„Fernes Licht mit nahem Schein“ (II)
Die letzte Strophe knüpft mit der Wiederholung des ersten und des dritten Verses und der Modifikation des letzten durch den Ersatz des Wortes „denke“ durch „umarme“ direkt an die Eingangsstrophe an. Und dieser setzt dabei den maßgeblichen, die Aussage des ganzen Gedichts konstituierenden Akzent, denn an die Stelle des gleichsam abtstrakten Denkens an die Geliebte tritt die Imagination der eminent sinnlichen Umarmung. Die Tatsache, dass dadurch die Eingangsverse eine bedeutsame inhaltliche Bereicherung und Akzentuierung erfahren, erhält in Kreneks Liedmusik nicht nur adäquaten Ausdruck, sondern darüber hinaus auch noch eine dimensionale Erweiterung im Sinne einer seelischen Vertiefung. Und weil es ihm kompositorisch eben darum geht, wiederholt er nur die melodische Linie auf dem ersten Vers und weicht in allen anderen Fällen, wo eine Wiederholung ebenfalls möglich wäre, also bei dritten und vierten Vers, in markanter Weise von der Liedmusik der ersten Strophe ab.
Im Grunde tut er das sogar schon bei der ersten Melodiezeile. Die ist zwar absolut identisch mit der der ersten Strophe, sie begegnet dem Rezipienten des Liedes aber in ganz anderer Weise: Expressiver, drängender, von stärkerer innerer Erregung bestimmt. Und das liegt daran, dass sich das Klavier nun nicht, wie bei der ersten Strophe, mit fallenden und wieder steigenden Achteln und Sechzehnteln im Diskant begnügt, sondern die Singstimme mit aufsteigenden Akkorden begleitet, die bei dem Wort „Schein“ in einen triolischen Oktavenanstieg übergehen. Und das ist der Gestus, der die Liedmusik der ganzen letzten Strophe bestimmt und klanglich prägt. Bei den Worten „mir zu Lust und Harme“ steigt die melodische Linie mit einem Terz- und einem Quartsprung in hohe Lage empor und geht dann bei dem Wort „Harme“ in einen, wieder mit einem Legato-Sekundfall eingeleiteten Fall über eine ganze Septe über, den das Klavier in expressiver Weise mit einem Akkordanstieg im Diskant und einer ansteigenden Sechzehntel-Kette im Bass kontrastiert und akzentuiert.
Und so setzt sich das fort. Beim zweitletzten Vers beschreibt die melodische Linie auf den Worten „nicht da zu sein“ eine hochexpressive, weil mit einem Sprung über eine veritable Dezime eingeleitete lang gedehnte und am Ende in einen Septfall mündende Dehnung in hoher Lage, zu der das Klavier im Diskant eine rhythmisierte Folge von ansteigenden Terzen erklingen lässt. Und auf dem letzten Vers liegt eine mit einem anwachsenden Ritardando auszuführende melodische Linie, die erst einen Bogen in mittlerer Lage beschreibt und bei dem Wort „umarme“ erst in einen Sekundfall übergeht, dann aber einen ausdrucksstarken Septsprung mit nachfolgender Tonrepetition beschreibt.
Dieser melodische Sprung wird auch hier, wie dies ja generell bei allen zweiten und vierten Versen der Strophe der Fall ist, legato deklamiert. Aber, und das ist das Bemerkenswerte in diesem Fall, bei dem es sich ja um das Ende der Liedmelodik handelt: Er mündet in eine Tonrepetition, und das ist die Quinte der hier vorliegenden Tonart Cis-Dur. Das ist ein melodisch offener Schluss also, und er drückt darin das Fragezeichen aus, mit dem der lyrische Text schließt.
Das sechstaktige Nachspiel lässt in seinem Kommentar dazu vernehmen, dass dieses imaginative „Umarmen“ für das Ich mit schönen und angenehmen Emotionen verbunden sein muss, denn das Wechselspiel von bitonalen und dreistimmigen Akkorden und Einzeltönen verläuft harmonisch zwar atonal, meidet aber die scharfe klangliche Dissonanz. Am Ende aber erklingt, nach einem tiefen einsamen „Gis“, pianissimo im Klavierbass ein nochmals einsames, weil von Achtelpausen gerahmtes Arpeggio aus den Tönen „Cis-Eis-Ais“. Es bleibt beim lyrischen Ich bei einer kurzen schönen Imagination, - das insinuiert wohl dieser Liedschluss.
Ernst Krenek. Ausgewählte Lieder
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Lied 6: „Wie der Tag sich durch das Fenster traut“
Wie der Tag
sich durch das Fenster traut,
schau ich auf den Platz,
staunend, daß der Nacht
noch ein Morgen graut,
die ich so durchwacht
ohne Freudenlaut,
aber immer bauend Satz auf Satz.
Wie der Blick
sich durch das Fenster traut,
geht ein Wagen, geht,
langsam geht er hin
ohne Klagelaut.
Liegt ein Toter drin,
eine arme Haut.
Und ich geh zurück an mein Gebet.
Noch einmal die Begegnung mit dem Tod. Aber es ist nicht, wie im vierten Lied, die imaginäre, durch den Vogelruf evozierte, sie ereignet sich als unmittelbar reale in Gestalt eines Wagens, in dem ein Toter liegt. Gleichwohl bringt das lyrische Ich keine subjektive Betroffenheit zum Ausdruck. Die Worte „eine arme Haut“ wirken wie ein lakonischer Kommentar zu dem, was aus der Distanz, nämlich im Blick aus dem Fenster, beobachtet wird. Der mit der Konjunktion „Und“ eingeleitete Schlussvers dokumentiert das Nicht-berührt-Werden des Ichs durch diese Szene. Es geht „zurück“ an sein Gebet, tut dieses also nicht im Zusammenhang und als Folge der gerade gemachten Erfahrung.
Ohnehin ist es ganz auf sich selbst, seine existenziellen Probleme und seine seelische Befindlichkeit fixiert, was dazu führt, dass die Außenwelt ganz aus dieser Perspektive erfahren wird, so dass das Auftreten von „Morgen“ und „Tag“ in dieser ganz von der „Nacht“ beherrschten Innenwelt mit Staunen erfahren wird.
Das Nachspiel des vorangehenden Liedes geht, nach einer nur kurzen Pause nach dem sich aus Einzeltönen konstituierenden Schlussakkord fließend in das viertaktige Vorspiel dieses Liedes über. Und das ist auch beim letzten Lied der Fall, die drei letzten Lieder dieses Zyklus bilden also eine liedmusikalische Einheit und wollen in ihrer Aussage im Kontext rezipiert und verstanden werden. Womit sich nun, beim Hören dieses Liedes bestätigt, dass der Gedanke eines „Umarmens“ der Geliebten ein Wunschtraum bleiben muss.
Dieses Ich ist ganz und gar gefangen in seiner seelischen Innenwelt, in der die Nacht ohne Freudenlaut durchwacht wird und der morgendliche Blick aus dem Fenster zu einer Sache des Sich-Trauens wird. Eine Erlösung und Befreiung daraus durch die beglückende Erfahrung von Zweisamkeit scheint nicht möglich zu sein, - jedenfalls nach dem Bild, das sich aus der Art und Weise bietet, wie Kreneks Liedmusik die Verse von Karl Kraus interpretiert und in ihrem seelischen und gedanklichen Gehalt auslotetet und inhaltlich und dimensional bereichert und ausweitet. Denn das tut sie in einem eminenten Maß. Aus dem bei Kraus geradezu nüchtern-berichtartig skizierten Bild vom Toten auf dem Wagen wird bei Krenek tatsächlich eine das Ich tief berührende Erfahrung von Tod. -
„Wie der Tag sich durch das Fenster traut“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Das Interpretieren der lyrischen Aussage mit den Mitteln der Liedmusik wird schon im Vorspiel auf beeindruckende Weise erfahrbar. Die Erfahrung morgendlicher Frühe, wie dieses Ich sie macht, wird ja als ein gleichsam zögerliches Sich-Hereintrauen des Tages in seine nächtliche Welt lyrisch-sprachlich zum Ausdruck gebracht. Und das Vorspiel will wohl als klangliche Evokation dieses Bildes vernommen und aufgefasst werden: Im Bass erklingen am Taktanfang und am Ende punktuell gesetzte Einzeltöne, und dazwischen lässt das Klavier im Diskant eine bogenförmige, in die Höhe strebende und wieder fallende Sechzehntelfigur erklingen, die sich pro Takt in ihrem Umfang erweitert, so dass man darin durchaus das das Sich-Annähern des Tages in der Weise klanglich imaginiert zu vernehmen meint, wie das lyrische Ich das erlebt.
Und mit welchen Emotionen das für das Ich des Weiteren verbunden ist, das kann die Liedmusik auf die Verse der ersten Strophe inhaltlich viel umfassender und tiefer reichend zum Ausdruck bringen, als diese selbst es können. Allein schon die melodische Linie auf den Worten „Wie der Tag sich durch das Fenster traut“ ist diesbezüglich vielsagend. Gewiss, Kraus hat dieses Zögerliche des Tages-Eintritts mit dem Mittel der Versstruktur dargestellt. Aber Kreneks Liedmusik vermag das auf eine Weise sinnfällig werden zu lassen, die die Emotionen des Ichs beim Erleben dieses Tagesanbruchs erschließen. Zweimal mündet die melodische Linie nach einem Anstieg in eine Dehnung auf „Tag“ und auf „traut“. Diese suggeriert, zusammen Unterbrechung der melodischen Linie durch eine Achtelpause das Zögerliche des Vorgangs. Dadurch aber, dass die Anstiegsbewegung beim zweiten Mal in höhere Lage aufsteigt und zudem mit einer harmonischen Rückung von c-Moll nach a-Moll verbunden ist, meint man die innere Betroffenheit des Ichs durch diesen Vorgang zu vernehmen.
Dass dieses lyrische Ich die Nacht schreibend, aber „ohne Freudenlaut“ durchwacht hat und die Möglichkeit eines „Morgens“ infolgedessen mit Staunen und Verwunderung erlebt, lässt die Liedmusik auf die nachfolgenden Verse der ersten Strophe auf eine die begleitenden Emotionen vielfältig erschließende Weise vernehmen. Bei den Worten „schau auf den Platz“ steigt die melodische Linie nach einem Sekundfall über zwei Terzen sprunghaft an und hält danach spontan inne, weil eine Achtelpause ihr das Wort abschneidet, - musikalische Konkretion des lyrischen Bildes. Auf dem Wort „staunend“ liegt ein leicht gedehnter und es damit akzentuierender Sekundfall in hoher Lage, und die Emotionen, die mit diesem Staunen einhergehen, drückt die melodische Linie mit einem lang gedehnten Terzfall auf dem Wort „Morgen“ aus, dem ein verminderter Terzsprung, also einer, der es nicht ganz mehr hin zur tonalen Ausgangslage schafft, nachfolgt. Das Klavier lässt dazu „quasi tromba“ und mit einem ins Forte führenden Crescendo, also expressiv, aufsteigende Sechzehntel-Folgen im Diskant erklingen.
Bei den Worten „die ich so durchwacht / ohne Freudenlaut“ erfährt die Liedmusik eine deutliche Steigerung ihrer Expressivität. Zu „durchwacht“ hin beschreibt die melodische Linie einen, durch einen zwischengelagerten triolischen Bogen besonders ausdrucksstarken und sie in untere Lage führenden Fall, der danach aber in einen über nur zwei deklamatorische Schritte erfolgenden Sprung über eine ganze Oktave übergeht und bei dem Wort „Freudenlaut“ in eine lang gedehnte und fortissimo auszuführende Fallbewegung über zwei Quarten mündet. Das Klavier, das zuvor in Diskant und Bass eine bogenförmig gegenläufige, partiell triolische und in der Dynamik vom Fortissimo übers Piano und wieder zurück reichende Folge von Achteln und Sechzehnteln erklingen ließ, begleitet diesen expressiven Fall der Melodik mit einer ihrerseits expressiven Kombination aus einem lang gehaltenen Fortissimo-Akkord im Diskant und einer nach oben schießenden trioloschen Achtel-Kette im Bass, die den zusammenfallenden Akkord gleichsam auffängt, wobei die Dynamik wieder ein extremes Decrescendo von Fortissimo zu Piano vollzieht. -
„Wie der Tag sich durch das Fenster traut“ (II)
Nach einem sechstaktigen Zwischenspiel, in dem das Klavier zunächst ein vielfältiges Zusammenspiel von vorwiegend bitonalen Akkorden und Einzeltönen in Bass und Diskant erklingen lässt, dann aber mit einem Mal zur Artikulation von klanglich düster wirkenden atonal fallenden Viertel-Akkorden im Wechsel mit je einem Sechzehntel übergeht, setzt die Singstimme mit der Deklamation der melodischen Linie auf den Worten „Wie der Blick sich durch das Fenster traut“ ein. Dieser Vers stellt ja eine von Kraus bewusst gesetzte Wiederholung der Worte des Gedicht-Anfangs dar, und Krenek lässt ihn auch auf der strukturell gleichen melodischen Linie erklingen, - mit einer bemerkenswerten Variation allerdings. Da es hier nicht um den zögerlich herein schauenden Tag, sondern um den Blick des Ichs geht, das aus seiner nächtlichen Welt nur ebenso zögerlich herausfindet – im Grunde gehört beides ja zusammen -, setzten die beiden kleinen Melodiezeilen nun auf einer um eine Terz angehobenen melodischen Linie ein und sie münden nicht jeweils in eine Dehnung, so dass die Pause zwischen ihnen länger ist. Man empfindet das als Ausdruck einer Steigerung im Gestus der Zögerlichkeit.
Das lyrische Bild vom Toten-Wagen wird von Krenek auf beeindruckende Weise liedmusikalisch gestaltet, und er macht daraus interpretatorisch weitaus mehr, als Kraus dies als Lyriker tut. Dieser verbleibt ja – ganz bewusst – im Gestus distanziert-sachlicher Deskription. Krenek aber lässt spüren und vernehmen, wie tief – nach seinem Verständnis des Textes - das lyrische Ich von dieser Szene vor dem Fenster innerlich berührt wird. Schon dass er die Wiederholung des Wortes „geht“ nutzt, um die Eindringlichkeit des Bildes zu intensivieren, zeigt, worauf er es liedkompositorisch abgesehen hat. Auf dieses Wort legt er einen deklamatorischen Schritt im Wert eines Viertels und verlieht ihm dadurch ein starkes Gewicht.
Auf diese Weise entfaltet dann der nachfolgende lang gedehnte Sekundfall auf dem Wort „langsam“ umso größere Wirksamkeit, zumal ihn das Klavier mir einem expressiven Sechzehntel-Bogen im Diskant begleitet. Die Langsamkeit, in der sich die Szene abspielt, wird in Kreneks Liedmusik auf beeindruckende Weise sinnfällig. Auf dem Wort „Klagelaut“ liegt eine hochexpressive, sich über drei Takte sich erstreckende Dehnung in Gestalt einer wellenartig sich entfaltenden und aus zehn deklamatorischen Schritten bestehenden Bewegung der melodischen Linie, die das Klavier mit zwei gegenläufigen Figuren aus Sechzehnteln und Achteln im Diskant begleitet.
