Hugo Wolf. Die Lieder auf Texte von Heinrich Heine

  • Heine und das deutsche Kunstlied.
    Um dieses Thema kommt man nicht herum, wenn man sich auf Liedmusik über ihre schiere Rezeption hinausgehend näher einlässt. Adorno verstieg sich gar zu der These, ohne Heine wäre sie nicht zu ihrer historischen Bedeutsamkeit gelangt, die sie erreicht hat. Und die Fakten sprechen ja für sich. Kaum einer unter den zeitgenössischen und späteren Liedkomponisten und –komponistinnen konnte sich seiner Lyrik entziehen, war nicht von ihr mehr oder weniger stark in Bann geschlagen und erfuhr durch sie künstlerische Inspiration.
    Immerhin: Günther Metzner verzeichnet für das Jahr 1840 bereits 71 Lieder von 14 Komponisten auf Gedichte von Heine, und insgesamt kommt er auf 6833 Heine-Vertonungen.

    Auf die Gründe der geradezu magisch anmutenden Wirkung, die von Heines Lyrik auf der Liedmusik zugeneigten Komponisten ausging, kann hier nicht eingegangen werden. Das wäre ein Kapitel für sich. Sie sind wohl im hochgradigen evokativen Potential seiner lyrischen Sprache zu suchen, die ihre wesenhaft artifizielle Genese in der Anmutung von syntaktischer Einfachheit und dementsprechender Metaphorik zu verbergen und auf diese Weise direkt und unvermittelt anzusprechen vermag.
    Vielsagend ist diesbezüglich Nietzsches Bemerkung:
    „Den höchsten Begriff vom Lyriker hat es mit Heinrich Heine gegeben. Ich suche umsonst in allen Reichen der Jahrtausende nach einer gleich süßen und leidenschaftlichen Musik. (…) Man wird einmal sagen, daß Heine und ich bei weitem die ersten Artisten der deutschen Sprache gewesen sind.“

    Zu den Gründen gehört gewiss auch die Tatsache, dass sich Heines Lyrik in hohem Grad als Ausdruck seiner als existenzielle, darin sich als eminent der Vormoderne zugehörige Heimatlosigkeit und Wanderschaft darstellt. Daraus gehen die gemeinhin als „Ironie“ qualifizierten Brüche in seiner lyrischen Sprache und Metaphorik hervor. Im Unterschied zur romantischen Ironie wollen aber diese sich ironisch gebenden Brüche zum Ausdruck bringen, dass es schlechterdings nicht möglich ist, die in seiner Lyrik auf vielgestaltige Weise evozierte utopische Welt in der realen aufrecht zu erhalten.

    Heine fasst diesen Sachverhalt in die Worte:
    „Wenn wir dennoch manchmal das Lyrische hervortreten lassen, so ist es doch ganz und gar durchdrungen von einem geistigeren Elemente, von der Ironie.“
    Damit spricht er das Wesensmerkmal seiner Lyrik an, das in seinem Kern aus einer Dialektik von Emotion und Ratio besteht, die den charakteristischen Bruch von faszinierender, bis ins Schwärmerische und in Kitsch-Nähe geratender lyrischer-metaphorischer Sprachlichkeit durch den schroff-kühlen und im äußersten Fall ironischen Ton hervorzubringen vermag.

    Ludwig Marcuse kommentiert das so:
    „Seine Wahrheit war nur an den Tag zu bringen, indem er aufbaute, was er ersehnte, was in ihm lebte, woran er kindlich hing; seine Wahrheit war aber auch nicht an den Tag zu bringen, ohne daß er das Aufgebaute pathetisch zerschlug. (…) Da es die größte Erfahrung seines Lebens war, daß weder die klassische noch die romantische Welt ihn bergen kann, trieb es ihn zur lauten Desillusionierung.“

    Auch Hugo Wolf konnte sich der eigenartigen Magie, die Heines Lyrik auf Liedkomponisten auszuüben scheint, nicht entziehen. Bei seinem schon in früher Jugend ausgebildeten hohen Interesse für Literatur stieß er auch alsbald auf Heines „Buch der Lieder“. Das Exemplar, das er besaß, ist übrigens in der Wiener Stadtbibliothek aufbewahrt. Im Dezember 1876, als Sechzehnjähriger also, komponierte er erstmals drei Lieder auf Heine-Texte, und hört man diese auf dem Hintergrund dessen, was er bislang schon an Liedkompositionen hervorgebracht hatte, dann vernimmt man in ihnen die inspirierende Kraft, die von Heines lyrischer Sprache auf ihn ausgegangen ist.

    Wie groß diese war, ist sogar durch ein bemerkenswertes Quellenzeugnis belegt. Zwei Jahre nach dieser kompositorischen Erstbegegnung mit Heines Lyrik, im Mai 1878, wandte er sich, erneut dieser zu, und es entstand ein kleiner Heine-Zyklus von sieben Liedern, den er mit dem Titel „Liederstrauß“ versah und der, weil er keinen Verleger fand, erst nach seinem Tod publiziert wurde. Dazu merkte er später einmal, auf den Sieg Napoleons 1796 nahe der kleinen italienischen Stadt Lodi anspielend, brieflich an:
    „Mein Lodi im Lied ist bekanntlich das Jahr 1878 gewesen; damals komponierte ich fast jeden Tag ein gutes Lied, mitunter auch zwei.“ Und der Inspirator dazu ist ganz offensichtlich Heine gewesen, in dessen Gedichten er sich in seiner damals entflammten Liebe zu der Professorentochter Valentine Franck, genannt „Vally“, wiederfand. Denn die sieben Heine-Texte, die er vertonte, kreisen allesamt um das Thema Liebe.

