Hugo Wolf. Die Lieder auf Texte von Heinrich Heine

  • „Wo wird einst“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Gewiss, die Melodik des Liedes ist mit einer Diskant und Bass oft übergreifenden akkordischen Begleitung versehen, und sie entfaltet sich sogar zumeist in deklamatorisch synchroner Bindung an diese. Das aber hat einen guten, in der kompositorischen Interpretation des Heine-Textes wurzelnden Grund. Und das gilt auch für die Struktur der melodischen Linie selbst.
    Die spezifische klangliche Anmutung, die ihr eigen ist und die Honolka als „Mattigkeit“ kritisch qualifiziert, ist – aus meiner Sicht – höchst treffendender liedmusikalischer Niederschlag der von Hugo Wolf voll und ganz erfassten Haltung eines sein Lebensende reflektierenden lyrischen Ichs. Und das ist nun einmal die tiefer resignativer und müder existenzieller Mattigkeit, die der große Lyriker Heine mit einem einzigen, wie beiläufig auftretenden Wort zum Ausdruck zu bringen vermag: Dem die letzte Strophe einleitenden „immerhin“

    Ohne Vorspiel setzt die Liedmusik ein. Ein Viervierteltakt liegt ihr zugrunde, als Grundtonart ist – allerdings nur für die beiden ersten Strophen – F-Dur vorgegeben, und sie soll „langsam“ vorgetragen werden. Eine eigenartige Anmutung von Müdigkeit, ja geradezu Starre geht von ihr in diesen beiden Strophen aus. Das gründet vor allem in der spezifischen Eigenart der Melodik, ihrer Struktur, ihrer Binnengliederung und Harmonisierung, aber auch in der Anlage des Klaviersatzes. Je zwei Verse sind in einer Melodiezeile zusammengefasst, und nicht nur, dass alle Zeilen in einer mit einer Fermate versehenen Dehnung enden, die Pausen, die ihnen nachfolgen, tragen ebenfalls eine Fermate.

    Das allein schon generiert diesen Eindruck von Mattigkeit und Starre, aber es ist auch die jeweilige Struktur der melodischen Linie selbst, die dafür verantwortlich ist. Der ruhige, weil im Wert von Viertelnoten erfolgende und den Sprung-Gestus meidende deklamatorische Schritt herrscht vor. Achtelfiguren gibt es zwar auch, sie treten aber nur dort auf, wo die Struktur des lyrischen Textes eine solche kurzschrittige Deklamation erfordert oder seine Aussage eine Akzentuierung erfahren muss. Und was schließlich als die Melodik in ihrer spezifischen klanglichen Anmutung stark prägender Faktor hinzukommt, ist die Tatsache, dass das Klavier mit nur wenigen Ausnahmen jedem deklamatorischen Schritt mit in Bass und Diskant synchronen zwei- bis vierstimmigen Akkorden folgt oder zumindest mit Einzeltönen bei den melodischen Achtel-Figuren.

    Durch alle diese kompositorischen Faktoren wird der Melodik in allen Schritten ihrer Entfaltung nicht nur ein starkes Gewicht, sondern darüber hinaus die Anmutung von Schwere verliehen. Da ihr überdies in allen Zeilen die Tendenz zum Fall innewohnt, die nur vorübergehend dadurch unterdrückt und aufgehalten wird, dass sie den lyrisch-sprachlichen Frage-Gestus reflektieren muss, und sie in ihren Harmonisierung schließlich immer wieder vom Tongeschlecht Dur ins Moll absinkt, lässt sie auf geradezu überdeutliche Weise vernehmen, dass sich hier ein lyrisches Ich äußert, das sich, so wie Hugo Wolf es in der Rezeption des Heine-Textes aufgefasst und verstanden hat, drängenden, hochrelevanten, weil das Ende der Existenz berührenden Fragen ausgesetzt sieht und dabei, weil es keine Hoffnung auf Antwort gibt, in tiefe Mattigkeit und Resignation verfällt.