Große Expressivität entfaltet die Liedmusik auch auf den letzten drei Versen. Auf den Worten „liegt ein Toter drin“ beschreibt die melodische Linie einen zweifachen Terzsprung und verharrt dann vielsagen, weil in eine Pause übergehend, in Gestalt von Tonrepetitionen auf der Ebene eines „D“ in hoher Lage. Die Worte „arme Haut“ werden dann auf einem aus einem Quintsprung hervorgehenden und lang gedehnten doppelten Quartfall deklamiert, dessen klangliche Wirkung dadurch gesteigert wird, dass das Klavier die rhythmisierte und schroff dissonant wirkende Folge von bitonalen Akkorden, mit denen es bei der ersten Zeile einsetzte, nun eine aufsteigende Linie beschreiben lässt und der Takt von vier zu fünf Vierteln übergeht. -
„Wie der Tag sich durch das Fenster traut“ (III)
Auf beeindruckende Weise lässt die Liedmusik auf dem letzten Vers noch einmal vernehmen, wie stark sie von Krenek auf ein Erfassen und Zum-Ausdruck-Bringen der emotionalen Tiefendimension des lyrischen Textes hin angelegt ist. Die melodische Linie beschreibt „allargando“ einen auf einem tiefen „D“ ansetzenden und sie über das Intervall einer Undezime in hohe Lage führenden Anstieg, der fast durchweg in Gestalt von legato vorzutragenden Sprung- und Fallbewegungen über eine Sekunde oder eine Terz erfolgt, was diesem „Gehen“ die Anmutung von Mühsal verleiht. Dazu trägt auch bei, dass die melodische Linie dann am Ende, bei den Worten „mein Gebet“ zu einem in eine Dehnung mündenden dreifachen Sekundfall übergeht. Das allerdings ist mit einer – nach all der atonalen Dissonanz der vorangehenden Harmonik – geradezu überraschenden Rückung in ein reines G-Dur verbunden.
Und das ist nicht das einzige, was den Schluss dieses Liedes ungewöhnlich, ja überraschend werden lässt. Nach dem Ausklingen der melodischen Linie der Singstimme, geht das Klavier zu einem vierzehn Takte einnehmenden Nachspiel über, das mit einer Folge vielstimmig fallender Akkorde einsetzt, die in wellenartig sich entfaltende Oktaven übergehen. Danach setzt fortissimo ein wahrer Wirbel von Sechzehntel-Figuren in Bass und Diskant ein, der in eine Kette von im Diskant in hohe Oktavlage aufsteigenden Sechzehnteln übergeht, die danach, nach einer Phase eines Auf und Abs dort, zu einer in immer neuen Anläufen sich vollziehenden Fallbewegung übergehen. Dabei bleibt es aber nicht. Mit einem Mal beginnt die Aufwärtsbewegung dieser Sechzehntel erneut, und nachdem sie zu einer wellenartigen Bewegung in hoher Diskantlage übergegangen sind, setzt die Singstimme mit der Deklamation der melodischen Linie des letzten Liedes ein. -
Lied 7: „Nun weiß ich doch, ´s ist Frühling wieder“
Nun weiß ich doch,
's ist Frühling wieder.
Ich sah es nicht vor so viel Nacht
und lange hatt' ich's nicht gedacht.
Nun merk' ich erst,
schon blüht der Flieder.
Wie fand ich das Geheimnis wieder?
Man hatte mich darum gebracht.
Was hat die Welt aus uns gemacht!
Ich dreh' mich um, da blüht der Flieder.
Und danke Gott, er schuf mich wieder,
indem er wiederschuf die Pracht.
Sie anzuschauen aufgewacht,
so bleib' ich stehn.
Noch blüht der Flieder.
Die „Nacht“, hatte mit Macht vom lyrischen Ich Besitz ergriffen. Nicht nur, dass es, wie das vorangehende Lied dies zum Ausdruck bringt, sich kaum sich traute, sich dem Tag zuzuwenden und dies nur in Gestalt eines zögerlichen Blicks am Morgen durch das Fenster zu tun vermochte, sie hatte es auch von der Welt naturhaften Lebens ausgesperrt. Nun aber hat es die Erfahrung von Frühling gemacht, die sich in der Begegnung mit dem blühenden Flieder ereignet. Und mit einem Mal bleibt es stehn, - auf seinen Wegen durch die nächtlichen Räume seines Denkens und Fühlens und fühlt sich durch das Erlebnis erwachenden und erblühenden Lebens dazu bewegt, Gott zu danken.
Lebensbejahung und ein positives Daseinsgefühl drücken sich in diesen Versen aus, und es ist bemerkenswert, dass Krenek aus der Sammlung „Worte in Versen“ von Karl Kraus gerade dieses Gedicht ausgewählt hat, um es mit der Liedmusik darauf an das Ende seines Zyklus zu stellen und damit dessen künstlerische Gesamt-Aussage mit einem sie maßgeblich prägenden Akzent zu versehen.
Zu beachten ist dabei freilich: Wie eine Beschwörung steht der „blühende Flieder“ im Zentrum dieser Verse, dies jedoch in drei sprachlichen Varianten, die sich durch die ihre
Aussage prägenden Worte „schon“, „da“ und „noch“ unterscheiden. In den beiden ersten konstituiert sich positiv erfahrene Gegenwart. In der dritten allerdings erfährt diese eine Brechung durch die Erfahrung von Vergänglichkeit, - mit der Perspektive einer ungewissen Zukunft.
Die Frage, in welcher Gestalt, in welchem Umfang und mit welcher Intensität sich diese dimensionale Komplexität der lyrischen Aussage in der Liedmusik niederschlägt, drängt sich dem Betrachter derselben natürlich geradezu auf. Ihr wird – in Beschränkung auf die wesentlichen Aspekte – nachzugehen sein. Aber um gleich vorweg das Ergebnis auf den Punkt zu bringen: Sie erfasst diese Komplexität nicht nur vollumfänglich und –inhaltlich, sie vertieft sie darüber hinaus auch noch, wobei dem Klaviersatz eine gewichtige Rolle und Funktion zukommt. Das gilt ja generell für die Liedmusik in diesem Zyklus, hier aber, bei diesem letzten Lied ist es in ganz besonderer Weise ausgeprägt. -
„Nun weiß ich doch, ´s ist Frühling wieder“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Schon das wie eine Geburt aus dem Nachspiel des vorangehenden Liedes auftretende zweitaktige Vorspiel lässt dies vernehmlich werden. Die fließende Folge von Sechzehnteln im Diskant ist eine Fortsetzung dessen, was das Klavier im Kommentar zur Aussage der melodischen des zweitletzten Liedes beizutragen hat. Und spätestens jetzt, in der gleichsam strukturell unveränderten Fortsetzung dieser Figuren aus je vier Sechzehnteln nicht nur als Vorspiel, sondern als Begleitung der melodischen Linie auf den Versen der ersten Strophe und dem - durch sein „noch“ höchst bedeutsamen – letzten Vers, überdies auch noch als umfangreiches Zwischenspiel davor und Kommentar danach, wird deutlich: Das Klavier wollte sich im Nachspiel nur noch mit den zweitaktigen Akkord-Folgen auf die Aussage der letzten Melodiezeile des sechsten Liedes einlassen, mit der sich wie endlos entfaltenden Kette von Sechzehnteln führt es zur liedmusikalischen Aussage des Schluss-Liedes über, lässt gleichsam vorab seinen Geist erklingen und bekräftigt ihn danach mehrfach in intensiver Weise, - unaufhaltsam flutend sich entfaltendes Leben klanglich imaginierend.
Aber weil der lyrische Text neben der sich im Bild vom blühenden Flieder verdichtenden emotionalen Emphase auch die gedankliche Reflexion aufweist, ist nicht nur die Melodik in differenzierter Weise angelegt, auch beim Klaviersatz ist dies der Fall, so dass er in der Begleitung der Singstimme und im Zwischenspiel neben Passagen der emphatisch strömenden Entfaltung auch solche des akkordischen Innehaltens und Akzentuierens aufweist. Und wie überaus kunstvoll Krenek dieses kompositorische Potential des Klaviersatzes nutzt und ausschöpft, das kann man vor allem in den ungewöhnlich umfangreichen Zwischenspielen dieses Liedes vernehmen, so etwa in dem sich an die Liedmusik der ersten Strophe anschließenden, das dreizehn Takte umfasst, in denen das Klavier die vorangehende melodische Linie nicht nur mit Akkorden im Diskant und Achtelfiguren im Bass variierend repetiert, sondern darüber hinaus auch noch kommentiert, indem es deren emphatischen Gestus in Gestalt einer Folge von bitonalen Staccato Akkorde und dem Sekundfall von Achteln gleichsam ins Stocken bringt und damit überleitet zur reflexiv gedanklichen Ebene des lyrischen Textes, eingeleitet mit der Frage „Wie fand ich das Geheimnis wieder?“
Die Liedmusik der ersten Strophe ist in dem klanglichen Bild, das sie bietet, stark geprägt von einer wie beflügelt über rasanten Sechzehntel-Ketten sich entfaltenden melodischen Linie. Gleich zwei Mal gipfelt sie dabei in emphatischer Weise auf: Bei den Worten „s´ist Frühling“ und „schon blüht der Flieder“. In beiden Fällen ist das eine weit gespannte Bogenbewegung, die einmal mit einem Sekundsprung in hoher Lage einsetzt und sich dann über das Intervall einer Dezime in tiefe Lage absenkt, das andere Mal erfolgt der Anstieg aber auf wirkungsstärkere Weise in Gestalt von vier Sekundschritten und der nachfolgende Fall ereignet sich über das Intervall einer Sexte und wird legato ausgeführt.
Der emphatische Gestus, der diesen melodischen Figuren an sich schon innewohnt, erfährt noch eine Steigerung dadurch, dass ihnen jeweils eine Art melodischer Anlauf vorausgeht. Bei den Worten „nun weiß ich doch“ beschreibt die melodische Linie eine aus einem Sekundsprung hervorgehende gedehnte Fallbewegung in mittlerer Lage, der eine halbtaktige Pause nachfolgt und ihr eben diesen Charakter eines Anlaufs verleiht. Und wie die musikalische Expressivität beim zweiten melodischen Bogen eine höhere ist, so ist sie das nun auch bei der melodischen Linie auf den Worten „nun merk´ ich erst“: Die Fallbewegung setzt mit einer Dehnung ein und geht nun am Ende in einen Quartsprung auf dem Wort „erst“ über. Der Effekt des Innehaltens kommt hier dadurch zustande, dass dieser legato ausgeführt wird und in eine Dehnung mündet.
Noch ein weiterer Faktor trägt dazu bei, dass man die Liedmusik dieser ersten Strophe – ja eigentlich auch der beiden nachfolgenden Strophen – als emphatischen Ausdruck von Daseinsbejahung und Lebensfreude empfindet. Es ist die – für diesen Zyklus ungewöhnliche – Ausrichtung der Harmonik auf tonartliche Zentren vorwiegend im Tongeschlecht Dur. Hier, in der ersten Strophe, sind es die Tonarten D-Dur und G-Dur, mit einer vorübergehenden Rückung nach h-Moll bei dem durch vor- und nachgeschaltete Pausen markant hervorgehobenen kleinen melodischen Sekundfall auf dem Wort „gedacht“. Zwar kann man nicht davon sprechen, dass die melodische Linie in D-Dur und G-Dur harmonisiert sei, dafür moduliert sie viel zu stark. Gleichwohl aber bilden sich dabei diese beiden Tonarten immer wieder einmal in mehr oder weniger starker Ausprägung heraus, und der zweite große melodische Bogen, mit dem die Liedmusik dieser Strophe erst einmal schließt, um Raum zu lassen für das bereits erwähnte lange Zwischenspiel, ist sogar auf klar ausgeprägte Weise in D-Dur harmonisiert. -
„Nun weiß ich doch, ´s ist Frühling wieder“ (II)
In der zweiten Strophe reflektiert das lyrische Ich zunächst seine gegenwärtige Situation und setzt sich mit Fragen dazu auseinander. Aber das Erlebnis frühlingshaften Aufbruchs von Leben ist übermächtig, und so reißen denn schon am Ende dieser Strophe die reflexiven Passagen wieder ab und der lyrische Text findet wieder zu seinem Zentrum: Dem Bild des blühenden Flieders. Die Liedmusik greift all das nicht nur auf, sie vertieft es auch noch in seinem gedanklichen und emotionalen Gehalt. Die Einkehr des lyrischen Ichs in seine Innenwelt lässt die melodische Linie sinnfällig werden, indem sie am Ende der Melodiezeile auf der Eingangsfrage einen Sextfall beschreibt. Und das Klavier verleiht der Eindringlichkeit der nun einsetzenden Selbstreflexion des Ichs Nachdruck, indem es die Folge von punktierten Viertelakkorden im Wechsel mit Achtel-Akkorden, zu der es am Ende des Zwischenspiels übergegangen war, fortsetzt und dazu im Bass ein Auf und Ab von Terzen erklingen lässt. Auch die Melodiezeile auf den Worten „man hatte mich darum gebracht“ mündet am Ende in einen ausdrucksstarken, auf einen Anstieg folgenden Septfall. Er drückt die der Aussage innewohnende Klage aus, und das tut auch die Harmonik, denn sie vollzieht in dieser Zeile eine Rückung von einer vorangehenden D-Dur-Dominanz nach a-Moll.
Wie tief die melodische Linie in die Semantik des lyrischen Textes vordringt, das wird – wieder einmal – beim nächsten Vers sinnfällig. Auf den Worten „was hat die Welt“ und „aus uns gemacht“ liegt beide Male eine melodische Bewegung mit ausgeprägter Aufwärtstendenz, und sie setzt sich damit deutlich vom Klagegestus der vorangehenden Melodiezeile ab. Und dies gilt auch für die Vokallinie, die auf den Worten „Ich dreh´ mich um“. Nach einer Tonrepetition in mittlerer Lage geht sie in einen gedehnten Quartfall über, beschreibt danach einen expressiven Septsprung und bricht ihre weitere Bewegung danach unvermittelt ab, um dem Klavier das Wort zu überlassen, das ein zweitaktiges Zwischenspiel erklingen lässt, mit dem es in Gestalt von Akkordrepetitionen im Diskant und Achtelfiguren im Bass zum neuerlichen Ausbruch der melodischen Linie in die Emphase der Worte „da blüht der Flieder“ überleitet. Sie bringt diese wieder mit einer weit gespannten, in hohe Lage ausgreifenden und in einen gedehnten Legato-Septfall mündenden Bewegung zum Ausdruck, und das Klavier verleiht all dem Nachdruck, indem es eine lange Kette von aus tiefer Lage in hohe emporsteigenden Achteln erklingen lässt, die in bitonale Akkorde übergehen.