    Das Thema „Hugo Wolf und Heinrich Heine“ wirft natürlich auch in diesem Fall die Frage auf, die sich bei allen Heine-Liedkomponisten stellt:
    Wird er mit seiner Liedmusik der Eigenart von dessen Lyrik in ihrer Sprache, ihrer spezifischen Metaphorik und den für sie so typischen Brüchen in der Aussage gerecht?
    Welche Motive lassen sich im Zugriff auf das lyrische Opus Heines ausmachen und welche Themen werden darin bevorzugt?
    Welche Schlüsse kann man daraus hinsichtlich des Grundmotivs der Beschäftigung mit Heines Lyrik ziehen, und welche Bedeutung kommt ihr im Hinblick auf das liedkompositorische Schaffen Hugo Wolfs zu?

    Diesen Fragen soll in den nachfolgenden Liedbesprechungen nachgegangen werden. Das Hauptanliegen dabei ist allerdings ein anderes:
    Hugo Wolfs Heine-Lieder sollen in ihrer musikalischen Aussage und ihrer klanglichen Eigenart und Schönheit vorgestellt werden.

  • „Mädchen mit dem roten Mündchen“

    Mädchen mit dem roten Mündchen,
    Mit den Äuglein süß und klar,
    Du mein liebes, kleines Mädchen,
    Deiner denk' ich immerdar.

    Lang ist heut der Winterabend,
    Und ich möchte bei dir sein,
    Bei dir sitzen, mit dir schwatzen,
    Im vertrauten Kämmerlein.

    An die Lippen wollt' ich pressen
    Deine kleine weiße Hand,
    Und mit Tränen sie benetzen,
    Deine kleine, weiße Hand.

    Das Gedicht findet sich im „Buch der Lieder“, Abteilung „Die Heimkehr“. Es ist von Heine in einem schlichten lyrisch-sprachlichen Ton angelegt. Die Strophen weisen einen regelmäßigen Bau auf: Vier Verse aus vierfüßigen Trochäen mit klingender und stumpfer Kadenz im Wechsel, wobei nur der zweite und der vierte Vers eine Reimbindung aufweist, was zur Folge hat, dass ein sanfter Fluss in die lyrische Sprache kommt, der erst im vierten Vers zur Ruhe kommt. Die sprachliche Einfachheit, die mit einer solchen der lyrischen Bilder einhergeht, erweist sich – typisch für Heine – als ein hochgradig poetisch-artifizielles Produkt.

    Der regelmäßig sanfte Fluss der lyrischen Sprache reflektiert die imaginative Vergegenwärtigung des „Mädchens“ in der Situation der Einsamkeit des lyrischen Ichs an einem ausdrücklich als „lang“ bezeichneten Winterabend, und der nur einmal in der Strophe eingesetzte Kreuzreim erweist seinen tiefen Sinn in der letzten Strophe. Dort treibt Heine den Gestus der Einfachheit auf die Spitze, indem er den zweiten Vers in unveränderter Gestalt als Schlussvers wiederkehren lässt, und dies mit „Hand“ als Reimwort.

    Das ist höchst subtile Poesie, denn auf diese Weise, durch die Wiederholung des Wortes „Hand“, wird das in der Vergegenwärtigung diminutivisch auftretende „kleine“ Mädchen, mit seinem „roten Mündchen“ und den „süßen“ und „klaren“ „Äuglein“ von der Ebene einer unbedeutend beiläufigen menschlichen Begegnung auf die einer existenziell relevanten gehoben.
    Mit der Hand ereignet sich Geben und Nehmen in der menschlichen Begegnung, und so erschließt sich im letzten lyrischen Bild, in dem sich die Lippen imaginativ eben nicht auf das „rote Mündchen“, sondern an die „kleine weiße Hand“ pressen, die seelische Tiefe der in der Einsamkeit des Winterabends erinnerten Begegnung mit dem „Mädchen“

    Hugo Wolfs Komposition auf diese Verse trägt im Manuskript die Notiz „geschrieben Sonntag, den 17. Dezember 1876. Gerade mal sechzehn Jahre alt war er also damals, vom Konservatorium in Wien geflogen, in einem der über zwanzig Quartiere wohnend, durch die er damals vagabundierte, und unablässig komponierend und Kompositionspläne bis hin zu Sinfonien und Opern wälzend.
    Einiges lag schon vor, unter anderem zwei mit den Opus-Ziffern 7 und 8 versehende Klaviersonaten zum Beispiel, und auch Lieder hatte er bereits komponiert. Ein Opus 9 mit sechs Liedern auf Texte von Lenau, Goethe und einem Vincenz Zusner. Seine erste Liedkomposition, im Januar 1876 entstanden, war „Frühlingsgrüße“ auf ein Gedicht von Nikolaus Lenau. Und schon da, in diesen noch jungen Lebensjahren, zeigt sich, was sich für seine Zukunft als Komponist als maßgeblich-prägend erweisen sollte:
    Das tief reichende Angesprochen-Sein durch Lyrik und der daraus hervorgehende Wille, diese in Liedmusik umzusetzen, auf dass ihre Aussage eine Vertiefung erfahre. Und das Opus 9 zeigt: Es muss allemal große Lyrik sein. Goethe, Lenau und Heine waren es, die ihn damals fesselten.

