Die Bachkantate (185): BWV106: Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit (Actus tragicus)

  • BWV 106: Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit ('Actus tragicus')

    Trauerfeier (Mühlhausen, 1707)


    4 Sätze, Aufführungsdauer: ca. 20 Minuten


    Lesungen:

    Unbekannt


    Textdichter:

    / (Bibelwort)


    Besetzung:

    Soli: Sopran, Alt, Tenor, Bass; Chor: SATB oder Solistenchor; Blockflöte I/II, Viola da Gamba I/II, Continuo


    1. Sinfonia


    2a. Chor SATB

    Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit.

    In ihm leben, weben und sind wir, solange er will.

    In ihm sterben wir zur rechten Zeit, wenn er will.


    2b. Arioso Tenor

    Ach, Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.


    2c. Aria Bass

    Bestelle dein Haus; denn du wirst sterben und nicht lebendig bleiben.


    2d. Chor SATB & Sopran

    Es ist der alte Bund: Mensch, du musst sterben!

    Sopran

    Ja, komm, Herr Jesu, komm!


    3a. Aria Alt

    In deine Hände befehl ich meinen Geist; du hast mich erlöset, Herr, du getreuer Gott.


    3b. Arioso con Corale Alt & Bass

    Heute wirst du mit mir im Paradies sein.

    Mit Fried und Freud ich fahr dahin
    In Gottes Willen,
    Getrost ist mir mein Herz und Sinn,
    Sanft und stille.
    Wie Gott mir verheißen hat:
    Der Tod ist mein Schlaf geworden.


    4. Choral SATB

    Glorie, Lob, Ehr und Herrlichkeit

    Sei dir, Gott Vater und Sohn bereit,

    Dem heilgen Geist mit Namen!

    Die göttlich Kraft

    Mach uns sieghaft

    Durch Jesum Christum, Amen.



    Mit Alfred Dürr lässt sich feststellen: „Der Actus tragicus ist ein Stück Weltliteratur“. Diese wahrscheinlich zweitfrüheste Kantate Bachs ist ein Meisterwerk des alten Kirchenkantaten-Typus. Diese Kantaten zeichnen sich durch knappe Form, motettische Reihung, das Fehlen von Rezitativen, kurze Fugen und knappe Arien als Sologesänge ohne (größere) freie obligate Instrumentalstimme und ohne Dacapo aus.

    Der genaue Anlass ist unbekannt, am wahrscheinlichsten ist die Bestattung von Bachs Erfurter Onkel Tobias Lämmerhirt.

    Nach Art der alten Kirchenkantate besteht der Text lediglich aus Bibelwort und Choral. Ausnahme bildet Nr. 2a, wo zur Verbindung einige Worte freier Dichtung eingefügt sind. Die inhaltliche Schlagrichtung ist gradezu klassische 'katechetische Vorgehensweise' der lutherisch-orthodoxen Theologie: Vom Gesetz zum Evangelium, vom Tod zum Ewigen Leben. Vom "Bedenke uns dass wir sterben müssen" in Nr. 2b, zum "Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein" in Nr. 3b.


    Die Trauermusik beginnt mit einer rein instrumentalen Sinfonia als Satz Nr. 1. Die Besetzung der Kantate ist äußerst intim - hier liegt eine "stille Musik" für eine Trauerfeier vor. Zwei Blockflöten und zwei Gamben genügen als Instrumentalbesetzung neben dem BC. Die beiden unisono geführten Blockflöten stimmen ein klagendes Motiv an.


    Der inhaltlich und musikalisch zentrale Satz Nr. 2 türmt verschiedene Schichten übereinander. Nach Art einer Motette begegnen kürzere und verschiedenartige Abschnitte nacheinander, unterteilt in 2a bis 2d. Der Chor Nr. 2a rahmt mit homophonen Außenteilen eine kurze Fuge mit selbstständig geführten Instrumenten. Inhaltlich wird ein Dreischritt vollzogen: Gottes Zeit (Gravitätische Akkorde) - Leben (Fuge in schnellem Tempo) - Sterben (langsame und klagende Akkorde).

    Dieser Chorsatz geht in das Arioso Nr. 2b des Tenors über. In Form einer Chaconne mit klagender Melodik wird mit Psalm 90 über die Endlichkeit des menschlichen Lebens nachgedacht.