Lobpreis ist der Gestus, zu dem die Liedmusik in der letzten Strophe übergeht. Die melodische Linie ist nun, sich von der Versstruktur emanzipierend, in kleine, von Pausen begrenzte Zeilen untergliedert, die allesamt von gewichtigen, weil partiell gedehnten und in eine Dehnung mündenden deklamatorischen Schritten geprägt sind. Auch das Klavier geht zu diesem Gestus über, indem es die Singstimme mit Akkordfolgen im Wert von punktierten Vierteln und Achteln im Diskant und permanent aus tiefer in hohe Lage steigenden Achteln im Bass begleitet. Dort freilich, wo der Aussage der melodischen Linie ein besonderer Nachdruck zu verleihen ist, wie bei dem in eine lange Dehnung mündenden Septsprung auf den Worten „die Pracht“, geht es im Diskant zu einer triolischen Folge von Viertelakkorden über einer fallenden angelegten Kette von Achteln im Bass über. -
„Nun weiß ich doch, ´s ist Frühling wieder“ (III)
Bei den Worten „so bleib´ ich stehn“ ereignet sich dann ein bemerkenswertes Innehalten der Liedmusik, - darin auf beeindruckende Weise die Aussage des lyrischen Textes reflektierend. Auf dem Wort „so“ liegt eine, es mit einem Akzent versehende Dehnung in mittlerer Lage. Danach geht die melodische Linie in eine Folge von legato auszuführenden Fall- und Sprungbewegungen über und endet in einer langen Dehnung in oberer Mittellage auf dem Wort „stehn“.
Es ist ein Ausklingen, denn das Klavier, das die melodische Linie vom Zeilenanfang an mit beharrlich wirkenden, weil von Achtelpausen unterbrochenen Akkordrepetitionen begleitet hat, setzt diese nun erst fort, geht danach im Bass zu repetierenden Terzen und Sekunden, im Diskant zu in hohe Lage emporsteigenden Oktaven über, und dann, mit einem Mal, kehren die strömend sich entfaltenden Sechzehntel-Ketten im Diskant wieder, aus denen sich die melodische Linie am Liedanfang gleichsam herausschälte und die sie dann die ganze erste Strophe über trug. Und nicht nur trug, sondern auch beflügelte und vorantrieb.
Fast bis zum Ende des Liedes erstreckt sich dieser wie ein Wirbel sich entfaltende Strom von Sechzehnteln, der in tiefer Lage einsetzt, in extrem hohe Diskantlage emporsteigt und dort in ein wellenartiges Auf und Ab übergeht und ins Piano-Pianissimo übergeht. Im neunten Takt setzt mit einem, und zum letzten Mal die Singstimme wieder ein, „ruhig“ die melodische Linie auf den abschließenden Worten „noch blüht der Flieder“ vortragend. Wieder ist es eine weit gespannte Bogenbewegung, mit einem dreifachen Sekundanstieg erst in eine lange Dehnung in mittlerer Lage auf dem Wort „blüht“ übergehend und danach einen stark gedehnten und in eine Tonrepetition mündenden Sextfall auf dem Wort „Flieder“ beschreibend. Und wieder schält sich dabei ein reines D-Dur heraus, was - zusammen mit dieser melodischen Bewegung und dem sie tragenden Klaviersatz - die Anmutung von einem stillen und innigen Beseligt-Sein des lyrischen Ichs aufweist.
In den letzten sechs Takten geht der Sechzehntel-Wirbel erst in eine Folge von Staccato-Achteln über, dann folgen drei Figuren aus bitonalen Akkorden nach, ein überraschend dissonant wirkender, mit einer kurzen Fermate versehener fünfstimmiger Akkord. Und dann lässt das Klavier pianissimo in hoher Diskantlage drei Staccato-Akkorde erklingen von denen die beiden letzten reine D-Dur-Akkorde sind. Man denkt:
Eine kurze Verunsicherung des Ichs in seinem inneren Beglückt-Sein, die sich dann am Ende wieder auflöst. -
Gesänge des späten Jahres, op.71
Dieser Zyklus von insgesamt elf Liedern entstand unmittelbar nach dem Opus 67 („Durch die Nacht“), also noch im Jahr 1931. Das erste Lied mit dem Titel „Wanderlied im Herbst“ wurde am 17. Oktober komponiert, das letzte, das den Titel „Der Genuß des Unendlichen“ trägt, entstand am 27. Dezember 1931. Dem Werk liegen, wie dies ja auch bei dem „Reisebuch aus den österreichischen Alpen“ der Fall ist, eigene Texte zugrunde. Sie unterscheiden sich von jenen allerdings dadurch, dass die lyrische Inspiration des – immer noch - wesenhaft prosaischen Grundkonzepts dieses Mal weitaus stärker ausgeprägt ist, dergestalt, dass spezifisch lyrische Bilder mit evokativem Potential gegenüber den narrativen und gedanklich-reflexiven Textelementen überwiegen und sich die formale Gestalt nicht nur auf die Strukturierung in Versen beschränkt, sondern auch den Faktor „Metrum“ einbezieht, dies allerdings in freier Handhabung. Wie beim „Reisebuch“ auch haben diese prosodischen Gegebenheiten zur Folge, dass es dann letzten Endes der Liedmusik obliegen muss, eine die innere Einheit des Werkes konstituierende Binnengliederung zu stiften.
Krenek hat sich zur Entstehung und zur Zielsetzung dieses Werkes in seiner Autobiographie „Selbstdarstellung“ (Zürich 1948) wie folgt geäußert:
„Der Zyklus war in gewissem Sinn das Gegenspiel des >Reisebuchs<, das ich erst zwei Jahre früher in viel fröhlicherer Stimmung geschrieben hatte. Damals hatte ich die Schönheiten und hoffnungsvollen Aspekte meiner Heimat hervorgehoben. Melancholie und Zweifel waren über das Ganze ausgebreitet wie ein dünner Schleier, der die liebenswerten Züge nur noch anziehender machte. Nunmehr war die Grundstimmung bitter und grimmig, Zerfall und Auflösung standen im Vordergrund. Die Tonsprache dieser Lieder setzte das Konzept der Tonalität unter erheblichen Druck, und ich schien zu manchen Charakterzügen meiner früheren Musik zurückzukehren.“
Wenn das „Reisebuch“ der liedmusikalische Niederschlag einer Reise durch eine reale Welt auf der Suche nach der Möglichkeit von „Heimat“ daselbst darstellt, so handelt es sich bei den „Gesängen des späten Jahres“ um die sprachlich-musikalische Konkretion einer Reise durch eine gedanklich-seelische Innenwelt, die das Ziel hat, sich seiner selbst zu vergewissern und ein damit Fundament für eine personale Existenz zu schaffen. Damit weist dieses liedmusikalische Werk einen hohen autobiographischen Bezug auf. Es entstand auf dem Hintergrund eines, wie Krenek selbst bekannte, „seltsamen Gefühls drohenden Verhängnisses“ und im „Bewußtsein“, „auf unterminierten Fundamenten zu existieren.“
Was die Liedmusik anbelangt, mit der Krenek diese „Reise“ in Angriff nimmt und durchführt, so begegnet sie einem hier in der Komplexität, wie man sie schon aus den vorangehenden Lied-Opera kennengelernt hat, und dies in einer eher noch gesteigerten Form. Reine Tonalität findet sich neben Atonalität, diatonischer Wohlklang neben schmerzender Chromatik und Dissonanz.
Es soll keine Gesamtbetrachtung des Zyklus erfolgen. Um die spezifische Eigenart der Liedsprache erfassen zu können, sollte es genügen, sechs von den insgesamt zehn Kompositionen einer näheren Betrachtung zu unterziehen.Lied 1: „Wanderlied im Herbst“
Kalter Regen peitscht die kahle Flur,
und fahle Wolken hängen tief herab:
Nun ist das Ende nah,
der Weg ist aus, ist auch kein Ziel erreicht.
Da hilft kein frommer oder heitrer Trug mehr,
und bleibt uns nichts als unser Wunsch,
es möge anders sein,
rückgewendet als Erinnerung an die verlorene Zeit,
die uns so schön dünkt, weil wir uns ihrer nicht erinnern.
Aus solchem Spiegelbild der Sehnsucht
formten wir Anspruch, Wert und Ruf an diese Welt:
Doch nichts hielt stand.
Kalter Regen peitscht die kahle Flur.
Gab es wirklich jenen Sonnentag,
da alles anfing vor allem Anfang,
den hellen Tag der frühen Kindheit?
War damals alles wirklich wahr,
und hielt es stand, was Aug und Ohr im wachen Traum sich schufen?
Oder ist dies alles nur ein Wunschbild,
das der Schmerz zum Irrlicht des Erinnerns fälscht?
Zwischen Wahn und Wahrheit schwanken wir noch kurze Zeit,
und in zweifelhafter Zone ist unsere Wohnstatt.
Aber wenn ich nachts aus dem Schlaf schreie,
bedroht vom Untergang und allen seinen Dämonen,
und fühle deine gute Hand, so weiß ich sicher, daß jenes wirklich war,
nah und schmerzlich fern:
Um desto schaudervoller unser Sturz.
Denn kalter Regen peitscht die kalte Flur,
und fahle Wolken hängen tief.
Oh, bittres Wanderlied an langen Weges End
Und fern von jedem Ziel.
Das Bild „kalter Regen peitscht die kahle Flur“ stellt eine Art lyrisches Leitmotiv dar. Es leitet alle drei Strophen ein und evoziert damit die Situation, mit der das lyrische Ich sich emotional und rational auseinandersetzt. Es ist ein hartes, schroffes Bild, mit den Adjektiven „hart“ und „kahl“ als sprachlicher Rahmen und dem klanglich scharfen und semantisch schmerzlichen Wort „peitscht“ in der Mitte. Für das lyrische Ich ist „das Ende nah“ und „der Weg aus“, und in dieser perspektiv- und hoffnungslosen Situation wendet es seinen Blick zurück und stellt sich der Frage, ob es dort eine bessere Zeit gegeben hat. Ob die Tage der Kindheit, wie sie in der Erinnerung einstellen, „wirklich wahr“ sind und alles einer Prüfung darauf standhalten würde, bleibt ungewiss. Bestand hat nur eine einzige Erinnerung: Die „gute Hand“ eines geliebten Menschen. Sie ist das einzig tröstliche Bild im nächtlichen Bedroht-Sein durch die gegenwärtigen „Dämonen“ des Untergangs. Aber wirkliche Hilfe kann es nicht sein.
Die inhaltliche und perspektivische Komplexität des lyrischen Textes muss sich in einer entsprechenden Komplexität der seine Aussagen reflektierenden und interpretierenden Liedmusik niederschlagen. Und diese ist im Bereich von Melodik, Klaviersatz, Harmonik, Tempo und Dynamik derart vielgestaltig, dass es nicht möglich ist, sie hier auch nur annähernd deskriptiv zu erfassen. Man muss sich auf die analytische Betrachtung von für den Charakter und die Gestalt der Liedmusik repräsentativen und typischen Passagen beschränken und sich ansonsten mit zusammenfassenden Charakterisierungen derselben behelfen. -
„Wanderlied im Herbst“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Aussagekräftig und vielsagend ist die Art und Weise, wie der die Strophen jeweils einleitende und darin eine leitmotivische Funktion ausübende Vers im Kontext mit den ihm unmittelbar nachfolgenden Versen jeweils in Liedmusik gesetzt ist. Am Anfang geht dem ein zweitaktiges Vorspiel voraus, das in gleichsam programmatischer Weise den Geist all dessen verkörpert, was sich danach noch liedmusikalisch ereignen wird. In klanglich schroffer Weise fallen in die stark rhythmisierte und aus tiefer in hohe Basslage aufsteigende Abfolge von bitonalen Akkorden und Einzeltönen aus dem hohen Diskant „forte stridente“ Oktaven ein, die eine Fallbewegung übergehen, sich am Ende zu einer Terz verengen und dabei die Figuren im Bass gleichsam vereinnahmen. Und mit einer solchen, wie schneidend auftretenden und im Gestus der Bassfiguren rhythmisierten Bewegung setzt auch die melodische Linie der Singstimme ein. Eine gedehnte Fallbewegung folgt auf die andere, auf einem „G“ in hoher Lage ansetzend und sich bis zu einem „Cis“ in tiefer Lage bei dem Wort „Flur“ absenkend, wobei dem Wort „kahle“ ein besonderer Akzent dadurch verliehen wird, dass die melodische Linie auf dessen erster Silbe in Gestalt einer Dehnung innehält, um danach auf der zweiten Silbe ein Sechzehntel in einem Terzfall nachklingen zu lassen.
Das Klavier, das immerzu forte agiert und am Ende dieser Melodiezeile gar ins Fortissimo ausbricht, setzt seinerseits schroffe klangliche Akzente in Gestalt von in hohe Lage emporsteigenden und von fallenden Oktaven im Bass konterkarierten vielstimmigen Akkorden im Diskant oder einer in hohe Lage aufschießenden Sechzehntelkette während des expressiv gedehnten melodischen Terzfalls auf dem Wort „Regen“. Harmonisiert ist dies alles in einer extrem dissonant modulierenden, tonal nicht auf ein Zentrum zu bringenden Chromatik. Und wie kompositorisch bewusst Krenek den Klaviersatz als liedmusikalisches Ausdrucksmittel einsetzt, das zeigt sich bei der Melodiezeile auf dem nachfolgenden Vers „und fahle Wolken hängen tief herab“.
Der in der Tradition des romantischen Klavierliedes stehende Komponist würde auf dieses Bild wohl eine fallende melodische Linie legen. Nicht so der ganz vom lyrischen Ich und seiner augenblicklichen situativen Befindlichkeit her denkende und komponierende Krenek. Er setzt eine ansteigende melodische Linie ein, wobei der zweitletzte deklamatorische Schritt ein Quintsprung ist, dem ein weiter Anstieg in Gestalt einer kleinen Sekunde nachfolgt. Und damit will er – und das ist typisch und repräsentativ für seine liedkompositorische Intention in allen Liedern dieses Zyklus – nicht den Gehalt des lyrischen Bildes in Musik umsetzten, sondern zum Ausdruck bringen, wie das lyrische Ich den im Bild beschriebenen Vorgang erfährt und erlebt.