    Auch wenn der Melodik eine Grundtendenz zum ruhigen Fall innewohnt, sie wird davon keineswegs durchgehend beherrscht. Nicht nur in der dritten Strophe zeigt sich das sehr deutlich, denn da löst sie sich nach der einleitenden Fallbewegung auf dem ersten Vers in den nachfolgenden Zeilen ganz und gar davon, auch in den beiden ersten Strophen beschreibt sie immer wieder einmal aufwärts gerichtete Bewegungen, ohne freilich dabei ihren deklamatorischen Gestus der ruhigen Entfaltung zu verlassen. Sie muss ja die Haltung des lyrischen Ichs in ihren einzelnen Varianten, wie sie der lyrische Text aufzeigt, zum Ausdruck bringen. Und so geht sie nach dem Sekundfall in tiefer Lage, der den semantischen Gehalt des Wortes „Wandermüden“ reflektiert und darin von einer harmonischen Rückung zur Subdominante eine Akzentuierung erfährt, bei den Worten „letzte Ruhestätte sein“ mit einem Legato-Sekundsprung in eine Anstiegsbewegung mit nachfolgendem Innehalten in einer Tonrepetition über.

    Dieser folgt zwar noch auf dem Wortteil „-stätte“ ein zweischrittiger, mit einem Legato eingeleiteter Sekundfall nach, aber der Gedanke an die „Ruhestätte“ ist ein so wichtiger und bedeutsamer, dass sich die melodische Linie von ihrer Falltendenz emanzipieren muss. Und wenn sie bei dem Wort „sein“ in einer mit einer Fermate versehenen, mit einer harmonischen Rückung zur Dominante einhergehenden Repetition auf der tonalen Ebene in tiefer Lage verharrt und überdies danach auch noch in einer Viertelpause innehält, so bringt das auf eindrückliche Weise die hohe existenzielle Relevanz der Frage zum Ausdruck, mit der dieses Lied eingeleitet wird.

    Im zweiten Verspaar der ersten Strophe gibt sich das lyrische Ich imaginativ den schönen Bildern möglicher „Ruhestätten“-Orte hin, und die melodische Linie reflektiert das dergestalt, dass sie bei den Worten „Palmen“ und „Linden“ leicht melismatisch angehauchte, weil Legato-Achtel-Sekundsprünge beinhaltende und im zweiten Fall sogar triolische Bogenbewegungen in hoher Lage beschreibt. Und hier drängt sich auch, den hohen affektiven Gehalt der lyrischen Aussage aufgreifend, das Tongeschlecht Moll in die Dur-Harmonisierung der melodischen Linie: Das Wort „Palmen“ ist in a-Moll gebettet, und der triolische und in eine lange Fermaten-Dehnung mündende Sekundanstieg auf „an dem Rhein“ ist es ebenfalls.

  • „Wo wird einst“ (II)

    Schon die „mit Affekt“ vorzutragende Melodik auf den ersten beiden Versen der zweiten Strophe weist zunächst eine gleichsam verhaltene Falltendenz auf und reflektiert in ihrer betont repetitiven Entfaltung in hoher Lage die aus großer Betroffenheit hervorgehende Eindringlichkeit der Fragen des lyrischen Ichs. Auf den Worten „in einer Wüste“ senkt sich die melodische Linie, in Rückung von c-Moll nach B-Dur harmonisiert, nur in zwei Stufen einer Sekunde in der tonalen Ebene ab, und bei „eingescharrt von“ geht sie, wiederum in c-Moll gebettet, nach einer Tobrepetition auch in einen zweischrittigen Legato-Fall über nur eine Sekunde über.

    Erst die Worte „von fremder Hand“ sind für das lyrische Ich von einer solch erschreckenden Bedeutsamkeit, dass die melodische Linie hier aus zwei anfänglichen Absenkungen über eine Sekunde in mittlerer Lage bei „Hand“ in einen regelrechten Sturz über eine Quarte zu einem – wiederum fermatierten - „C“ in tiefer Lage übergeht, wobei, wie das ja fast durchgehend in diesem Lied der Fall ist, das Klavier diesen Schritten der melodischen Linie mit Akkorden deklamatorisch synchron folgt. Und die Harmonik akzentuiert die Expressivität der Melodik am Ende der zweiten Strophe dadurch, dass sie bei „von fremder Hand“ die ungewöhnliche Rückung von einem tiefen Ges-Dur hin zur Dominante C-Dur vollzieht.