    Offensichtlich kannte er auch Schumanns Liedkompositionen auf Heine-Gedichte. Dafür gibt es zwar keinen schriftlichen historischen Beleg, aber die drei Vertonungen von Heine-Texten, die er an fünf Tagen im Dezember 1876 vornahm, lassen das sehr deutlich vernehmen. Zumindest bei den Liedern „Du bist wie eine Blume“ und „Wenn ich in deine Augen seh“ sind die Anklänge an die Melodik Schumanns unüberhörbar.
    Anders ist dies bei der Komposition „Mädchen mit dem roten Mündchen“. Da Schumann diese Heine-Verse nicht vertont hatte und Hugo Wolf auch keine andere Vertonung vorgelegen haben konnte, war er sozusagen auf sich selbst gestellt. Und tatsächlich vernimmt man in seinem Lied erste Ansätze der für seine späteren liedkompositorischen Werke so typischen, deklamatorisch unmittelbar am lyrischen Wort setzenden Liedsprache.

    Aber es sind tatsächlich nur Ansätze. Von einer liedmelodischen Auslotung der semantischen Tiefendimension dieses lyrischen Textes kann man wohl nicht sprechen. Wolf nimmt die lyrische Grundsituation, wie sie in der zweiten Strophe skizziert wird, offensichtlich von den Diminutiva dazu verleitet, von der heiter-schelmischen Seite. Der Grundton seiner Liedmusik lässt das ganz eindeutig so vernehmen.


  • „Mädchen mit dem roten Mündchen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Ein rasches Tempo wird auf der Grundlage eines Zweivierteltaktes angeschlagen, „lebhaft“ lautet die Vortragsanweisung. Schon das viertaktige Vorspiel erklingt in diesem heiteren, geradezu verschmitzt anmutenden Grundton. Der Bewegung aus fallenden und wieder aufsteigenden Staccato-Achteln im Diskant, die auf der Spitze sogar einen mit Vorschlag versehenen Sextsprung aufweist, sind im Bass einen großen Bogen beschreibende Legato-Sechzehntel zugeordnet.

    Die Harmonik beschreibt dabei eine Rückung von der Grundtonart F-Dur zur Dominante C-Dur, und in dieser schlichten Weise, dem Hin und Her zwischen der Tonika und ihren beiden Dominanten, ist die melodische Linie im wesentlichen bei der ersten und der dritten Strophe harmonisiert. Das ist noch nicht die kunstvolle Handhabung der Harmonik, wie sie für den reifen Liedkomponisten Wolf typisch ist, und wahrscheinlich ist sie auch seiner Rezeption dieser Heine-Verse geschuldet, die auf eine arglose Vergegenwärtigung einer vergangenen, nicht weiter bedeutungsvollen Liebesbegegnung hinausläuft.
    Immerhin aber – und deshalb kann man von „Ansätzen“ sprechen – reflektieren die melodische Linie und ihre Harmonierung doch die lyrische Grundsituation des „langen Winterabends“: Das einleitende Wort „lang“, auf dem melodisch eine Tonrepetition auf einem tiefen „Des“ liegt, ist in Des-Dur gebettet, von dem aus sich eine Rückung nach C-Dur ereignet, das bei dieser zweiten Strophe die Rolle der Tonika übernimmt.

    Hier, in diesem harmonischen Herausheben der zweiten Strophe aus der sich ansonsten beschwingt argloser Heiterkeit hingebenden Liedmusik, wird der kommende große Liedkomponist ansatzweise vernehmlich. Aber auch in der Melodik ist das der Fall. Auch sie entfaltet sich nicht durchgehend in dem auf den Versen der ersten Strophe angeschlagenen Ton. Schon die Tatsache, dass Wolf hier nicht, was ja von der identischen Prosodie der drei Strophen nahelag, zum Strophenlied-Konzept gegriffen hat und nur einmal in der Melodik kurz, nämlich bei den Worten „du mein süßes kleines Mädchen“, das Prinzip der Wiederholung einsetzt – nicht ohne allerdings einen kleinen Vorschlags-Schnörkel bei dem Wort „kleines“ anzubringen - , lässt erkennen, wie nah am lyrischen Wort die Liedmusik angelegt ist.