Die Liedmusik auf den Versen „Nun ist das Ende nah, / der Weg ist aus, ist auch kein Ziel erreicht“ lässt das auf beeindruckende Weise vernehmen. Das Klavier lässt in mechanischer Gleichförmigkeit vier staccato angeschlagene dissonante Akkorde pro Takt erklingen, und die Singstimme deklamiert diese Worte in Gestalt dreier, durch Viertelpausen voneinander abgehobener kleiner Melodiezeilen, von denen die erste aus einer melodischen Fallbewegung besteht, die beiden anderen aus einem jeweils in eine Tonrepetition mündenden Auf und Ab der melodischen Linie in mittlerer tonaler Lage.Das ist liedmusikalischer Ausdruck von tiefer Hoffnungslosigkeit, ja Fatalismus. Und es erinnert in auffälliger Weise an den Eingang von Franz Schuberts „Winterreise“. So setzt die melodische Linie sich denn bei den nächsten drei Versen in diesem Gestus fort: Ein strikt silbenbezogenes und darin staccatohaft wirkendes Auf und Ab in mittlerer Lage, das aber am Ende in eine Art expressiven Ausbruch übergeht: In Gestalt einer Aufgipfelung der melodischen Linie mit nachfolgendem Fall bei den Worten „uns nichts“ und „möge anders“. Das Klavier behält bis dahin seine wie starr-gleichgültig wirkende Begleitung der Singstimme mit Viertelakkord-Folgen bei und geht erst bei den Worten „es möge anders sein“ zu ansteigenden bitonalen Figuren aus Achteln und Sechzehnteln über.
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„Wanderlied im Herbst“ (II)
Wie vielfältig, weil die Komplexität des lyrischen Textes reflektierend die Liedmusik ist, das wird bei den Worten „Aus solchem Spiegelbild der Sehnsucht / formten wir Anspruch, Wert und Ruf an diese Welt“ vernehmlich. Sie artikulieren einen gedanklich-reflexiven Rückblick, und so nimmt die melodische Linie denn einen stärker fließenden deklamatorisch-gebundenen Gestus an und überlässt sich bei dem Wort „Sehnsucht“ sogar einem lang gedehnten verminderten Septfall. Aber dann bricht doch wieder der für die Liedmusik des ganzen Zyklus typische Faktor „Betroffenheit des lyrischen Ichs“ durch, und bei den Worten „Ruf an diese Welt“ geht sie nach einer langen Dehnung auf einem „Eis“ n hoher Lage zu einem geradezu schroffen Fall über eine ganze Dezime bis zu einem „Cis in tiefer Lage über.
Wie sehr diese Liedmusik Ausdruck der seelischen Befindlichkeit des lyrischen Ichs ist, wie sie sich aus der Auseinandersetzung mit seiner gegenwärtigen Lebenswelt einstellt, das spürt man immer wieder sehr deutlich. So etwa, wenn die melodische Linie bei den Worten „an die verlorne Zeit“ eine in hohe Lage aufsteigende Bogenbewegung beschreibt, und dann, nach einer bemerkenswert langen Pause bei den Worten „die uns so schön dünkt“ zu einem auf einem hohen „F“ ansetzenden Fall übergeht, der bei dem Wort „schön“ eine Dehnung aufweist, vom Klavier in Gestalt von dreistimmigen Akkorden mitvollzogen wird und eine Anmutung von Innigkeit aufweist.
Wenn der leitmotivische Vers am Beginn der zweiten Strophe wiederkehrt, dann mit einer Liedmusik, die sich deutlich von der des Liedanfangs abhebt. Die melodische Linie setzt nun nicht in hoher Lage an, um einen wie unaufhaltsam wirkenden Fall in die Tiefe zu beschreiben, vielmehr geht sie aus einer Dehnung auf einem „H“ in mittlerer Lage in eine Abwärtsbewegung über das relativ kleine Intervall einer Sexte über. Zwar verharrt sie auf dem Wort „peitscht“, um es klanglich hervorzuheben, in einer Dehnung, jedoch ereignet sich diese in tiefer Lage und danach geht sie sofort wieder in Gestalt von zwei Sprungbewegungen in obere Mittellage über und endet in einem doppelten Sekundfall bei dem Wort „Flur“. Auch das Wort „kahle“ erhält einen Akzent in Gestalt eines gedehnten Quartsprungs. Und das Klavier, das hier mit Vierteln und Achteln in Diskant und Bass begleitete und die melodischen Bewegungen darin partiell mitverfolgte, greift diese im sechstaktigen Zwischenspiel noch einmal auf, um sie „sempre più dolce“ klanglich weiter zu mildern. Auch die Harmonik wirkt hier nun weniger schroff. Sie meidet starke atonale Modulationen und verharrt länger in einer verminderten Tonalität. -
„Wanderlied im Herbst“ (III)
Es ist wohl so, dass die in den Versen zwei bis acht sich ereignende Hinwendung des lyrischen Ichs zur Betrachtung der Zeit der Kindheit gleichsam rückwirkend diese Besänftigung der Liedmusik auf dem Eingangsvers bewirkt hat. Denn nun entfaltet sich die melodische Linie „immer fließend“ mit relativ gebundenen deklamatorischen Schritten in größeren Zeilen, wobei immer wieder in Dehnungen übergeht und die Fallbewegungen, so sie denn stattfinden, legato über kleine Intervalle erfolgen. Der „helle Tag der frühen Kindheit“ stellt sich dem lyrischen Ich in der Erinnerung als schöne heile Lebenszeit dar, was sich in der melodischen Linie auf diesen Worten in Gestalt einer langen Dehnung auf dem Wort „Tag“ und einer nachfolgenden ruhig deklamierten und einer abschließenden Tonrepetition in mittlerer Lage niederschlägt.
Aber es werden ja Fragen an diese Zeit gerichtet, und es sind gravierende, das Ich bedrängende, was die Liedmusik deutlich vernehmen lässt. Die melodische Linie nimmt wieder einen stärker rhetorisch-deklamatorischen Gestus an, ist wieder in kleinere Zeilen untergliedert und beschreibt in höhere Lagen ausgreifende und dadurch expressiver wirkende Bewegungen. Die Nachdrücklichkeit des Fragens schlägt sich gleich am Anfang darin nieder, dass die melodische Linie bei den Worten „war damals“ mit einer Tonrepetition einsetzt, dass sie dann bei den Worten „was Aug und Ohr im wachen Traum sich schufen“ aus einer bogenförmigen Aufgipfelung in hoher Lage in einen Fall über das große Intervall einer Dezime übergeht und schließlich bei „zum Irrlicht des Erinnerns fälscht“ mit einem Quartsprung eine Dehnung auf einem hohen „G“ beschreibt, der eine „rit. molto“ auszuführende Kombination aus Sekund- und Quartfall nachfolgt.
Mit den Worten „Zwischen Wahn und Wahrheit schwanken wir noch kurze Zeit“ wendet sich das lyrische Ich wieder seiner gegenwärtigen Lebenssituation zu, und für die Liedmusik muss dies Anlass sein, einen hohen Grad an Expressivität in Gestalt einer geradezu atonal schroff und schmerzlich sich entfaltenden Klanglichkeit und einer in heftiger Wildheit sich ergehenden Melodik zu entfalten. Das Klavier lässt Tremoli in hoher Diskantlage über tiefen Staccato-Bassrepetitionen erklingen, die melodische Linie geht zunächst zu einem gewichtigen, weil in deklamatorischen Schritten von vorwiegend Viertel- und halben Noten erfolgenden Auf und Ab über.
Aber bei den Worten „wenn ich nachts aus dem Schlaf schreie“ ereignet sich ein regelrechtes Sich-Aufbäumen von Melodik und Klaviersatz, insofern beide eine in hohe Lage ausgreifende Bogenbewegung beschreiben, die melodische Linie eine triolische in Gestalt von Achteln, das Klavier eine hochexpressiv-sextolische von Sechzehnteln, für die ausdrücklich die Anweisung „ff grell“ gilt. Danach wirkt die melodische Linie wie ein einziger zerstückter Schrei, - im immer wieder in Dehnungen innehaltenden, von einer Pause unterbrochenen, dann neu ansetzenden Fall über eine ganze Dezime. Der über eine Quarte und eine Terz erfolgende, partiell gedehnte und in eine Tonrepetition erfolgende Fall in tiefer Lage auf dem Wort „Dämonen“ wirkt bedrückend. -
„Wanderlied im Herbst“ (IV)
Es ist nicht wirklich klangliche Wärme, die von der melodischen Linie auf den Worten „und fühle deine gute Hand, so weiß ich sicher, daß jenes wirklich war, nah und schmerzlich fern“ ausgeht, dem steht ihre atonal modulierende Harmonisierung, ihre Untergliederung in vier kleine, von Pausen begrenzte Zeilen und ihr immer noch stark wortbezogener deklamatorischer Gestus gegenüber. Aber die fallende und wieder steigende Bogenbewegung in tiefer Lage auf den Worten „gute Hand“ und der gedehnte kleine Sekundfall mit nachfolgendem Quartsprung bei „jenes wirklich war“ lassen vernehmen, dass das lyrische Ich mit Rührung an dieser beglückenden Erfahrung gedenkt.
Der „lento“ zu deklamierende, hoch ansetzende und sich über eine ganze Oktave erstreckenden Fall der melodischen Linie auf den Worten „nah und schmerzlich fern“ lässt das wie in einem nachträglichen Kommentar vernehmen. Und da ist ja auch noch die Gegenwart. Schroff und hart wirkt die melodische Linie auf den Worten „um desto schaudervoller unser Sturz“, mit ihren aus einem zweifachen Sekundanstieg hervorgehenden Tonrepetitionen in hoher Lage, die sich nach einer Viertelpause auf einer um eine Quinte abgesenkten tonalen Ebene fortsetzen und bei dem Wort „Sturz“ in einen tatsächlichen Sturz über eine Septe in tiefe Lage übergehen.
Beim letzten Auftritt des Verses, der gleichsam das Fundament für alle lyrischen Aussagen bildet, liegt wieder die harte und schroffe Liedmusik auf ihm, wie das am Liedanfang der Fall war. Fast mutet sie in diesem Gestus noch gesteigert an, obgleich die melodische Linie in ihrem Fall dieses Mal nicht den großen tonalen Raum durchläuft. Dafür aber liegt auf jedem deklamatorischen Schritt eine markant angeschlagene Oktave im Diskant und im Bass erklingt eine Folge von gleichförmig angeschlagenen vierstimmigen Akkorden. Zwar steigt die melodische Linie bei den Worten „die kahle Flur“ noch einmal über zwei Terzen und eine Sekunde zu einem hohen „E“ auf, um dort in eine Dehnung zu verfallen, aber beim nachfolgenden Vers mit den Worten „und fahle Wolken hängen tief“ beschreibt sie wieder eine Fallbewegung, dieses Mal über eine ganze Dezime und bei dem Wort „tief“ mit einem Sturz über eine Quinte auf einem tiefen „D“ endend.
Die Liedmusik auf den mit den Worten „O bittres Wanderlied“ eingeleiteten letzten Versen mutet an wie ein einziger tief schmerzlicher Ausdruck von Resignation und Hoffnungslosigkeit. Die melodische Linie senkt sich zunächst in Gestalt von Tonrepetitionen langsam ab und geht bei den Worten „und fern von jedem Ziel“ „rit.molto“ in einen sich wiederholenden Fall von Vierteln über, der – und das macht ihn so schmerzlich – am Ende in einen verminderten Quartsprung hin zu einem „Cis“ in oberer Mittellage mündet und dort in einer Dehnung verharrt.
Das Klavier hat dazu nur noch zwei durch Pausen voneinander getrennte Akkorde beizutragen und lässt im Nachspiel eine rhythmisierte Folge von siebenstimmigen dissonanten Akkorden erklingen, die, besonders weil die letzten drei in hoher Diskantlage angeschlagen werden, wie ein Fanal wirken. -
Lied 3: „Ballade von den Schiffen“
Ich habe alle meine Schiffe ausgesendet,
als der Tag anbrach und die Sonne unerschüttert schein.
Ich hatte sie mit meinem Glauben befrachtet,
und meine Hoffnung war ein starker Mastbaum.
Und da die Schiffe tief im Wasser lagen und ihr Bord an Wassers Rand,
so glaubten alle meine Freunde, ich sei reich an Schätzen,
und sie ehrten und liebten mich deshalb.
Jetzt ist die Sonne längst vergangen.
Seht ihr die graue Wand aufsteigen über´m Meer?
Schon hat sie still den fernen Horizont aufgeschluckt,
der Wind des Untergangs beginnt, uns zu umsausen.
Fühlt ihr die Erde leise zittern,
weil da draußen weit Wogen aufkommen, höher als wir je gesehen?
Dort werden meine Schiffe untergehen,
zerschellt, hinweggefegt die Hoffnung,
mein Glaube sinkt hinab ins tiefe Meer,
ein Schatz, den niemand heben wird.
Jetzt lächeln alle meine Freunde und sehn, daß ich ein Narr bin;
Meine Feinde haben längst schon andere Opfer.
Im Wind verwirbelt flüchtig meine schwache Spur.
Liest man diesen Text, noch bevor man die Musik hört, die ihn aufgreift und in ihr mediales Ausdruckspotential überträgt, dann stellt sich beim anschließenden Hören auf den ersten Augenblick Verblüffung, ja sogar Verwunderung ein, woraus dann allerdings alsbald, bei nochmaligem und strikt analytischem Hinhören die Erkenntnis hochgradiger liedkompositorischer Kunstfertigkeit wird. Der Begriff „Lied“ ist freilich, wie das ja generell für dieses ganze Opus gilt und hier in exemplarischer Weise sinnfällig wird, nicht wirklich angebracht. Diese Komposition begegnet ihren Hörern eher wie der ariose Bestandteil einer modernen Oper und ist darin weit weg von der der romantischen Tradition verpflichteten Gattung „Kunstlied“. Gleichwohl entfaltet sie, von dort herkommend, sie aber radikal transzendierend, eine künstlerisch relevante und musikalisch überzeugende Aussage.
Der Text bringt tiefe Hoffnungslosigkeit zum Ausdruck. Das lyrische Ich spricht in der Gewissheit, dass die Schiffe, die es ausgesendet hat, dem Untergang geweiht sind. Und es sind nicht Schiffe, die eine beliebige Fracht tragen, beladen sind sie mit seiner Hoffnung auf ein gelungenes und erfülltes Leben in einer friedvollen Welt. Mit den Schiffen versinkt auch sein Glaube, dass dergleichen möglich sein könnte. Seine Feinde werden triumphieren und seine Freunde einen Narren in ihm sehen.
Angesichts einer solchen lyrischen Aussage und dem sachlich-nüchternen Gestus, in dem sie sich sprachlich artikuliert, erwartet man eigentlich eine Liedmusik, deren Melodik von einer markant-gewichtigen Deklamation und einer Dominanz der fallenden Linie geprägt ist, einen Klaviersatz, der sie in diesem Gestus akzentuiert und eine Harmonik, die klangliche Schmerzlichkeit ausstrahlt. Nichts von alledem ist der Fall. Für den Vortrag dieser Liedmusik gilt die Anweisung „Allegretto vivace con grazia“, und in der Lebhaftigkeit, Munterkeit ja partiellen Beschwingtheit ihres Auftritts steht sie von Anfang an in einem starken Kontrast zur lyrischen Aussage, und diese steigert sich bei der zentralen Aussage, den Worten „mein Glaube sinkt hinab ins tiefe Meer,/ ein Schatz, den niemand heben wird“ geradezu ins Groteske. -
„Ballade von den Schiffen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Verwirrend ist schon der Liedanfang. Im fünftaktigen Vorspiel erklingt, „poco ritenuto“ auszuführen, eine atonal und fallend angelegte Folge von taktübergreifenden fünfstimmigen Akkorden mit einem zwischengelagerten vierstimmigen Viertelakkord. Das weist durchaus eine Anmutung von klanglicher Schmerzlichkeit auf, und die nach dem Ausklingen des letzten Akkords im fünften Takt einsetzende melodische Linie tut das mit einem etwas länger gehaltenen, weil in Gestalt einer Viertelnote deklamatorisch vorzutragenden „Fis“, so dass einen Augenblick noch erwartet werden kann, dass die auf das Wort „ich“ folgende Melodik diesen Geist des Vorspiels aufgreift und fortsetzt.
