wagners-werk/8217944.html
Das „Argument“ ist: Wer „werktreu“ sein will, müsse zwangsläufig in alle Fallen tappen, die das Werk aufstellt, also auch die des Antisemitismus. Man sei also verpflichtet, einer Judenkarikatur bei Wagner „auf den Leim“ zu gehen, nimmt man es mit der „Treue“ Wagners Werk gegenüber wirklich genau. Die Schlussfolgerung ist aber ganz einfach falsch. Treue in der Ehe heißt ja auch nicht, dass man schlechterdings alles akzeptieren und für richtig befinden müsste, was der Ehepartner tut. Würde das Argument stimmen, dann bestände die Treuepflicht selbst gegenüber der schlechten Tat eines Fremdgängers, d.h. die betrogene Ehefrau oder der betrogene Ehemann müsste diese Verfehlung ihres Partners uneingeschränkt akzeptieren. Das ist aber offensichtlich absurd und zeigt: Genauso wenig, wie die Treue zu einer Person zu verwechseln ist mit der Treue gegenüber allem und jedem, was diese Person tut, ist die Treue zum Werk gleichzusetzen mit einer vermeintlichen Treue gegenüber allen Teilen und einzelnen Bestandteilen eines Werks. Und: Zur Treue gehört letztlich auch die Verantwortung im Sinne einer Sorgeverpflichtung, die man für den Anderen übernimmt, ihn vor Dingen zu bewahren, die ihm selber schaden: Wer fremdgeht, wird sich selber untreu und untergräbt seine eigene Moral. Wagners Ring ist nunmal nicht Jud Süß. Das antisemitische Propaganda-Machwerk der Nazis führt man einfach nicht mehr im Kino vor und kann es nicht vorführen, weil es durch und durch verlogen ist, eine antisemitische Verführung. Wagners Ring dagegen hat uns auch heute noch etwas Wesentliches zu sagen und wird deshalb aufgeführt. Wer wirklich „werktreu“ ist, schützt das Wesentliche und Bewahrenswerte vor dem Unwesentlichen und Vergänglichen, also Wagner vor sich selbst und in Bezug auf Wagners Werk das, was es zu einem wirklich großen Werk macht, vor dem, was es klein erscheinen lässt und ihm seine Größe nimmt: hier vor seinen antisemitischen Konnotationen. Das kann freilich auf sehr unterschiedliche Weise geschehen. Nur eines kann man nicht, ignorieren, dass zur Tiefe von Wagners künstlerischer Schöpfung auch die Peinlichkeit der Untiefe des Antisemitismus gehört wie zwei Seiten ein und derselben Medaille. „Werktreue“ gegenüber einem Werk mit antisemitischen Zügen zeigen heißt deshalb, dass man auch diese „problematische“ Seite des Werks verbindlich nimmt – (Werk-)Verbindlichkeiten sind nämlich sowohl das Unproblematische wie das Problematische. Beides gehört untrennbar zusammen. Sowohl auf das Unproblematische wie auch die „Problemzonen“ des Werkes heißt es deshalb eine verbindliche Antwort zu geben – beim Problematischen ist die Antwort dann allerdings unausweichlich eine kritische Antwort.
Um es am Beispiel von Richard Wagner zu demonstrieren: Auch Jens-Malte Fischer wird nicht behaupten, dass Loge nur eine Judenkarikatur ist. Kritik kommt von griech. krinein, was auf Deutsch heißt: trennen, scheiden. Die Figur ist vielschichtig und die Aufgabe der Inszenierung ist es deshalb, das Unproblematische vom Problematischen, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu scheiden, was dann in der Aufführung konkret heißen kann die Dinge durch die jeweils gewählten Darstellungsmittel anders und nicht etwa gleich zu behandeln, indem man beispielsweise die Judenkarikatur so überzeichnet, dass sie selber zur Karikatur wird in der Absicht, die kompromittierende Schwäche des Werks wie auch des Publikums, dass diese goutiert, offenzulegen und damit zu entlarven. Oder aber man eliminiert die Züge der Judenkarikatur und zeigt allein das, was an dieser Figur wesentlich für das Werk und den dramatischen Werkzusammenhang ist. Denn nicht alles in einem Werk ist auch gleich wichtig für ein Werk. Deswegen mag ich den Begriff „Werktreue“ eigentlich nicht, weil da zu viel von „Buchstabentreue“ mitschwingt, und spreche lieber von „Werkgerechtigkeit“. Dazu, dem Werk gerecht zu werden, gehört eben auch unverzichtbar die Werkkritik, was freilich den Erkenntnisprozess voraussetzt, in dem sich das Wesentliche und Substantielle vom Unwesentlichen und Akzidentellen, das Unverzichtbare vom Verzichtbaren, scheidet.