    Alle drei Strophen weisen in ihrer Liedmusik die gleiche, schlichte, sich an den Prinzipen Symmetrie und Periodizität orientierende Anlage auf. Zwei jeweils ein Verspaar beinhaltende Melodiezeilen folgen aufeinander und münden in eine Kadenz. Gleichwohl reflektiert die Melodik dabei die Semantik des lyrischen Textes, so wie Wolf diesen rezipiert hat. Beim ersten Verspaar der ersten Strophe senkt sich die melodische Linie zunächst ab, beschreibt aber bei den Worten „roten Mündchen“ einen melismatischen Sechzehntel-Anstieg, um danach bei den Worten „mit den Äuglein süß und klar“ in einen Anstieg überzugehen, der eine veritable Duodezime übergreift, danach in einen leicht gedehnten Sekundfall beschreibt und damit dem lyrischen Bild einen starken Akzent verleiht.

    Dass sich Hugo Wolf schon in dieser frühen Liedkomposition in das lyrische Ich einfühlt, eine kompositorische Haltung, in der später die Größe seiner Liedmusik gründen wird, zeigt die Tatsache, dass er in der zweiten Melodiezeile die melodische Linie auf den Worten „deiner denk ich immerdar“ zweimal eine Fallbewegung beschreiben lässt, wobei dies bei „immerdar“ ein gedehnter Sextfall mit nachfolgendem Sekundanstieg ist, der sie in tiefe Lage führt. An dieser Stelle lässt das Klavier von seiner Begleitung mit fließend angelegten Achteln im Diskant und Sechzehnteln im Bass ab und akzentuiert diesen melodischen Fall mit drei Akkorden. Und auch die Harmonik trägt zu dieser Akzentuierung bei, indem sie eine Rückung von der Tonika F-Dur zur Oberdominante G-Dur beschreibt, um bei dem melodischen Sekundanstieg zum Ton „C“ zu C-Dur überzugehen.

    Dem Gedenken des lyrischen Ichs wird auf diese Weise nicht nur Bedeutsamkeit verliehen, das zweimalige Absinken der melodischen Linie bringt überdies auch noch zum Ausdruck, dass dieses Gedenken eines im Allein-Sein ist. So richtig voll zur Geltung will diese Einfühlung in die Situation des lyrischen Ichs freilich deshalb nicht kommen, weil in dem vorgegebenen „lebhaften“ Tempo musikalisch alles gleichsam vorbeihuscht. Das in der Struktur der melodischen Linie, im Klaviersatz und in der Harmonik sich konstituierende Ritardando kann deshalb nicht recht zur Geltung kommen.

    Das ist auch bei der Melodiezeile bei den Worten „Lang ist heut der Winterabend, / Und ich möchte bei dir sein“ der Fall. In einem überraschenden Des-Dur harmonisiert setzt die melodische Linie bei dem Wort „lang“ in Gestalt einer gedehnten Tonrepetition auf einem tiefen „Des“ ein, senkt sich bei „heut“ sogar noch um eine Sekunde ab. Aber sie ist hier schon wieder in C-Dur harmonisiert. Danach beschreibt sie bei dem Wort „Winterabend“ zwei Fallbewegungen über große Intervalle, die sie sogar bis zu einem „G“ in extrem tiefer Lage führen, und sie reflektiert auf diese Weise den semantischen Gehalt dieses Wortes.

    Aber für Wolf ist dieses lyrische Ich ganz von dem Wunsch beseelt, bei dem geliebten „Mädchen mit dem roten Mündchen“ sein zu wollen, und so lässt er die Harmonik hier eine schlichte Rückung von G-Dur nach C-Dur vollziehen und die melodische Linie nachfolgend einen beschwingten Anstieg beschreiben, der in einem Sekundfall endet, in dem sie in Gestalt einer Fermate tatsächlich einmal in ihrer so übergroßen Lebhaftigkeit kurz zur Ruhe kommt. Ein Augenblick der Innigkeit ereignet sich hier liedmusikalisch: Das Klavier lässt in seiner Begleitung erstmals Terzen aufklingen und die Dynamik zieht sich ins Pianissimo zurück. Wieder lässt die Liedmusik kurz psychologische Einfühlung vernehmen.

  • „Mädchen mit dem roten Mündchen“ (II)

    Dass Wolf dieses lyrische Ich nicht als einen einsam sich nach dem Du Sehnenden, sondern als in der Imagination einer tatsächlichen Begegnung Schwelgenden versteht, lässt die Liedmusik auf den Worten der letzten Strophe deutlich vernehmen. Das lyrische Bild des ersten Verspaares erfährt in ihr eine markante Hervorhebung. Bevor die melodische Linie einsetzt, läuft in Diskant und Bass eine mit einem Crescendo versehene Sechzehntel-Kette aus tiefer in hohe Lage, und dann ereignet sich, und dies forte, bei den Worten „an die Lippen“ ein mit einer Sechzehntel-Tonrepetition auftaktig eingeleiteter Sextsprung, dem ein lebhaftes Auf und Ab nachfolgt. Und auch bei den Worten „deine kleine, weiße Hand“ beschreibt die melodische Linie eine lebhafte, bei „weiße“ in eine Kombination aus Quartsprung und –fall übergehende Bewegung.