Auf wirklich überraschende Weise setzt die Singstimme bei den Worten „habe meine Schiffe ausgesendet“ durchweg in Achtelschritten deklamierten zweimaligen Aufstieg der melodischen Linie aus tiefer in obere Mittellage ein, den das Klavier „leggiero“ mit Staccato-Achteln mitvollzieht. Und das tut es auch, wenn die melodische Linie bei „ausgesendet“ in eine syllabisch exakte Tonrepetition mit nachfolgendem vermindertem Quartfall übergeht. Hier lässt es aber zusätzlich im Bass noch eine munter im Bass nach oben steigende Folge von Staccato-Achteln erklingen. Dieses Ich, so empfindet man das spontan, hat seine Schiffe frohen Mutes und heiteren Sinnes „ausgesendet“.
Und in diesem Geist setzt sich die Liedmusik fort. Es tritt sogar noch ein emphatischer Ton in sie ein. Bis zum siebten Vers („und sie ehrten und liebten mich deshalb“) weist die Anlage der melodischen Linie eine gewisse Regelmäßigkeit auf. Zunächst setzt sie, wie beim ersten so auch beim dritten und beim fünften Vers, mit kurzschrittiger, weil achtelbetonter Deklamation ein. Danach geht sie zu in höhere Lage ausgreifenden und relativ weit gespannten Bogenbewegungen über, die durchaus emphatisch anmuten. So erstmals im zweiten Vers bei den Worten „als der Tag anbrach“ und in Gestalt einer bogenförmigen, den Takt übergreifenden Dehnung auf dem Wort „Sonne“. Beim fünften Vers beschreibt die melodische Linie ebenfalls eine bogenförmige Bewegung auf den Worten „und meine Hoffnung“, wobei der Bogen auf „Hoffnung“ wiederum eine taktübergreifende Dehnung darstellt. Das Bild „ein starker Mastbaum“ reflektiert sie dann dergestalt, dass sie mit einem Oktavsprung in hohe Lage aufsteigt, dort in eine gedehnt-rhythmisierte Tonrepetition beschreibt und dann auf der zweiten Silbe des Wortes „Mastbaum“ mit einem Oktavfall wieder zur Ausgangslage zurückkehrt.
Das Klavier, das bislang die Singstimme mit Achteln und Akkorden in Bass und Diskant begleitete, ihre Bewegungen zum Teil mitvollzog, teilweise aber auch gegenläufig verfolgte, geht nun bei diesem letzten Bild zur Artikulation einer gerade graziös verspielt anmutenden Figur über: Aus einem arpeggierten Akkord löst sich im Diskant ein Achtel, dem ein Viertel und ein weiterer arpeggierter Akkord nun im Bass nachfolgt. Im kurzen Zwischenspiel vor dem neuerlichen Einsatz der melodischen Linie auf den Worten des fünften Verses („Und da die Schiffe tief im Wasser lagen…“) setzt das Klavier diese vom Gehalt dieses Bild eigentlich unangebrachten und deshalb wunderlich anmutenden Figuren fort. -
„Ballade von den Schiffen“ (II)
Da mit diesem fünften Vers ein Wechsel der Perspektive in den Text tritt, von der Innenwelt des lyrischen Ich hin zur Beschreibung der Außenwelt, geht die melodische Linie zu einem etwas stärker gebundenen deklamatorischen Gestus über, entfaltet sich also fließender. Allerdings weist sie dabei auch einen Faktor der Steigerung ihrer Expressivität auf, indem sie, wie anfänglich bei den Worten „und da sie“, zweimal in tiefer Lage ansetzt, eine Aufwärtsbewegung beschreibt und beim zweiten Mal dabei eine um eine Sekunde angehobene tonale Ebene erreicht. Bei der Melodiezeile auf den Worten „so glaubten alle meine Freunde“ wiederholt sich das in nochmals gesteigerter Form, so dass sich eine starke, hoch ausgreifende Wellenbewegung der Vokallinie ergibt, die am Ende, bei dem Wort „Freunde“, in eine gedehnte Tonrepetition mündet, der eine Pause nachfolgt, die Offenheit schaffen soll für das, was an Aussage nachfolgt.
Und das ist nun erneut eine gleich doppelte, wieder in hohe Lage ausgreifende Bogenbewegung, wie sie für die Melodik dieses ersten Liedteils so typisch und klanglich prägend ist: Einmal auf den Worten „ich sei reich an Schätzen“, das andere Mal auf „und sie ehrten“. Das Klavier begleitet dies allerdings in unterschiedlicher Weise. Die erste Bogenbewegung vollzieht es im Diskant in Gestalt von Achteln mit, bei der zweiten geht es dann aber zur Artikulation von Akkorden über und behält dies auch bei, wenn die melodische Linie am Ende dieser Zeile bei den Worten „liebten mich deshalb“ eine Folge von „poco rit.“ auszuführenden Tonrepetitionen mit nachfolgend hochexpressiver Kombination aus Quartsprung und Nonenfall beschreibt.
Dieser Nonenfall auf dem Wort „deshalb“ wirkt wie der definitive Abschluss einer Melodik, die sich zwar in stark rhetorischem, deklamatorisch-wortgebundenem Gestus entfaltet, dies aber durchweg in auffallend lebhafter, munterer, zuweilen geradezu beschwingter und dabei immer wieder emphatische Bogenbewegungen beschreibender Weise, vom Klavier darin unterstützt in Gestalt eines sowohl eines melodischen Mitvollzugs mit Achteln im Diskant, wie auch einer Akzentuierung durch akkordische Figuren in Diskant und Bass.
Bedenkt man nun, dass dieser Text zwar als „Ballade“ betitelt ist, ihm aber der für diese lyrische Gattung typische narrative Gehalt fehlt, insofern die Aussagen des lyrischen Ichs von Anfang an und durchweg situativ bedingt sind, also aus der Haltung einer imaginativen Vergegenwärtigung des Endes erfolgen, wie es in den Worten der letzten sieben Verse Ausdruck findet, dann gibt es für diese geradezu massive Diskrepanz zwischen lyrischem Wort und Liedmusik eigentlich nur eine Erklärung:
Krenek will dieses lyrische Ich als eines darstellen, das angesichts der absoluten Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit seiner existenziellen Situation in fatalistischen Sarkasmus und bittere Ironie verfällt. Folgt man unter diesem interpretatorischen Verstehens-Ansatz der weiteren Liedmusik, so fühlt man sich mehr und mehr darin bestätigt, bis hin zu ihrem geradezu bitterböse sarkastischen Schluss. -
„Ballade von den Schiffen“ (III)
Das soll nun nicht im einzelnen und unter detaillierter Bezugnahme auf die Faktur der Komposition aufgezeigt und nachgewiesen werden. Hinweise auf diesbezüglich besonders markante und aussagekräftige Liedpassagen sollten genügen. Und das fängt schon damit an, dass das Klavier nach diesem den ersten Liedteil beschließenden melodischen Nonenfall auf dem Wort „deshalb“ zunächst vier Takte lang wieder seine arpeggierten Akkorde mit staccato-Akkord-Nachschlag erklingen lässt, mit denen es die Singstimme ja zuvor schon bei dem Bild vom „starken Mastbaum“ begleitete. Dann aber ereignet sich Bemerkenswertes. Aus den tonal angelegten und piano ausgeführten Akkorden werden in den nachfolgenden vier Takten mit einem Mal atonal überaus schrille, klanglich schmerzliche, vom Klavier „sffz“ in hoher Diskantlage mit Vorschlag artikuliert, den ganzen Takt über gehalten und sich in der klanglichen Schroffheit noch intensivierend. Es ist offenkundig, dass das Klavier hier eine Überleitung vom ersten Teil des Liedes hin zum nachfolgenden schafft, der mit den Worten eingeleitet wird „Jetzt ist die Sonne längst vergangen“. Der klanglich harte und schroffe Umschlag, der sich in diesem Zwischenspiel ereignet, lässt den Zusammenprall der beiden Welten sinnfällig werden: Der vergangenen, in dem das Ich seine Hoffnungen gebar und auf die Reise schickte, und der nun aufziehenden, mit der drohend über dem Meer aufziehenden grauen Wand. Man empfindet das so, als käme das Klavier hier nun endlich zur Wahrhaftigkeit seiner Aussage.
Und das gilt auch für die sich anschließende Liedmusik, allerdings nur die Verse acht bis fünfzehn umfassend, von der Aussage „Jetzt ist die Sonne längst vergangen“ bis „zerschellt, hinweggefegt die Hoffnung“ also. Es ist der Teil des Liedes, in dem das Szenario vom Untergang der Schiffe und dem Versinken des „Glaubens“ ins „tiefe Meer“ in Gestalt stark expressiver Bilder imaginiert wird. Und entsprechend expressiv tritt auch die zugehörige Liedmusik auf. Das zutiefst Verstörende und das lyrische Ich Erschütternde in diesen Bildern, kulminierend in jenem von der „grauen Wand über´m Meer“, greift die Liedmusik dergestalt auf und bringt es zum Ausdruck, dass die Melodik in Zeilen untergliedert ist, zwischen denen längere Pausen liegen, in denen das Klavier seinen eigenen Beitrag zur klanglichen Evokation des Gehalts der Bilder liefern kann.
Dieser ist nicht nur hier, sondern auch in der Begleitung der melodischen Linie auf vielgestaltige Weise eigenständig und hochexpressiv, das gilt auch für die Struktur der melodischen Linie selbst. Immer wieder, von Zeile zu Zeile in unterschiedlichen Varianten, bricht sie aus einer anfänglich kurzschrittig wort- und silbenbezogenen Gestus in weit nach oben ausgreifende, stark gedehnte und darin hohe Expressivität entfaltende Bogenbewegungen aus, die zumeist forte vorgetragen werden und in eben diesem ihnen an sich schon eigenen hohen Ausdruckspotential noch eine Steigerung dadurch erfahren, dass das Klavier sie mit ihrerseits expressiven Figuren akzentuierend begleitet: Von triolischen Staccato-Achteln über Triller bis hin zu rasant in die Höhe schießenden oder vom Diskant in die Tiefe des Basses stürzenden Sechzehntel-Ketten. Und dies alles in einer das klangliche Schrecknis noch maßgeblich potenzierenden atonal-dissonanten Harmonisierung.
Dabei bleibt die melodische Linie, und das macht die Liedmusik so tief beeindruckend, durchweg wortbezogen, ergeht sich also nicht in vordergründiger klanglicher Expressivität. Bei den Worten „der Wind des Untergangs beginnt, uns zu umsausen“ geht sie nach einem anfänglichen syllabisch exakten Auf und Ab mit einem Sprung auf dem Wort „uns“ in hohe Lage über und beschreibt dann bei dem Wort „umsausen“ eine weit gespannte, drei Takte übergreifende und in tiefe Lage abfallende Bogenbewegung, die das Klavier mit einer in hohe Diskantlage aufschießende Sechzehntelkette begleitet, der in der nachfolgenden zweitaktigen Pause für die Singstimme im Bass forte dumpfe Tremoli nachfolgen. Bei den Worten „ihr die Erde leise zittern“ verbleibt die melodische Linie, darin das Bild reflektierend, in Gestalt von kurzen Tonrepetitionen auf wechselnden tonalen Ebenen in tiefer Lage, wohingegen sie das Bild von den „weit draußen aufkommenden Wogen“ mit langen, jeweils in einen Sturz übergehenden melodischen Dehnungen aufgreift, die das Klavier nach einer wiederum aufsteigenden Sechzehntel-Kette mit fortissimo angeschlagenen und lang gehaltenen vierstimmigen Akkorden in extrem hoher Diskantlage begleitet. -
„Ballade von den Schiffen“ (IV)
In der Ruhe, mit der die Liedmusik die visionären Worte „Dort werden meine Schiffe untergehen, / zerschellt, hinweggefegt die Hoffnung“ aufgreift tritt sie in einen starken Kontrast zu ihrer vorangehenden Expressivität und wirkt gerade deshalb, angesichts der Ungeheuerlichkeit der lyrischen Aussage tief berührend. Zweimal beschreibt die melodische Linie in ruhig konstatierendem Gestus eine Fallbewegung, die, auch weil das Klavier erst noch mit einfachen lang gehaltenen bitonalen Akkorden begleitet, und dann davon ganz und gar ablässt, die Anmutung von abgrundtiefen Fatalismus aufweist. Nur kurz verschafft sich die Verzweiflung des lyrischen Ichs noch einmal Ausdruck: In dem von zwei langen Pausen isolierten und vom Klavier mit einem dissonanten Sforzato-Akkordsprung kommentierten melodischen Nonensprung auf dem Wort „zerschellt“.
Danach aber, nach einer nur eineinhalbtaktigen, vom Klavier mit einem Sechzehntel-Bogen ausgefüllten Pause, ereignet sich Wunderliches. Mit den Worten „mein Glaube sinkt hinab ins tiefe Meer“ geht die Liedmusik zu einem Gestus über, der wie ein leichtfüßiger Schreittanz daherkommt. Und die Vortragsanweisung lautet auch prompt „Meno mosso (Andantino)“. Die melodische Linie setzt mit einer rhythmisierten, weil aus der Folge von einem punktierten Viertel und einem Achtel pro Takt bestehenden Anstieg ein, steigt im mittlere Lage empor und senkt sich danach zur Dehnung auf einem „Es in tiefer Lage auf dem Wort „Meer“ ab. Dieser deklamatorische Schwerpunkt auf dem ersten Schlag des Zweivierteltakts wird vom Klavier mitvollzogen und akzentuiert, indem es hier einen arpeggierten Akkord erklingen lässt, dem dann zwei – oder auch ein - Staccato-Achtel nachfolgen.
Und das ergibt dann diesen pointierten, aber beschwingt wirkenden Schreitrhythmus, der angesichts der Aussage, die der Liedmusik zugrunde liegt, geradezu kurios anmutet. Bei den Worten „Jetzt lächeln alle meine Freunde…“ geht die melodische Linie zwar in eine kurzschrittige Anstiegsbewegung über und das Klavier begleitet nun mit einem Staccato Achtel auf dem ersten und einem Viertelakkord auf dem zweiten Schlag. Und wenn auf diese Weise diese Rhythmisierung nun in ihrer markanten Ausprägung etwas abgeschwächt ist, so bleibt sie doch weiterhin prägend.