    Tempo und Duktus der Musik ändern sich mit dem anschließenden Solo Nr. 2c des Solobass'. Mit hüpfenden Begleitfiguren der Flöten und den Koloraturen des Solisten erhält ein virtuoser Klang Einzug in die Musik.

    Am genialsten und vielschichtigsten ist der nun folgende Mischsatz Nr. 2d. Der Chor beginnt mit einem Fugenthema zu "Es ist der alte Bund: Mensch du musst sterben". Nach zwei Durchführungen fällt jedoch der Solosopran mit einem selbstständig geführten "Ja komm Herr Jesu" ein. Hier wird die theologische Wendung der gesamten Kantate hörbar: Auf den alten Bund, auf das Gestz Mose also folgt das lichte Evangelium Jesu Christi indem auf eine gravitätische Chorfuge ein freies Sopransolo folgt, beide gemeinsam musizieren und der Sopran letztlich das letzte Wort behält. Doch auch diese Struktur wird noch vertieft: Bach lässt als Begleitung zum Sopran den Choral "Ich hab mein Sach Gott heimgestellt" rein instrumental intonieren. Inhaltlich nimmt diese Einsicht in Verbindung mit dem Kommen Jesu die Schwere vom Sterbenmüssen. Nicht weniger als vier Mal in immer kürzeren Abschnitten wird diese Abfolge zu Gehör bracht, was zu einer immensen klanglichen und inhaltlichen Verdichtung führt. Dabei ändert sich das Fugenthema jeweils in seiner Gestalt. Geradezu Gänsehaut verursacht ganz am Ende des Satzes die Schlusswendung des Soprans, während Chor und Instrumente bereits schweigen: Jesus Christus behält das letzte Wort.


    Es folgt ein bekräftigender Satz Nr. 3 nach Art des 'Geistlichen Konzertes', wie sie auch in anderen frühen Kantaten Bachs, z.B. BWV 131 oder 71, anzutreffen sind. In dieser Satzform verschwimmen Soloarie und Rezitativ zu deklamatorischer Melodik. Im Continuo tritt eine markante Ostinato-Figur auf. Der Satz bereitet eigentlich vor allem 3b mit dem Einsatz der Vox Christi vor. Wurde Jesus im zweiten Satz noch herbei gesungen, tritt er nun mit einem der sieben letzten Worte in Erscheinung: "Noch heute wirst du mit mir im Paradies sein". Schon das Bibelwort aus Nr. 3a ("In deine Hände befehle ich meinen Geist") ist Jesuswort und gehört ebenfalls zu den sieben letzten Worten des Erlösers am Kreuz. Hier wird es jedoch im Sinne der Trauerfeier als Sterbenswort veratanden und vom Alt gesungen, während 3b im Gegensatz dazu als Lebenswort gedeutet und der Vox Christi anvertraut wird. Zum Bass tritt wenig später der Alt wieder hinzu und intoniert den Luther-Choral "Mit Fried und Freud fahr ich dahin". Die Deutung liegt auf der Hand. Auf Jesu Zusage (Bass) antwortet die Gläubige Seele mit dem zuversichtlichen Choral, in welcher der Tod positiv gedeutet wird.


    Der Schlusschoral Nr. 4 ist folglich reines Loblied. Ein eigenständiges Ritornell mündet in den Reusner-Choral "Glorie, Lob und Ehr". Die Schlusszeile wird dabei zur furiosen Amen-Fuge. Wie wenig später BWV 71, klingt auch diese Kantate mit einem kurzen Echoakkord der Blockflöten piano aus.


    Der Actus tragicus gehört zu den am meisten bewunderten Werken Bachs und dürfte konkurrenzlos als das genialste Frühwerk des Meisters gelten. In ihm führt Bach den alten Kantatentypus zum Gipfel und findet ungekannte musiklische und theologische Ausdrucksmöglichkeiten.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)

  • Deshalb sollte auch dein Thread noch erwähnt werden. Neu angelegt habe ich diesen zur Vervollständigung der Bachkantaten-Reihe.

    Beste Grüße von Tristan2511


    "Glaubt er, dass ich an seine elende Geige denke, wenn der Geist zu mir spricht?"

    (Beethoven zu Schuppanzigh)