    Und sie verbleibt in diesem Gestus, steigert sich darin sogar noch. In der Achtelpause vor dem Einsatz auf den Worten des zweitletzten Verses lässt das Klavier erneut, nun allerdings nur noch im Diskant und in verkürzter Gestalt, eine aufsteigende Sechzehntelkette erklingen, und die melodische Linie beschreibt auf den Worten „und mit Tränen“ noch einmal den gleichen auftaktigen Sextsprung, geht dann aber in eine kleine Dehnung und danach bei den Worten „sie benetzen“ erst in einen Fall von Sechzehntel-Sekundschritten und dann in einen Terzfall in Achteln über. Dieses Bild huscht, auch weil Wolf die Dynamik auf ihm rapide vom Forte ins Piano zurücknimmt, in der Melodik so rasch vorüber, dass es, obgleich das Klavier hier wieder zur Begleitung mit zwei akzentuierenden Akkorden übergeht, keine seelische Tiefendimensionen zum Ausdruck bringen kann.

    Von daher, dieser ganz auf das Erfassen des imaginierten Vorgangs ausgerichteten, die seelischen Regungen eines am „langen Winterabend“ auf sich selbst zurückgeworfenen lyrischen Ichs außer Acht lassenden Rezeption dieser Heine-Verse ist es nur konsequent, dass die für Heine so bedeutsame Wiederholung der Worte „deine kleine, weiße Hand“ für Wolf nur noch einen liedmusikalischen Nachklang wert ist. Die melodische Linie beschreibt auf ihnen nun eine mit einem auftaktigen Sechzehntel-Sekundsprung einsetzende schlichte, bei „kleine“ einen Quartsprung vollziehende, danach in einen Sekundfall übergehende und in einer Repetition auf dem Grundton „F“ endende Bewegung, der das Klavier zum Ausklang nichts mehr als eine Wiederholung des Vorspiels hinzuzufügen hat.

    Das ist er noch nicht, der einen lyrischen Text bis in die Tiefen seiner Semantik erfassende und dabei deren existenzielle und psychische Dimensionen auf eindrückliche Weise auslotende Liedkomponist Hugo Wolf.
    Er kündigt sich aber an.

  • „Du bist wie eine Blume“

    Du bist wie eine Blume
    so hold und schön und rein;
    ich schau' dich an, und Wehmut
    schleicht mir ins Herz hinein.

    Mir ist, als ob ich die Hände
    aufs Haupt dir legen sollt',
    betend, daß Gott dich erhalte
    so rein und schön und hold.

    Wie üblich bei Heine wird das Thema „Liebe“ aus der Perspektive des seelischen Innenraums des lyrischen Ichs abgehandelt. Das „Du“ ist keine Ansprache an ein außenweltliches Du, sondern eine wesenhaft nach innen sich richtende. Sie ereignet sich – auch das typisch für Heine – in einfacher, schlichter lyrischer Sprachlichkeit, die sich aber eben darin als artifizielles Produkt erweist. Nur der zweite und der vierte Vers weisen eine Reimbindung auf, wodurch je zwei Verse eine syntaktische Einheit bilden, die den lyrischen Aussagen die Anmutung eines ruhig sich einstellenden innerseelischen Geschehens verleihen.

    Als Metrum fungiert der Jambus. In der zweiten Strophe tritt aber zwei Mal, im ersten und im dritten Vers, ein Daktylus dazwischen. Und bezeichnenderweise geschieht das dort, wo der lyrische Text zu seiner zentralen Aussage kommt: Der inneren Haltung des lyrischen Ichs dem Du gegenüber. Dieses wird in der ersten Strophe vom lyrischen Ich metaphorisch auf die jegliche Annäherung ausschließende Ebene von blumenhaft-organischer Reinheit und Schönheit gehoben. Und im Schlussvers wird das, die Reinheit nun an den Anfang stellend, noch einmal bekräftigt. Dem lyrischen Ich bleibt in seiner Haltung ihm gegenüber nur noch die Geste des Segens und Betens. Und wie im Gedicht „Mädchen mit dem roten Mündchen“ ist es wieder die „Hand“, die, nicht wirklich, vielmehr nur imaginativ, die zwischenmenschliche Bindung von Ich und Du zu schaffen vermag.

    Wieder, wie im vorangehenden Fall, hat der junge Hugo Wolf im Blick auf diesen zur Komposition anstehenden Text ein wesenhaft innerseelisches lyrisches Geschehen vor sich. Dort wurde er, wie mir scheint, diesem Sachverhalt liedkompositorisch nicht gerecht. Hier nun ist das anders, und ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass Robert Schumann ihm dabei auf die Sprünge geholfen hat.

    Wolfs Melodik verrät auf sehr deutliche Weise, dass er dessen Vertonung dieser Heine-Verse kannte. Und nicht nur hier, sondern in dieser ganzen frühen Phase steht er unter dem Einfluss von dessen liedkompositorischem Konzept. Dass einige seiner Lieder in durchaus stark ausgeprägter Weise dessen Geist atmeten, war ihm wohl bewusst. Anlässlich der vier Liedkompositionen, die er 1877 an den Verleger André geschickt hatte, von diesem aber abgelehnt wurden, bekannte er in seinem Brief an den Vater: „Sogar ein starker schumannscher Zug geht durch die Lieder, am meisten in den >Traurigen Wegen<“. Einem Manuskript ist sogar zu entnehmen, dass ihm dieser „Schumannsche Zug“ zu ausgeprägt war und zu weit ging. Über dem kompositorischen Entwurf des Liedes „was soll ich sagen“ (1878) steht „Zu sehr Schumann – deshalb nicht beendet“.