Man kann das nicht anders verstehen, denn als Ausdruck eines geradezu zynischen Sarkasmus, der über das lyrische Ich angesichts der absoluten Hoffnungslosigkeit seiner existenziellen Situation gekommen ist. Und die Liedmusik, die auf den Worten „daß ich ein Narr bin“ wirkt wie eine Bestätigung dieser Interpretation des Schlussteils des Liedes. Aus einer Kombination aus Sekund-und Terzfall geht die melodische Linie „poco rit“ zu einem verminderten Septsprung über, so dass das Wort „Narr“ in hoher Lage deklamiert wird, und danach vollzieht sie „a tempo“ in einen Sextfall hin zu dem Wort „bin“. Das Klavier begleitet das mit einer Folge von vierstimmigen Akkorden in hoher Diskantlage, die am Ende einen Fall beschreibt.
Die doppelte Fallbewegung auf den Worten „Meine Feinde haben längst schon andere Opfer“ wirkt, weil sie in der ruhigen Abfolge von deklamatorischen Schritten im Wert von Viertelnoten erfolgt und am Ende in eine vierfache Tonrepetition in tiefer Lage mündet, wie eine tief resignative Feststellung. Und was sich liedmusikalisch danach auf den Worten „Im Wind verwirbelt flüchtig meine schwache Spur ereignet, lässt dieses lyrische Ich endgültig zu einem Wesen werden, das sich aufgegeben hat: Die Singstimme deklamiert diese Worte pianissimo, „vivace, flüchtig“ auf einem langsam in der tonalen Ebene absenkenden Auf und Ab der melodischen Linie, und das ohne jegliche Begleitung durch das Klavier. Dieses hat im siebentaktigen Nachspiel nur noch eine Folge von länger gehaltenen und sich ebenfalls in der tonalen Ebene absenkenden dissonanten Akkorden beizutragen. -
Lied 5: „Heimatgefühl“
Und ob mein Leben auch eingegraben sei wie ein Höllenfluß
in die glatte Landschaft des Verdrusses
und hinfließe trüb und leise an Tagen der Trauer
oder stürmisch in unnützer Auflehnung
und mein Wohnort eingesenkt in die quälenden Nesseln verächtlicher Plagen:
so ist es doch immer mein Wald,
durch den ich an fieberglühend heißem Herbsttag hinirre,
das bunte Laub vom Busche streifend,
so ist es doch immer meine Stadt,
in der ich´s dulden muß,
wenn ich am Morgen, schlaflos liegend,
die ersten Pferde müde trappeln höre über das nachtweite Pflaster,
dieweil ganz fern die Morgenzüge pfeifen, die die Stadt in unbekannten Richtungen
verlassen.
Dieses Lied wurde in die Betrachtungen einbezogen, weil es nicht nur vom Gehalt des lyrischen Textes her repräsentativ für die kompositorische Aussage-Intention des ganzen Zyklus ist, sondern auch deshalb, weil es Einblick in die Art und Weise vermittelt, mit welchen liedkompositorischen Mitteln Krenek dabei arbeitet. Beruhten die beiden vorangehend besprochenen Lieder in dominanter Weise auf dem Arbeiten mit einer in ihrer deklamatorischen Anlage stark rhetorisch-wortbezogen ausgerichteten Melodik, die in ihrer Harmonisierung das Ausdruckspotential von Tonalität und Atonalität zugleich nutzt, so ist es hier, und das stellt eben eine Bereicherung des kompositorischen Instrumentariums dar, das Arbeiten mit der Dodekaphonie.
Auf den beiden ersten Versen liegt eine Zwölftonreihe, die am Ende des Liedes wiederkehrt. Daneben gibt es aber eine zweite Reihe, nämlich auf den Worten „und hinfließe trüb und leise an Tagen der Trauer“, dem dritten Vers also. Krenek ist jedoch, und das ist typisch für seine künstlerisch-kompositorischer Grundhaltung, kein Pedant in der Handhabung und Anwendung der Dodekaphonie. Er nutzt sie als liedkompositorisches Ausdrucksmittel, ohne sich allerdings ausschließlich darauf zu beschränken. So finden sich in diesem Lied viele Passagen, in denen die Melodik nicht aus der Substanz dieser beiden Reihen gebildet ist.
Das hat seinen guten Sinn, und es lässt die kompositorische Größe des Liedes erkennen. Das lyrische Ich erfährt sein eigenes Leben als „eingegraben“ in die „glatte Landschaft des Verdrusses“, hin und her treibend zwischen „Trauer“ und „unnützer Auflehnung“ und von „quälenden Nesseln verächtlicher Plagen“ gepeinigt. Aber da gibt es doch noch die tröstliche Erfahrung von „Heimat“, den Wald, durch den man, Blätter abstreifend, „hinirren“ kann, und die Stadt, deren morgendliche Geräusche nach schlafloser Nacht zwar Duldsamkeit erfordern, gleichwohl aber in ihrer Vertrautheit aber das Gefühl von Zuhause-Sein und kleiner Heimat vermitteln können. -
„Heimatgefühl“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Dieses Nebeneinander von leidvoller existenzieller Entfremdung und der tröstlichen Erfahrung von Heimat schlägt sich in der Faktur des Liedes in einem Nebeneinander von klanglich schroffer, das Ausdruckspotential der Dodekaphonie nutzender Atonalität und sporadischen, wie aus der Ferne kommenden Anklängen an die Liedmusik des traditionellen romantischen Klavierliedes nieder, das dem Lied seinen ihm ganz eigenen Reiz verleiht. Aber es setzt tatsächlich mit hochgradig expressiver Schroffheit ein. In eine den ganzen Takt ausfüllende tiefe Fis-Oktave im Klavierbass fällt die Singstimme mit einem forte deklamierten Anstieg der melodischen Linie in drei Schritten über das Intervall einer None ein. Das geschieht auf den Worten „und ob mein Leben“. Das Klavier begleitet das „agitato“ ebenfalls mit einem Anstieg von Staccato-Vierteln, die dann in einen lang gehaltenen dissonanten Akkord übergehen. Nach einem Sprung in gewichtigen Halbnotenschritten zu einem hohen „F“ bei den Worten geht die melodische Linie dann bei den Worten „eingegraben sei“ in einen rapiden Fall in vier deklamatorischen Schritten über das Intervall einer Undezime bis hinunter zu einem tiefen „ces“ über.
Da sich dies auf der Grundlage eines Dreihalbe-Taktes unter der Vortragsanweisung „Allegro appassionato“ in rasch aufeinanderfolgenden deklamatorischen Schritten ereignet und atonal harmonisiert ist mutet dieser Liedanfang wie ein klanglich schriller explosiver Ausbruch an, und meint darin ein lyrisches Ich zu vernehmen, das seine Seelenqualen regelrecht herausschreit. Die halbtaktige Pause vor der Fortsetzung der melodischen Linie auf den Worten „wie ein Höllenfluß“ kommt kaum zur Geltung. Zwar senkt sich die melodische Linie mit einem Septfall auf dem Wort „Höllenfluß“ erst einmal in tiefe Lage ab, bei den nachfolgenden Worten „in die glatte Landschaft des Verdrusses“ geht sie aber wieder in einen Anstieg über, der in einen verminderten Quartfall auf dem Wort „Verdrusses“ mündet, den das Klavier mit einem lang gehaltenen Akkord aus den Tönen Fis-H-Fis begleitet.
Das war die erste Zwölftonreihe. Die zweite auf den Worten „und hinfließe trüb und leise an Tagen der Trauer“ entfaltet sich, da sie fast ausschließlich in Gestalt Schritten im Wert von halben Noten deklamiert wird, in etwas ruhigerer Bewegung. Es ist freilich die eines lang gestreckten, mit einem Quintsprung einsetzenden Falls über das Intervall einer Dezime, endend in einer Tonrepetition in der tiefen Lage eine „D“ in tiefer Lage, und ihr wohnt die klangliche Anmutung von Schmerzlichkeit inne, die das Klavier noch dadurch verstärkt, dass es im Diskant permanente Fallbewegungen von Vierteln erklingen lässt, denen im Bass jeweils gegenläufig ein Auf und Ab von Vierteln zugeordnet ist.
Auf den Worten „oder stürmisch in unnützer Auflehnung“ liegt eine eigene, von ganztaktigen Pausen in eine exponierte Position gebrachte Melodiezeile, die eine hohe Expressivität aufweist, weil sich die melodische Linie in markanter (halbe und Viertelnoten) Deklamation unter Einbeziehung von Tonrepetitionen regelrecht aufbäumt und nach der Aufgipfelung auf der ersten Silbe des Wortes „unnützer“ in einen mehrschrittigen Sturz über das große Intervall einer Dezime übergeht. Das Klavier begleitet, und das lässt diese melodische Bewegung so markant-gewichtig werden, jeden deklamatorischen Schritt „energico“ mit einem eigenen zwei- bis sechsstimmigen Akkord und vollzieht auch die Fallbewegung am Ende in dieser Weise in Gestalt von Oktaven mit.
Bei den nachfolgenden Worten „und mein Wohnort eingesenkt in die quälenden Nesseln verächtlicher Plagen“ lässt die Liedmusik zwar ein wenig von dieser hochgradigen Expressivität ab und die melodische Linie geht zu etwas ruhigerer Bewegung über. Aber es gilt die Vortragsanweisung „tranquillo, ma in tempo“, und in der Tat bleibt auch der alle bisherigen Melodiezeilen prägende Gestus stark wortorientiert sich entfaltender Expressivität erhalten. Auf den Worten „mein Wohnort eingesenkt“ beschreibt die melodische Linie erneut einen Fall über ein großes Intervall (eine None), geht danach zu einer ausdrucksstarken Dehnung mit nachfolgender Tonrepetition in tiefer Lage über und beschreibt danach dein Auf und Ab in weiteren Tonrepetitionen, das schließlich bei „nächtlicher Plagen“ in einen Doppelsprung über eine Terz und eine Quarte in eine neuerliche Tonrepetition auf der tonalen Lage eines hohen „Es“ übergeht. Das Klavier begleitet das mit zum Teil lang gehaltenen atonal-dissonanten Akkorden im Diskant, aus denen sich partiell fallende Einzeltöne lösen um in weitere Akkorde überzugehen. Die lyrische Aussage findet auf diese Weise einen musikalischen Ausdruck, der die tiefe innere Betroffenheit des lyrischen Ichs von seiner existenziellen Situation auf beeindruckende Weise vernehmen lässt. -
„Heimatgefühl“ (II)
Nach einem zweitaktigen Zwischenspiel, in dem das Klavier in Gestalt von fortissimo angeschlagenen dissonanten Akkorden die letzten deklamatorischen Schritte einschließlich der Tonrepetition in hoher Lage noch einmal erklingen lässt, tritt die Liedmusik auf geradezu überraschende Weise in einem neuen Gestus auf. Das Klavier lässt mit einem Mal, sich radikal lösend von seinen bisherigen atonal-dissonanten akkordischen Figuren, in Diskant und Bass ein über viele Takte auf konstanter tonaler Ebene verbleibendes Auf und Ab von Achteln über das Intervall einer Terz erklingen, - eine geradezu klassisch anmutende Figur der Begleitung der Singstimme im traditionellen Klavierlied.
Und auch diese trägt nun auf den Worten „so ist es doch immer mein Wald,/ durch den ich an fieberglühend heißem Herbsttag hinirre“ eine melodische Linie vor, die sich in auffällig kontrastiver Weise abhebt von dem schroff-deklamatorischen Gestus des vorabgehenden Abschnitts der Liedmusik. Nun ist ihr Gestus der einer in Ruhe sich entfaltenden und deklamatorisch gebundenen Bewegung, die dazu neigt in engerem tonalem Raum zu verbeiben, sich längeren Dehnungen zu überlassen und einen Fall über ein größeres Intervall, wenn er denn auf Gründen der Expressivität erforderlich sein sollte, grundsätzlich legato zu vollziehen. So liegt auf den Worten „immer mein Wald erst ein dreischrittiger Legato-Quartfall, und diesem folgt ein ausdrucksstarker und lang gedehnter, ebenfalls legato auszuführender Oktavfall nach.
Bei den Worten „so ist es doch immer meine Stadt, / in der ich´s dulden muß“ steigt die melodische Linie in steilem und flottem Anstieg von einem tiefen „E“ bis zu einem hohen „G“ empor, über eine ganze Dezime also, und fällt danach gleichsam schrittweise, weil in Gestalt eines zweimaligen Terzfalls mit Tonrepetitionen, durch die die Worte „ich´s“ und „dulden“ einen Akzent erhalten, wieder auf ein tiefes „F“ ab. Das Klavier verstärkt die Expressivität dieser Melodiezeile durch eine Folge von fortissimo angeschlagenen Akkorden. Im sechstaktigen Zwischenspiel danach geht es aber mit einem Decrescendo zu fallenden und wieder steigenden Vierteln über, die in repetierend piano angeschlagene bitonale Akkorden münden, und leitet damit über zur Ruhe, die von der Liedmusik auf dem nachfolgenden Bild vom Morgen, der nach einer schlaflosen Nacht erlebt wird.
Die melodische Linie bewegt sich hier in ruhigen, gebundenen deklamatorischen Schritten, länger auf der gerade eingenommenen tonalen Ebene verbleibend und nur bei den Worten „am Morgen“ und „die müde“ eine expressive Sprungbewegung mit nachfolgender Dehnung beschreibend. Und für eine geradezu idyllisch anmutende klangliche Atmosphäre sorgt dabei das Klavier, denn es begleitet die Singstimme bis zu Ende des zweitletzten Verses mit aus Diskant-Oktavlage fallenden Achtel-Figuren aus Terz und Einzelton, und dies über permanent über einen großen tonalen Raum gleichförmig fallenden Vierteln im hohen Bass. Und auf eindrucksvolle Weise steigen diese Achtelfiguren im sechstaktigen Nach- und Zwischenspiel erst aus der Oktav- in die untere Diskantlage herab und beginnen dann, im weiteren Abstieg bis in die Basslage, wie stockend, weil durch Viertelpausen unterbrochen, sich klanglich zu verdünnen, gleichsam zu zerbröseln und schließlich zu verstummen, von einer lang gehaltenen Oktave abgelöst. Das ist eine zweifellos höchst gelungene klangliche Imagination des Bildes von dem übers „nachtweite Pflaster“ (ein ebenfalls gelungenes lyrisches Bild) sich entfernenden Pferdegetrappel. -
„Heimatgefühl“ (III)
Auf dem letzten, ungewöhnlich langen Vers liegt zwar eine ihm entsprechende große Melodiezeile, sie ist aber, um die lyrische Aussage adäquat zu erfassen, in durch eine Viertel- und eine halbe Pause untergliedert. Auf den Worten „dieweil ganz fern“ beschreibt die melodische Linie zunächst einen steilen Anstieg über eine None, geht bei den Worten „die Morgenröte“ nach einem Quartsprung in einen Sekund- und Terzfall über und hält dann bei dem Wort „pfeifen“ in Gestalt einer gedehnten Tonrepetition in mittlerer Lage erst einmal inne. Das Klavier lässt derweilen seine aus einem Achtelanstieg hervorgehenden Triller in hoher Diskantlage erklingen, mit denen es hier die Singstimme begleitet. Auf den Worten „die die Stadt“ ereignet sich nach einer Viertelpause eine kleine, aus einem Terzsprung hervorgehende Fallbewegung in mittlerer Lage, die, weil ihr eine weitere, nun noch längere Pause nachfolgt, sowohl diese Worte hervorhebt, als auch der nachfolgenden Aussage eine eigene Relevanz verleiht.