    Gleich zwei Fermaten, eine auf dem tiefen „C“ und eine auf der ihm nachfolgenden Viertelpause heben die Melodik des zweiten Verspaares der zweiten Strophe von der auf den ersten beiden Versen ab. Und das hat seinen guten Sinn, setzt der lyrische Text doch hier mit einem gleichsam alternativen „oder“ ein und hebt sich in seinem zentralen, vergleichsweise düsteren lyrischen Bild von den vorangehend um „Palmen“ und „Linden“ kreisenden Bildern recht deutlich ab. Und so setzt die melodische Linie, in düsteres ges-Moll gebettet, auf den Worten „Oder ruh' ich an der Küste“ auf einem tiefen „Es“ ein, steigt in zwei ruhigen Sekundschritten zu einem „Ges“ in mittlerer Lage auf, dort, nun in As-Dur harmonisiert, auf den Worten „ruh´ ich“ in repetitiver Weise erst einmal zu verharren. Auch wenn sie bei „an der Küste“ in einen mit einem Legato-Sekundschritt eingeleiteten Anstieg bis zu einem hohen „Des“ bei „Küste“ übergeht, schon auf diesem Wort setzt sich der Fall-Gestus in ihr durch und bewirkt, dass sie bei den Worten „eines Meeres in dem Sand“ in eine deklamatorisch silbengetreue Abwärtsbewegung in Sekundschritten über eine ganze Oktave bis hinab zu einem tiefen „Des“ übergeht, um sich freilich, weil es hier ja weiterhin um eine Frage geht, am Ende bei dem Wort „Sand“ über einen Quartsprung zu einen langen Dehnung auf einem „G“ in mittlerer Lage aufzuschwingen.

    Dem die letzte Strophe einleitenden Wort „immerhin“ verleiht Wolf ein etwas stärkeres Gewicht, als ihm in seiner Einbindung in das Metrum des lyrischen Textes zukommen kann. Und das ist ja ganz im Sinn Heines, leitet es doch den Eingang des lyrischen in den imaginativen Raum ein, in dem es zwar keine Antwort auf seine existenziell so gewichtigen Fragen finden kann, wohl aber Bilder, die Trost zu spenden vermögen in einem Leben, das wesenhaft als trostlose und müde machende Wanderschaft erfahren wurde.

    Ein auf eine Tonrepetition folgender Sekundfall liegt auf ihm, und eine Achtelpause folgt nach, die aus diesem ruhigen deklamatorischen Dreischreischritt eine eigene kleine Melodiezeile macht und ihn auf diese Weise hervorhebt. Und noch etwas ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung: Sie ist in klares As-Dur gebettet und wird vom Klavier, darin abweichend von seinem bisherigen Gestus, mit lang gehaltenen Oktaven im Diskant und Quinten im Bass begleitet. As-Dur ist nun als Grundtonart vorgegeben, und damit hebt sich die Liedmusik der dritten Strophe, ganz ihrer lyrischen Aussage entsprechend, deutlich von der der beiden ersten Strophen ab. Aber nicht nur damit: Auch die Grundstruktur der Melodik ist eine andere: Nicht nur dass sie sich in höherer tonaler Lage entfaltet, sie zeigt eine deutlich ausgeprägte Tendenz, auf dieser tonalen Ebene zu verharren und wenn schon eine Abweichung davon erforderlich ist, sie dann auf nach oben gerichtete Weise zu vollziehen. Will heißen: Ihre in den beiden ersten Strophe sie so stark prägende Tendenz zum Fall am Ende hat sie aufgegeben.

  • „Wo wird einst“ (III)

    Bei den Worten „mich wird umgeben“ verbleibt die Melodik noch mit Tonrepetitionen und einer Kombination aus Sekundfall und Wiederanstieg in mittlerer tonaler Lage, wobei auf dem Wort „mich“ eine vielsagende kleine Dehnung liegt und die Harmonik in die Subdominante Des-Dur gerückt ist. Dann aber, beim nächsten Vers beschreibt sie, schließlich steht das Bild von „Gottes Himmel“ im Mittelpunkt, eine weit gespannte, bis zu einem hohen „Des“ aufsteigende und am Ende in einen Legato-Sekundfall mit nachfolgender Tonrepetition auf der Ebene eines „B“ in mittlerer Lagen übergehende Bogenbewegung, die in Rückungen von As-Dur nach Des-Dur harmonisiert ist, am Ende aber in die Dominante gebettet ist, weil der Geist des Aufschwungs, der ihr innewohnt, sich ja noch fortsetzen soll.