  • „Du bist wie eine Blume“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    „Geschrieben Montag, den 18. Dezember 1876“ vermerkte Wolf im Manuskript, - ein Zeichen, wie ernst es ihm mit dieser Liedkomposition war. Sie steht in Es-Dur als Grundtonart, ein Dreivierteltakt liegt ihr zugrunde, und sie soll „ruhig“ vorgetragen werden. Ein Vorspiel gibt es nicht. Das Klavier lässt die Figuren erklingen, mit denen es die melodische Linie begleiten wird, diese setzt am Ende des ersten Taktes auftaktig ein, und was folgt, das ist eine periodisch angelegte Liedmusik von zweifellos großer, Anmut und Lieblichkeit atmender Schönheit, die darin den Gehalt der Metaphorik und die Haltung des lyrischen Ichs voll und ganz zu erfassen vermag.

    Diese Anmutung von klanglicher Zartheit und Lieblichkeit gründet – und das lässt sie so eindrücklich werden – nicht nur in der Art und Weise, wie die melodische Linie sich entfaltet, auch der Klaviersatz hat daran einen erheblichen Anteil. Mit nur wenigen Ausnahmen besteht er in Diskant und Bass durchgehend aus synchronen, beim ersten Verspaar staccato ausgeführten sextolischen Achteln, die in der ersten Strophe bitonal angelegt sind, bei der zweiten sich aber zu drei- und vierstimmigen erweitern und auf diese Weise dem lyrischen Bild von den aufs Haupt gelegten Händen Nachdrücklichkeit verleihen. Es ist eine helle, ruhig sich entfaltende glockenspielartige Klanglichkeit, in die die melodische Linie auf diese Weise gebettet wird, und diese Helligkeit kommt dadurch zustande, dass im Klaviersatz mit der Ausnahme auf den Worten „ins Herz hinein“ und auf denen des ersten Verspaares der zweiten Strophe für das Bassbereich der Violinschlüssel gilt. Und bei denen des Schlussverses steigt der Klaviersatz sogar in die Oktavlage des Diskants auf und lässt in dem Pianissimo, in dem er dort die melodische Linie noch begleitet, die Liedmusik in transzendente Lieblichkeit entschweben.

    Das ist Schumann abgeschaut, - aber fraglos auf gekonnte Weise, denn es reflektiert ja die lyrische Aussage und vertieft sie in ihrem semantischen Gehalt. Dies leistet auch die melodische Linie in ihrer spezifischen Gestalt und ihrer Harmonisierung, und wie alle zusammen, Melodik, Klaviersatz und Harmonik die Worte der zweiten Strophe aufgreifen, lassen sie schon andeutungsweise den künftigen, liedmusikalisch tiefschürfenden Seelenerforscher des lyrischen Ichs vernehmen. Die Musik auf den beiden Schlussversen ist in ihrer aus der Struktur von Melodik und Klaviersatz hervorgehenden großen Eindrücklichkeit bereits echter Hugo Wolf.

    Aber das soll in Gestalt eines kurzen analytischen Blicks auf die Faktur der Liedmusik noch ein wenig konkretisiert werden. Beim ersten Vers der ersten Strophe geht die melodische Linie, in Es-Dur harmonisiert, aus ein dreifachen, partiell gedehnten Tonrepetition bei den Worten „eine Blume“ in eine Kombination aus Quartsprung und –fall über, die diesem Wort einen starken, sie in klangliche Helligkeit bettenden Akzent verleiht. Auf dem Wort „hold“ liegt hingegen ein verminderter, in eine Dehnung übergehender und mit einer Rückung nach As-Dur einhergehender Sekundsprung, der die Anmutung von tiefer Bedeutsamkeit aufweist. Beim zweiten Verspaar setzt die melodische Linie wieder mit der gleichen gedehnten Tonrepetition ein.

    Das lyrische Ich spricht noch aus der gleichen inneren Haltung, aber es geht nun dazu über, seine seelische Innenwelt zum Ausdruck zu bringen. Und Wolf wird diesem gewichtigen lyrischen Sachverhalt dadurch gerecht, dass er die Tonrepetition am Ende, also bei den Worten „schau dich an“ einen Halbtonschritt aufwärts beschreiben lässt, der mit der ausdrucksstarken harmonischen Rückung von Es-Dur nach G-Dur verbunden ist. Und den affektiven Gehalt der die seelische Innenwelt konkretisierenden Worte „und Wehmut
    schleicht mir ins Herz hinein“ erfasst er liedmusikalisch damit, dass er in der Achtelpause davor den Klaviersatz im Diskant eine sich im Intervall von der Terz zur Sexte erweiternden Fall aus bitonalen Akkorden beschreiben lässt und die melodische Linie danach bei „Wehmut“ eine Kombination aus Terzsprung und Sekundfall, die in ein harmonisch herausragendes c-Moll gebettet ist, das das Klavier, ebenfalls ungewöhnlich, weil ein Abweichen von den Achtelsextolen darstellend, mit einem lang gehaltenen Akkord zum Ausdruck bringt.