Sie bringt mit den Worten „in unbekannten Richtungen verlassen“ eine Transzendierung dieses kleinen heimatlichen Raumes des morgendlichen Bettes mit sich, und die Liedmusik bringt dies zum Ausdruck mit einem ruhigen, sich wiederholenden und in tiefer Lage enden Fall der melodischen Linie, den das Klavier im Diskant mit bitonalen Akkorden mitvollzieht. Aber damit will es seine Aufgabe nicht bewenden lassen. Im sechstaktigen Nachspiel lässt es im Diskant eine bogenförmig angelegte und in der Mitte mit einer Dehnung versehene und partiell rhythmisierte Folge von Einzeltönen erklingen, die wie eine geradezu lieblich anmutende melodische Linie bilden. Nicht ganz allerdings, denn sie ist durch die Begleitung im Bass atonal harmonisiert und mündet am Ende in einen lang gehaltenen, weil mit einer Fermate versehenen dissonant tiefen Akkord aus den Tönen „Es-D-Fis“.
Was ist das? Wie zu verstehen?
Vielleicht, dass sich das lyrische Ich aus dem engen Raum seines morgendlichen Bettes mit den pfeifend davonfahrenden Zügen imaginativ auf die Reise begibt, - eine Reise freilich, die in die Ungewissheit führt und deshalb fragwürdig ist?
Man könnte das Ende dieses Liedes mit seinem zentralen Thema „Heimat“ durchaus so verstehen. -
Lied 8: „Und Herbstlaub und Regenschauer“
Wie traurig du am Gartentore standst,
und Herbstlaub und Regenschauer
umhüllten das liebe Haupt dir.
Als du im ungewissen Dämmern die lange Straße fortgingst,
tat mir das Herz weh,
und Herbstlaub und Regenschauer.
Der Blütentag ist fern
und weit der helle See,
das lichte Rund der Berge im Sonnendunst,
und Herbstlaub und Regenschauer
sind jetzt wahr und einzig da.
O vergiß den Freund nicht,
wenn du den dunklen Weg gehst,
gedenke der kleinen Lampe,
die vergebens brennt.
Und Herbstlaub und Regenschauer.
Hier, in diesem Text des Zyklus, ist wohl der Gestus lyrischer Sprachlichkeit am stärksten ausgeprägt. Zwar ist die sprachliche Basis immer noch eine narrative, bzw. eine der wörtlichen Anrede, darüber entfalten sich aber lyrische Bilder mit einem durchaus bemerkenswerten evokativen Potential, wobei dem gleichsam als Kehrreim auftretenden Vers „Und Herbstlaub und Regenschauer“ die Funktion zukommt, den metaphorischen Rahmen für lyrischen Aussagen zu setzen. Er evoziert die existenzielle Situation, aus der heraus das lyrische Ich seine Ansprache an das Du richtet und erschließt deren emotionale Dimension. Genuin lyrisch daran ist, dass sich dieser Vers bei seinem viermaligen Auftreten zwei Mal, im zweiten und im letzten Fall nämlich, semantisch unvermittelt und nur mit der Konjunktion „und“ eingeleitet, in die textliche Aussage hineindrängt.
Dass sich die Liedmusik auf diesen Text in ihrem klanglichen Grundcharakter in eine gewisse Distanz zu den übrigen Liedern des Zyklus begibt und die Nähe zum traditionellen Klavierlied sucht, bis hin zu den Anklängen an die Melodik von Johannes Brahms, ist angesichts der engen Anbindung der Musik an die sprachliche Struktur und die Semantik des lyrischen Textes, wie Ernst Krenek sie anstrebt, nicht weiter bemerkenswert. Die zentrale Frage ist freilich, in welchem Umfang, in welcher Gestalt und mit welchen Mitteln die Liedmusik das evokative Potential der lyrischen Bilder aufgreift und in Klanglichkeit umsetzt, wobei dem Kehrreim-Vers besondere Aufmerksamkeit zu widmen ist. -
„Und Herbstlaub und Regenschauer“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Die Liedmusik, für die die Vortragsanweisung „Andante affettuoso (eher langsam)“ gilt, setzt mit einem zweitaktigen Vorspiel ein, das an sich schon klanglich vielsagend ist: Von der wellenartig ansteigenden, fallenden und erneut sich erhebenden und dabei einmal durch eine Punktierung rhythmisierten Folge von atonal-dissonanten Achtel-Akkorden im Diskant, der eine gegenläufige Folge von Achteln im Bass zugeordnet ist, geht die Anmutung von schmerzlicher Wehmut aus. Und es stellt sich alsbald heraus, dass einem darin, also gleich am Anfang, der Geist der ganzen Liedmusik begegnet. Nicht nur dass die Singstimme anschließend auf den Worten „Wie traurig du am Gartentore standst“ diese Bewegung der Akkorde im Diskant des Vorspiels übernimmt, diese melodische Grundfigur kehrt in verschiedenen Varianten in der nachfolgenden Liedmusik sowohl in der Melodik, wie auch im Klaviersatz immer wieder, wobei sich als ihr zentraler Aussagekern das kurze Innehalten in Gestalt einer kleinen Dehnung nach dem letzten Sekundanstieg erweist. Das Klavier macht es im Vorspiel vor, und die melodische Linie vollzieht es auf den Worten „Gartentore standst“ mit dem rhythmisierten Sekundfall, der Tonrepetition und dem in einen Viertel-Ton mündenden Achtel-Sekundanstieg in gleichsam programmatischer Weise nach.
Danach erklingt zum ersten Mal die Liedmusik auf dem Vers „und Herbstlaub und Regenschauer“. Sie ist durch eine Achtelpause in der melodischen Linie und im Klavierdiskant nach dem Wort „Herbstlaub“ in zwei Teile untergliedert, was der Tatsache Rechnung trägt, dass das Wort „und“ hier nicht die Funktion einer Konjunktion ausübt. Zwei Mal beschreibt die melodische Linie einen Sekundfall mit nachfolgender Tonrepetition in mittlerer Lage. Da auf dem „und“ jeweils ein Achtel liegt, auf der ersten Silbe des nachfolgenden Wortes aber ein deklamatorisches Viertel, hat dieser einleitende Sekundfall Auftaktcharakter und die Tonrepetition auf dem Hauptwort verleiht dessen semantischem Gehalt dadurch ein stärkeres Gewicht. Da das Wort „Regenschauer“ um zwei Silben größer ist, liegt ein zweifacher Sekundfall auf ihm, wobei der zweite aus einem punktierten Achtel in ein Sechzehntel mündet. Und auch hier übt dies eine stark akzentuierende Wirkung aus.
Es ist die Anmutung schmerzlicher Wehmut, die von dieser zweimaligen, und im zweiten Fall intensivierten, Sekundfall-Bewegung ausgeht. Das Klavier unterstützt und steigert sie, indem es „rieselnd“ (Anweisung) eine Folge von fallenden Sechzehntel-Akkorden erklingen lässt, in die einzelne Achtel eingelagert sind. Ges-Moll dominiert hier, und die bei der Wiederholung variierte Figur soll pianissimo und „dolce“ ausgeführt werden. Danach geht die melodische Linie bei den Worten „umhüllten das liebe Haupt dir“ zu einer in unterer Mittellage ansetzende, triolisch über das Intervall einer Septe bis in hohe ansteigende Bewegung über, der wieder ein schmerzlich klingender und in eine kleine Dehnung mündender dreifacher Sekundfall nachfolgt. Und im fast zweitaktigen Zwischenspiel bestätigt das Klavier gleichsam, dass das lyrische Ich sich aus der am Anfang klanglich evozierten Situation heraus artikuliert, indem es die melodische Figur des Vorspiels und der ersten Melodiezeile erklingen lässt, nun allerdings in Gestalt von einzelnen Sechzehnteln und Achteln. -
„Und Herbstlaub und Regenschauer“ (II)
Die melodischen Bewegungen auf den Worten „Als du im ungewissen Dämmern die lange Straße fortgingst“ begegnet einem, obgleich sie eine eigene Struktur aufweist, wie ein Anklang an die Figur, die auf dem ersten Vers liegt, so als wäre diese auf ihren strukturellen Kern reduziert und in ihrem schmerzlichen Potential dadurch intensiviert, dass die bogenförmige Bewegung, wie sie die melodische Linie ja auch auf den Worten „wie traurig du am“ beschreibt, nun zweimal am Ende über einen ausdrucksstarken Sextsprung in eine Tonrepetition mündet. Und wie sehr dieses lyrische Ich von seelischem Schmerz gepeinigt ist, das lässt die Liedmusik auf den Worten „mir tat das Herz weh“ auf höchst eindrucksvolle Weise vernehmen. Die melodische Linie beschreibt einen aus einer Dehnung auf dem Wort „tat“ hervorgehenden Sekundanstieg, geht danach in eine erneut gedehnte Fallbewegung auf dem Wort „Herz“ über und vollzieht danach auf dem Wort „weh“ eine hochexpressive, legato auszuführende Kombination aus Septsprung, Dehnung, Sekund- und Terzfall, in ihrer extrem ausgreifenden bogenförmigen Anlage eine geradezu klassische Seufzer-Klage-Figur.
Zum zweiten Mal erklingt nun die Liedmusik auf dem lyrisch-funktional so wichtigen Vers „und Herbstlaub und Regenschauer“, und die klangliche Gestalt, in der sie das hier, und auch in den beiden weiteren Fällen tut, ist überaus aufschlussreich hinsichtlich der Frage, wie sich Krenek liedkompositorisch auf den lyrischen Text einlässt.
Er tut es, so könne man generalisierend feststellen, auf eine hochgradig reflektierte Weise, und die folgenden Ausführungen zu diesem Lied sollen sich darauf konzentrieren und beschränken, dieses aufzuzeigen.
Generell gilt: In allen Fällen ist die melodische Linie auf diesen Worten die gleiche, sie weist also die gleiche Struktur auf, einschließlich der Untergliederung durch die Achtelpause, und die tonale Ebene ist ebenfalls identisch. Krenek berücksichtigt damit die Tatsache der Eigenständigkeit dieses Verses im Sinne seiner Funktion als lyrisch-evokatives Element.
Das Erstaunliche ist freilich: Die Liedmusik klingt von Fall zu Fall deutlich anders. Und hört man genau hin, dann bemerkt man, dass dies am jeweils der Melodik zugeordneten Klaviersatz liegt. Das aber bedeutet, dass Krenek mit seiner Liedmusik in den lyrischen Text ein evokatives Plus einbringt, indem er in das semantische Potential des Verses über den Klaviersatz und dessen Einwirkung auf die jeweilige Deklamation der melodischen Linie die Aussage des jeweils vorangehenden Verses einfließen lässt.
Die Wiederkehr dieses zentralen Verses in seiner jeweiligen liedmusikalischen Gestalt erweist sich unter diesem Aspekt als die zentrale Erfahrung in der Rezeption des Liedes, und es ist eine durchaus beeindruckende. Beim zweiten Auftritt ist der hochexpressiv-schmerzliche Klageruf vorausgegangen. Die Liedmusik reagiert in der Weise darauf, dass die melodische Linie auf dem zentralen Vers nun „ritardando sostenuto“ vorgetragen werden soll und das Klavier mit einer Folge von klanglich trist anmutenden Oktaven und Septen begleitet, aus denen sich einzelne Töne lösen und schließlich im zweitaktigen Nach- und Zwischenspiel in ein Staccato übergehen, das in repetitiver Gestalt die deklamatorischen Schritte auf dem Wort „Regenschauer“ wiederholt. -
„Und Herbstlaub und Regenschauer“ (III)
Bei seinem dritten Auftritt ereignet sich Bemerkenswertes: Der zentrale Vers wird als liedmusikalisch integraler Bestandteil ganz und gar in die eine Einheit bildende Melodik auf den Versen sieben („der Blütentag ist fern“) bis elf („sind jetzt wahr und einzig da“) einbezogen. Das ist von der Struktur des lyrischen Textes her zwar regelrecht gefordert, gleichwohl, und das ist eben das Bemerkenswerte, vermag er darin nicht nur sein ihm eigenes liedmusikalisches Potential zu wahren, sondern es auch im Sinne einer Bereicherung der Aussage dieser Versgruppe zur Geltung zu bringen.
Es ist ja eine kontrastive Funktion, die ihm hier zukommt. Auf den Worten „Der Blütentag ist fern / und weit der helle See, / das lichte Rund der Berge im Sonnendunst“ beschreibt die melodische Linie, die hier „mit Wärme und Steigerung“ vorzutragen ist, eine sich in dreimaligem, auf der tonalen Ebene sich anhebenden bogenförmigem Anlauf in hohe Lage steigernde Bewegung, die das Klavier in Gestalt von Akkorden im Diskant mitvollzieht und von der die Anmutung flüchtiger Lieblichkeit ausgeht, dies auch deshalb, weil die Harmonisierung bei all ihrer Atonalität die Dissonanz meidet.
Die Melodik auf dem zentralen Vers geht nun in diesem Fall deklamatorisch gebunden aus der melodischen Figur hervor, die auf dem Wort „Sonnendunst“ liegt, einer Kombination aus Quartfall und –sprung, und sie setzt sich auch fugenlos in der melodischen Linie auf den Worten „sind jetzt wahr und einzig da“ fort, dergestalt, dass auf die Tonrepetitionen am Ende zwei weitere, um eine Sekunde abgesenkte nachfolgen und sich auf dem Wort „wahr danach ein hoch ausgreifender und weit gespannter melodischer Bogen entfaltet. Man empfindet ihn in seiner Aussage wie eine Bestätigung und Bekräftigung der beiden Bögen, mit denen das Klavier in Bass und Diskant dieses Mal die melodische Linie des zentralen Verses begleitet und ihr durch die stark ausgeprägte Chromatik, die von ihrem Zusammenspiel ausgeht, einen hohen Grad an klanglicher Schmerzlichkeit verleiht.