    Und das tut er auch. Denn auf den Worten „Und als Totenlampen schweben“ liegt eine ähnlich gestaltete, nun gar in einem hohen „Es“ aufgipfelnde, dort in einer gedehnten Tonrepetition auf dem Wortteil „Toten-“ kurze innehaltende, damit akzentuierende und wieder auf einem „B“ in mittlerer tonaler Lage endende Bogenbewegung. Aber die deklamatorischen Sekundschritte sind hier mehrfach verminderte und die Harmonik beschreibt Rückungen ins Tongeschlecht Moll (c-Moll, as-Moll), darin den affektiven Gehalt des „Totenlampen“-Bildes reflektierend.

    Das letzte aber, das von den „Sternen über mir“, ist ein voll und ganz positives und Trost verheißendes. Und so geht die melodische Linie denn hier in einen konsequenten, geradezu beschwingten und nicht wieder einen bogenförmigen Abfall aufweisenden Anstieg über. Nach einem einleitenden Sekundfall beschreibt sie in ruhigen Schritten bei „die Sterne“ über einen Quart- und einen nachfolgenden Sekundsprung in hohe Lage, den das Klavier deklamatorisch synchron mit Bass und Diskant übergreifenden Staccato-Akkorden begleitet, dabei aber durchweg im Piano verbleibend. Die Harmonik vollzieht hier eine Rückung von As-Dur nach B-Dur, allerdings ereignet sich dabei, den affektiven Gehalt des lyrischen Bildes zum Ausdruck bringend, ein kurzer Anflug durch das Tongeschlecht Moll in Gestalt einer kurzen Zwischenrückung nach f-Moll.

    Die Anmutung von innerer Beseligung, die die Liedmusik schon bei der bogenförmigen Entfaltung der melodischen Linie und der fast schon schwärmerischen gedehnten Aufgipfelung auf dem Wort „Himmel“ aufwies, setzt sich hier in der letzten Melodiezeile fort. Und sie wird angereichert durch den Ton von Innigkeit, indem die melodische Linie bei den Schlussworten „über mir“ zu Repetitionen auf der tonalen Ebene eines „C“ in oberer Mittellage übergeht und dort in einer langen Dehnung ausklingt. Darin, in diesem Verharren und Ausklingen in einem Decrescendo vom Mezzoforte zum Piano, reflektiert die melodische Linie das statische lyrische Bild der Sterne hoch über dem lyrischen Ich.

    Und dessen seelische Regungen bei dieser Imagination lässt Wolf auf höchst dezente Weise in ihrer Harmonisierung zum Ausdruck kommen. Das in der dritten Strophe dominierende As-Dur verflüchtigt sich in den sich in den harmonischen Rückungen, die sich während ihres so lange währenden Verharrens ereignen: Von einem anfänglichen C-Dur geht die Harmonik zu F-Dur über, kehrt dann flüchtig noch einmal zu As-Dur zurück, um im kurzen, aus nur drei Akkorden bestehenden Nachspiel über einen Dominantseptakkord in der Tonart „C“ in einem fünfstimmigen, pianissimo anzuschlagenden F-Dur-Akkord zu enden.

    Hugo Wolf hat, wie die Liedmusik der dritten Strophe auf eindrückliche Weise vernehmen lässt, dieses letzte von ihm vertonte Heine-Gedicht so gelesen, dass ein Mensch in all seiner in der existenziellen Wanderschaft gründenden Verlorenheit Trost in der Imagination von Geborgenheit in der Transzendenz zu finden vermag.

  • Zum Schluss

    Nicht alle der insgesamt 18 Heine-Lieder Hugo Wolfs wurden vorgestellt und besprochen. Drei davon („Wo ich bin, mich rings umdunkelt“, „Es war ein alter König“ und „Ernst ist der Frühling“) fanden keine Berücksichtigung, weil Sinn und Zweck dieses Threads ja nicht die Gesamtdarstellung war, vielmehr eine analytische Betrachtung der Heine-Lieder Wolfs, die hinsichtlich seiner im Eröffnungsbeitrag dargestellten Fragestellung als besonders aussagekräftig erschienen.