    Und ganz dieser hohen, gleichwohl zarten liedmusikalischen Expressivität entsprechend, geht die melodische Linie dann im Gestus der Strophenkadenz bei den Worten „ins Herz hinein“ über einen auftaktigen Quintsprung in einen lang gedehnten, mit einer harmonischen Rückung in die Dominante einhergehenden und das Wort „Herz“ markant hervorhebenden Sekundfall über, der sich bei „hinein“ in einem Terzfall fortsetzt, der auf der Terz der Tonika endet. Da macht sich der hochgradig artifizielle Liedkomponist Wolf vernehmlich, und das setzt sich in der Liedmusik auf den Worten der zweiten Strophe auf in der Eindrücklichkeit gesteigerte Weise fort.

  • „Du bist wie eine Blume“ (II)

    Dass das lyrische Ich in seiner monologischen Ansprache an das Du das Zentrum seiner seelischen Innenwelt offenlegt, deutet sich im Klaviersatz dadurch an, dass hier bei oktavischen Oktavrepetitionen im Diskant Oktaven im Bass in Sekundschritten ansteigen, und das forte, also in einer Liedmusik, die sich bislang ganz im Piano hielt. Und in diesem Forte wird nun auch aus der wieder im Gestus der Tonrepetition einsetzenden melodischen Linie eine, die nach den Worten „mir ist“ erst einmal ein Pause einlegt, um ihnen Gewicht zu verleihen, und dann die repetitive Entfaltung über einen verminderten Sekundfall mit einem Quartsprung in einen lang gedehnten Quartfall auf dem Wort „Hände“ übergehen zu lassen, der wieder in das den seelischen Innenraum reflektierende c-Moll gebettet ist. Und das Klavier, das schon zuvor seine Achtelsextolen vierstimmig erklingen ließ, verleiht diesem gedehnten Quartfall in der Melodik einen starken Akzent dadurch, dass es unter einem im Diskant vierstimmig repetierenden c-Moll-Akkord im Bass sechs Oktaven in Sekundschritten emporsteigen lässt.

    Nach der ebenfalls bedeutungsschwer angelegten melodischen Bewegung auf den Worten „aufs Haupt dir legen sollt“, einem gedehnten Sekundfall mit anschließend bogenförmigen Wiederanstieg der melodischen Linie, lässt das Klavier in der Zweiviertelpause für die Singstimme eine überaus lieblich anmutende Figur aus Terzen, Quarten und Quinten in hoher Diskantlage erklingen, die sich als Einleitung zu der Anmutung von klanglicher Zartheit und Lieblichkeit erweist, die in die Liedmusik bei den Worten des letzten Verspaares tritt.

    Auf dem Wort „betend“ liegt, und das durch eine Sechzehntelpause abgesetzt und damit akzentuiert, ein ausdrucksstarker und in tiefe Lage führender melodische Septfall, dem auf den Worten „daß Gott dich erhalte“ ein in oberer Mittellage mit eine Tonrepetition ansetzender und in einem Quintfall in hoher Lage endender Anstieg der melodischen Linie nachfolgt. Das Klavier begleitet das zunächst mir der Fortführung der bitonalen Achtelfigur, die es in der Pause erklingen ließ, geht dann aber bei dem Wort „halte“ zu einer Staccato-Repetition von sechsstimmigen Es-Dur Achtelakkorden in hoher Oktavdiskantlage über, die diese lyrische Aussage in alles Irdische transzendierende Sphären zu heben scheint.

    Und Hugo Wolf, der seine lyrischen Texte allemal und gerne zwanzig bis dreißig Mal laut las, bevor er sie in Liedmusik setzte, bemerkte sehr wohl, dass Heine in der Wiederholung des zweiten Verses nun die Worte „so rein“ an den Anfang setzte. Und dementsprechend legt er auf sie einen durch Sechzehntelpausen eingehegten Terzsprung und lässt die melodische Linie danach bei den Worten „so schön und hold“ einen Anstieg in Sekundschritten aus Legato-Sekundfallbewegungen beschreiben, der bei „hold“ auf dem Grundton „Es“ endet und vom Klavier mit in noch höhere Oktavlage emporsteigenden Akkorden begleitet wird. Pianissimo und „langsam“ geschieht das alles, und darin die still innerliche Verzückung zum Ausdruck bringend, in die sich das lyrische Ich, so wie Wolf Heines Verse rezipiert hat, bei der Imagination des geliebten Du hineingesteigert hat.

    Bleibt dem Klavier im viertaktigen Nachspiel nur noch, nun allerdings forte und im ruhigen Original-Tempo, in zwei sich in der tonalen Ebene absenkenden und in Rückung von den beiden Dominanten zur Tonika harmonisierten Terzenbewegungen diese Verzückung noch einmal auf- und dann ausklingen zu lassen.

  • „Wenn ich in deine Augen seh'“

    Wenn ich in deine Augen seh',
    So schwindet all mein Leid und Weh;
    Doch wenn ich küsse deinen Mund,
    So werd' ich ganz und gar gesund.