Mit den Worten „O vergiß den Freund nicht“ knüpft die Liedmusik wieder an die melodische Figur ihres Anfangs an. Schon das Zwischenspiel tut das, indem es das Vorspiel in variierter und verkürzter Form wiederholt. Und dann ereignet sich klanglich hoch Beeindruckendes. Bei den Worten „gedenke der kleinen Lampe,/ die vergebens brennt“ senkt sich die melodische Linie aus einer Bogenbewegung in mittlerer Lage in die Tiefe ab, beschreibt bei dem Wort Lampe dort einen gedehnten Sekundanstieg, der sich nach einen Tonrepetition zwar fortsetzen will, aber bei dem Wort „vergebens“ erst verharrt, danach wieder in einen Terzfall übergeht, der zwar bei dem Wort „brennt“ wieder zurückgenommen wird, aber dadurch, dass die melodische Linie hier in ihrer Bewegung in Gestalt einer kleinen Dehnung innehält, so wirkt, als sei sie erschöpft, könne und wolle nicht mehr weiter,
Das Klavier hat schon vom Anfang an diese letzte Melodiezeile mit Sechzehntel-Figuren begleitet, die in einem staccato ausgeführten Auf und Ab in extrem hohe Diskantlage aufsteigen, dort im dreifachen Piano verharren und sich nach dem Ausklingen der melodischen Linie langsam, über sieben Takte sich erstreckend in extrem tiefe Basslage absinken und im letzten Takt in ein „pppp“ angeschlagenes abgrundtief einsames „Es“ münden, dem ein in extrem hoher Diskantlage erklingender bitonaler Akkord aus den Tönen „As“ und „C“ nachfolgt. Und in diese wie endlos wirkende Fallbewegung schmiegt sich sanft die Melodik des zentralen Verses ein, und sie scheint hier endgültig zu sich selbst und ihrem klanglichen Wesen zu kommen: Dem einer schmerzlichen Wehmut, in der sich eigentlich Trauer verbirgt. -
Lied 9: „Vor dem Tod“
Immer leiser verrinnst du, geliebtes Leben,
immer tiefer verzitterst in die unergründliche Höhle des Schlafs,
in den Abgrund gleichgültiger Natur,
und weißt den Schmerz nicht mehr, den du uns zufügst.
Nur ein Traumgetön abgetaner Höhn ist dir unser Ruf,
denn immer schwächere Antwort
kommt aus dem Schattental deines Schlafs.
Schon ist geheimnisvoll anders die vielfach zermürbte Hülle,
verwandelndes Licht vernebelt die einsame Kerze,
ängstlicher tickt auf dem Tisch der wachende Wecker,
trauriger tropft durch die weinende Wand
Musik ferne gespielten Klaviers.
Weiß und schnell
fliegt durch hohe Wolken der kalte Mond,
bitteres Zeichen hinfliehender Erdenzeit
und sehr fernen Gnade des anderen Reichs.
Dieses Lied bildet mit dem letzten zusammen eine thematische und liedmusikalische Einheit, die nicht nur dadurch eine Sonderstellung in diesem Zyklus einnimmt, sondern auch deshalb, weil Krenek zwischen beide Lieder ein siebenundsechzig Takte umfassendes Stück für Klavier solo einschoben hat, das den Titel „Der Augenblick“ trägt. Dazu merkt er im Notentext an: „Die Aufführung des Stückes >Der Augenblick< ist obligatorisch, wenn der ganze Zyklus aufgeführt wird. In diesem Fall werden die letzten zwei Takte des neunten Liedes (Vor dem Tod) nicht gespielt.“ Obligatorisch muss „Der Augenblick“ von der kompositorischen Aussage-Absicht her sein, die dem neunten und dem zehnten Lied zugrunde liegt. Krenek setzt sich mit dem Thema „Tod“ auseinander, und dies als Imagination eines personalen situativen Erlebnisses. Dem folgt im letzten Lied, das den Titel „Der Genuß des Unendlichen“ trägt, der Phantasie-Entwurf einer personalen Existenz in einer Sphäre, die als „Raum des Unverwelklichen“ bezeichnet wird.
Das Stück für Klavier solo stellt eine Art musikalisches Bindeglied dar, indem es melodische Motive aus dem neunten Lied aufgreift und sie in permanenter Variation und Anreicherung mit neuen Motiven zur Liedmusik des zehnten und letzten Liedes überleitet. Aber nicht nur Motive aus dem neunten Lied vernimmt man darin, sondern eine ganze Reihe von musikalischen Fragmenten aus den vorangegangenen Liedern, so dass man durchaus davon ausgehen kann, dass hier eine Art Bilanz des vergangenen Lebens gezogen und der Weg hinüber in ein anderes bereitet wird.
Bei der Betrachtung dieses Liedes soll besonderes Augenmerk darauf gelegt werden, welche kompositorischen Mittel Krenek einsetzt, um den offensichtlich hohen Grad an personaler Betroffenheit von den hier aufgeworfenen existenziellen Fragen und Problemen liedmusikalisch zum Ausdruck zu bringen. Denn insbesondere dieser lyrische Text lässt, mehr als dies in den anderen Texten des Zyklus der Fall ist, in den Aussagen seiner Verse und den zugehörigen Bildern auf durchaus beeindruckende Weise vernehmen, dass sich sein Autor mit fundamentalen Fragen seiner Existenz auseinandersetzt und um eine Antwort darauf regelrecht ringt. So vermögen die ersten Verse die Erfahrung der Vergänglichkeit des Lebens im Angesicht eines imaginierten bevorstehenden Todes auf lyrisch eindringliche Weise nahe zu bringen. Und die Liedmusik lässt dies mit ihren Mitteln in einer Weise erfahrbar und nachvollziehbar werden, die durchaus anzurühren vermag. -
„Vor dem Tod“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Schon das bittere Chroma, das die fallenden Akkorde im zweitaktigen Vorspiel verströmen, imaginiert, in Einheit mit der Schwere und Langsamkeit, in denen der Fall sich ereignet, klanglich nicht nur tiefe existenzielle Müdigkeit, sondern darüber hinaus auch das Berührt-Werden von der Nähe des Todes. Und die melodische Linie der Singstimme auf den ersten sieben Versen, also beinahe der ersten Hälfte des lyrischen Textes, greift dies auf, setzt es fort, intensiviert und vertieft es auf höchst beeindruckende Weise. Ein schleppend und müde anmutender Gestus ist ihr eigen, weil sie sich in der Aufeinanderfolge von deklamatorischen Achtel- und Sechzehntel-Schritten durchweg in tiefer Lage bewegt, von dort zwar in mittlere aufzusteigen und in Tonrepetitionen sich zu behaupten versucht, danach aber immer wieder zurückfällt, so bei dem gedehnten Sekundfall auf dem Wort „Leben“ und dem Quintfall mit nachfolgender Absenkung über eine kleine Sekunde auf den Worten „Höhle des Schlafs“. Der Eindruck von Schwere, die dabei auf den deklamatorischen Schritten zu lasten scheint, wird durch das Klavier dadurch hervorgehoben und verstärkt, dass es die Singstimme permanent mit Paaren von Achtel-Akkorden begleitet, die durch Sechzehntelpausen getrennt aufeinanderfolgen. Und das alles in atonal-dissonanter Harmonisierung und unter der ausdrücklichen Vortragsanweisung „sehr langsam“ („Adagio molto“).
Gleichwohl weist die Musik nicht nur in diesem ersten Teil des Liedes, sondern durchweg eine untergründige Unruhe auf, die dadurch zustande kommt, dass der zugrundliegende Takt mehrfach zwischen sechs, fünf, vier und einmal sogar zwei Achteln schwankt und häufig wechselnde Tempoanweisungen erfolgen. Dieses lyrische Ich erfährt in der imaginierten Begegnung mit dem Tod eine tiefe existenzielle Erschütterung, und so kommt es denn, dass sich mehrfach ein Ausbruch aus dem lethargisch-müden Gestus der melodischen Linie ereignet.
Das erste Mal geschieht dies bei den Worten „und weißt den Schmerz nicht mehr, den du uns zufügst“. Die melodische Linie beschreibt hier „poco string.“ und „forte“ eine in hohe Lage ausgreifende Bogenbewegung und geht danach zweimal in ein Auf und Ab von deklamatorischen Sechzehntel-Schritten über, beim zweiten Mal (bei „zufügst“) in Gestalt eines regelrechten Sturzes über eine Septe zu einem tiefen „H“ mit Tonrepetition und Sekundanstieg daselbst. Aber mit den Worten „Nur ein Traumgetön abgetaner Höhn ist dir unser Ruf“ kehrt die melodische Linie wieder zu ihrem so bedrückend müde wirkenden Gestus zurück, und die nachfolgenden leichten Aufgipfelungen bei den Worten „unser Ruf“, „schwächere Antwort“ und „dem Schattental“ wirken kraftlos, verbleiben in mittlerer Lage und werden einmal sogar, nämlich bei der Dehnung auf einem „B“ in mittlerer Lage bei dem Wort „Ruf“ mit der Anweisung versehen „nicht atmen“.
Was dieses Lied auch so beeindruckend, ja anrührend macht, das ist die liedmusikalische Evokation der Situation, wie sie der lyrische Text von Vers neun an skizziert („verwandelndes Licht vernebelt die einsame Kerze…“). Auf dem Wort „vernebelt“ liegt eine Dehnung in mittlerer Lage, die aber auf der letzten Silbe des Wortes in einen Terzfall übergeht, dem als Teil einer triolischen Bewegung ein expressiver Oktavfall nachfolgt, aus dem sich dann die melodische Linie bei den Worten „die einsame Kerze“ in hohe Lage aufschwingt, um dort in einer Tonrepetition zu verharren. Bei den Worten „ängstlicher tickt auf dem Tisch der wachende Wecker“ geht die melodische Line „poco vivo“ zu unruhiger, geradezu stockender Deklamation in gesteigertem Tempo über. Die ganze Liedmusik ist in kleine Partikel zerstückt, als sei das Ticken des Weckers in sie übergegangen: Die Melodik in fünf kleine, jeweils von Sechzehntelpausen abgehobene Mini-Zeilen, wobei eine nur aus einem einzigen Ton auf dem Wort „tickt“ besteht, und der Klaviersatz aus einer ebenfalls permanent von Pausen unterbrochenen Folge von fallend und springend angelegten Sechzehntel-Figuren. -
„Vor dem Tod“ (II)
Eine in zwei Anläufen fortissimo in extrem hohe Diskantlage aufschießende Zweiunddreißigstel-Kette folgt als Zwischenspiel nach, Ausdruck der tiefen Verstörung, die das Ich in dieser Situation ergriffen hat. Und wenn mit den Worten „trauriger tropft durch die weinende Wand / Musik ferne gespielten Klaviers“ Anklänge erfüllten Lebens wie aus einer fernen Welt in die des Todes hereintropfen, dann bringt das die melodische Linie – nun wieder „a tempo (Adagio)“- mit einer ruhig über einen weiten Raum fallenden und immer wieder kurz in Dehnungen und triolisch-gedehnten Bögen und Fallbewegung wie müde innehaltenden Bewegung zum Ausdruck, die am Ende, bei den Worten „ferne gespielten Klaviers“ in eine „ritardando molto“ auszuführende und in tiefe Lage führende Sechzehntel-Fallbewegung übergeht, aus der sie sich wie mit einem angestrengt anmutenden Septsprung zu erheben versucht. Aber sie kommt nicht weiter, hält in einer kleinen Dehnung inne, und das Klavier nutzt die Pause von zwei Takten, um allerlei Quinten-Figuren, triolische Sechzehntel-Fallbewegungen und Oktaven im Diskant und repetierende Quarten im Bass erklingen zu lassen.
Das Bild vom „kalten Mond“ lässt am Ende den Tod nahen. Es wird vom lyrischen Ich als „bitteres Zeichen hinfliehender Erdenzeit“, aber auch als eines der „Gnade eines anderen Reiches“ erfahren und erlebt, diese freilich als „sehr ferne“ Hoffnung. Und diese Ambivalenz der situativen Erfahrung bringt die Liedmusik ihrerseits mit einer beeindruckenden Ambivalenz ihrer klanglichen Entfaltung zum Ausdruck. Die sich triolisch in hohe Lage aufschwingende, wieder fallende und in einem Septsprung beim Wort „Mond“ endende melodische Linie begleitet das Klavier mit einer klanglich kalt wirkenden, weil sich in mechanischem Ablauf in Diskant-Oktavlage ergehenden Folge von Figuren aus Achtel-Oktaven mit nachfolgendem Sechzehntelfall.
Und dann folgt der hochexpressive melodische Fall auf den Worten „bitteres Zeichen“. Schon vorher hat das Klavier zur Artikulation einer geradezu gigantischen, weil in der Diskant-Oktavlage ansetzenden und sich beim Einsatz der melodischen Linie fortsetzenden und bis in den tiefen Bass führenden Fallbewegung von Sechzehnteln angesetzt. Auch die melodische Linie beschreibt einen Fall, ebenfalls in hoher Lage ansetzend, diesen dann aber in triolischen Schritten und „ritardando molto“ vollziehend und am Ende in einen verminderten Quartfall mündend, bei dem das Metrum zu zwei Achteln absinkt.
Das lyrische Ich ist vom Tod berührt. Aber da ist ja auch noch die Hoffnung auf die „Gnade des anderen Reichs“. Bei den Worten „hinfliehender Erdenzeit und sehr ferner Gnade des anderen Reichs“ senkt sich die melodische Linie, als wolle sie den vorangehenden Fall auf „bitteres Zeichen“ weiter fortsetzen bis in die Lage eines tiefen „C“ ab, beschreibt dort einen kleinen Bogen im Intervall einer Terz, kehrt aber danach wieder in die Ausgangslage zurück. Das Klavier begleitet nun wieder mit den durch Sechzehntelpausen unterbrochenen Folgen von je zwei Achtel-Akkorden, wie es das am Liedanfang tat. Danach ereignet sich aber Bemerkenswertes. Nach einer neuerlichen, nun aber höher ausgreifenden Bogenbewegung geht die melodische Linie zu einem Aufstieg über, überlässt sich auf der ersten Silbe des Wortes „anderen“ einer dieses akzentuierenden Dehnung und beschreibt dann, nach einem Fall in tiefe Lage auf den beiden anderen Silben, einen Oktavsprung in hohe Lage zu dem Wort „Reich“ hin und verharrt dort in einer das Lied beschließenden Dehnung.
Das Klavier hat hier von seinen Doppelakkorden abgelassen und begleitet die melodische Linie „dolce“ mit einer ansteigenden Folge von bitonalen und dreistimmigen Akkorden, die, wie sie terzenbetont und nicht dissonant angelegt sind, der Liedmusik einen ganz leichten Anflug von Lieblichkeit verleihen. Und der letzte Akkord dieser Folge gehört tatsächlich der Tonart G-Dur zu.
Nach einer nur kurzen Pause folgen freilich wieder die schweren dissonanten Doppel-Achtel-Akkorde nach, dieses Mal fallend angelegt und in tiefer Lage angeschlagen. Sie leiten über zu dem mit dem Titel „Der Augenblick“ versehenen Teil des Zyklus für Klavier solo. Er setzt mit diesen dumpf-dunklen Doppel-Akkorden ein, in die alsbald wie irrlichternd fallende Zweiunddreißigstel-Triolen im Diskant einfallen.