    Zentrales Anliegen des Threads war, herauszufinden, aus welchen Gründen sich Hugo Wolf der Lyrik Heines zuwandte, welche Impulse von dieser auf seine Liedkomposition ausgingen und ob er in der Lage war, deren Eigenart, was lyrische Sprache, Metaphorik und insbesondere die ihr innewohnende Dialektik von Emotion und Ratio anbelangt, gerecht zu werden.

    In der musikwissenschaftlichen Literatur zu Hugo Wolf stößt man diesbezüglich auf kritische Äußerungen. So meint etwa sein Biograph Andreas Dorschel („Hugo Wolf“, Reinbek 1985) bezüglich des zentralen Heine-Themas „Leid des unglücklich Liebenden“:
    „Die Dialektik von Gefühl und Ironie, in der es bei Heine steht, wird von Wolf nicht nachvollzogen. Bei ihm sind Ausdruck und Mittel auch da emotional hochgetrieben, wo die Verse Abstand von Emotionalem nehmen.“

    Diese Kritik scheint mir nach dem, was ich diesbezüglich aus der Betrachtung der einzelnen Lieder an Erkenntnissen gewonnen habe, nicht voll und ganz zutreffend zu sein. Es ist richtig, dass in ihnen „Ausdruck und Mittel“ immer wieder einmal „hochgetrieben“ sind. Das ist die Folge der biographischen Umstände, aus denen heraus der Zugriff Hugo Wolfs auf die Lyrik Heines erfolgte. Er wählte die lyrischen Texte aus, durch er sich in seinem damaligen, durch die Liebe zu Vally maßgeblich geprägten Lebensgefühl angesprochen fühlte.

    Heine- Gedichte, in denen diese Dialektik in Gestalt regelrechter lyrisch-ironischer Brüche vorhanden ist, zog er - anders als Robert Schumann, und wohl auch mit Blick auf diesen - gar nicht erst zur Liedkomposition heran. Dort, wo sie andeutungsweise vorzufinden ist, hat er sie tatsächlich „nicht nachvollzogen“ in der Weise, dass er sie kompositorisch vollinhaltlich aufgriff und musikalisch vernehmlich werden ließ. Aber er ignorierte sie nicht, erfasste sehr wohl die lyrische Aussage, ließ den Aspekt der Distanzierung von Emotionalität darin aber nur auf gleichsam sanfte Weise anklingen. Dies ganz einfach deshalb, weil er in seiner wesenhaft distanzgeborenen Rationalität einfach nicht in sein damaliges, durchaus noch jugendlich-schwärmerisches Lebensgefühl passen wollte.

    Jahre später ist ihm das sehr wohl bewusst. Der anlässlich der Besprechung des im Januar 1888 entstandenen Heine-Liedes „Wo wird einst“ zitierte Brief an Oskar Grohe legt Zeugnis davon ab. Darin betrachtet Hugo Wolf die Zeit der Entstehung der frühen Heine-Lieder als eine des „Irrens“ des „Suchens“ und der „Verzweiflung“, und dieses als „Vorspiel zu meinen Mörike-Liedern“, in denen es eben das nicht mehr gibt, was sich damals noch ereignete: Das Sich-Hineindrängen subjektiver Emotionen in die dem lyrischen Text eigentlich ganz und gar verpflichtete Liedkomposition.

    Dietrich Fischer-Dieskau kommentierte dieses letzte Heine-Lied unter Bezugnahme auf Oskar Grohe bezeichnenderweise mit den Worten:
    „Mit (ihm) ist die >stille Sehnsucht und wunde Melancholie< (Grohe), das emphatische Liebesleid der Romantik abgetan. Und er vernimmt darin einen „Abschied vom geliebten Dichter“ Heine und überdies zugleich eine „Hommage an Schumann“.

    Und ich möchte dem noch hinzufügen:
    Es ist ein Abschied Hugo Wolfs von dem Dichter, der in der – gewiss eingeschränkten, weil nicht auf eine umfassende Auseinandersetzung mit dem lyrischen Werk ausgerichteten – Begegnung mit seinen Gedichten einen maßgeblichen Beitrag zur Entwicklung seiner singulären Liedsprache geleistet hat.