    Wenn ich mich lehn' an deine Brust,
    Kommt's über mich wie Himmelslust;
    Doch wenn du sprichst: ich liebe dich!
    So muß ich weinen bitterlich.

    Prosodisch schlicht angelegte Lyrik: Durchgehend Verse aus vierhebigen Jamben mit stumpfer Kadenz und in Paarreim miteinander verbunden. Und diese Schlichtheit erfährt durch sprachliche Regelmäßigkeit noch eine Steigerung dadurch, dass alle Verspaare nach dem konditionalen Prinzip „wenn – dann“ angelegt sind, wobei der temporale Aspekt durch das Ersetzen des „dann“ durch „so“ herausgenommen wird und der konditionale eine Verstärkung dadurch erfährt, dass beim zweiten Verspaar das „wenn“ mit einem „doch“ kombiniert wird.

    Schon dieser rein formale Blick auf dieses Gedicht verrät die artifizielle Poetik hinter der schlichten Fassade. Und der Blick in die Semantik lässt diese vollends manifest werden und zeigt ihren tieferen Sinn. Hier ereignet sich lyrisch das Bekenntnis von existenzieller Einsamkeit, das deshalb tief anrührend, ja gar erschreckend ist, weil es im sprachlichen Gewand von Einfachheit und Schlichtheit getätigt wird.

    Die lyrischen Aussagen entfalten sich durchweg im Gestus der Ansprache. Das aber ist eine, die allemal aus der Perspektive des lyrischen Ichs erfolgt, das mit einer einzigen Ausnahme, dem dritten Vers der zweiten Strophe nämlich, in allen Versen in Gestalt des Personal- oder Possessivpronomens gegenwärtig ist. Der Anrede-Gestus erweist sich also darin als ein wesenhaft monologischer.

    Bis zum zweitletzten Vers geben sich die lyrischen Aussagen den Anschein, als gäben sie aus der Ebene des Präsenz-Präteritums Liebeserfahrungen wieder. Die sinnliche Begegnung des lyrischen Ichs mit dem Du bewirkt, dass sein „Leid und Weh“ schwindet, es seelisch „ganz und gar gesund“ und gar von „Himmelslust“ überkommen wird. Dann aber, nachdem es im zweitletzten Vers gar zum klassischen „Ich liebe dich“ kommt, ereignet sich der typische Heine-Bruch. Statt, wie man nun eigentlich erwartet, in Jubel auszubrechen, trifft das lyrische Ich in konsekutiv schlichter sprachlicher Manier die Feststellung, dass es auf dieses Liebesbekenntnis hin „bitterlich weinen“ müsse.

    Erst mit dem letzten Vers enthüllt sich mittels des typischen Heine-Bruchs der lyrische Monolog als das was er ist: Die beglückende Imagination von liebeerfüllter Zweisamkeit. In dem Augenblick, in dem das Du in ihm als sich selbst artikulierendes Wesen auftritt und damit reales Sein in Anspruch nimmt, ist der schöne Traum nicht mehr zu halten. Er bricht zusammen, und das Ich muss weinen, weil ihm bewusst wird, dass dieses ihm ein Liebesgeständnis machende Du nichts anderes als eine sehnsüchtig beschworene Fiktion ist.

    Dieses Nebeneinander von vordergründiger lyrisch-sprachlicher Simplizität und semantischer Komplexität auf adäquate Weise in Liedmusik zu fassen stellt hohe Anforderungen an den Komponisten. Wie Schumann diesen gerecht geworden ist, wurde hier aufgezeigt (Robert Schumann und Heinrich Heine. Eine künstlerische Begegnung und ihre liedmusikalischen Folgen). Hugo Wolf kannte dessen Liedmusik auf diese Verse nicht nur, er ließ sich in seiner eigenen Komposition von ihr auf deutliche Weise inspirieren. Diese wurde „geschrieben Donnerstag, den 21. Dezember 1876“. Ein Dreivierteltakt liegt ihr zugrunde, B-Dur ist als Grundtonart vorgegeben, und sie soll „mäßig“ vorgetragen werden.


  • „Wenn ich in deine Augen seh'“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Das viertaktige Vorspiel lässt in Gestalt einer Abfolge von Achtel-Sechzehntelfiguren im Diskant und bitonalen Achteln und Sechzehnteln im Diskant eine melodische Linie erklingen, die sich nach dem Einsatz der Singstimme als die erweist, die auf den Worten „Wenn ich in deine Augen seh'“ liegt und die auf denen des ersten Verses der zweiten Strophe mitsamt dem zugehörigen Klaviersatz unverändert noch einmal erklingt. Das ist aber nur ein scheinbares Zugeständnis an das Strophenlied-Konzept eines ansonsten durchkomponierten Liedes. Obgleich die ersten beiden deklamatorischen Schritte beim zweiten Vers der zweiten Strophe identisch sind mit denen auf dem zweiten der ersten, beschreibt die melodische Linie danach eine markant andere Bewegung. Das lyrische Bild vom Überkommen-Werden von der „Himmelslust“ erfordert das, und darin zeigt sich, wie stark Wolfs liedkompositorischer Ansatz auf die die enge interpretatorische Bindung an den lyrischen Text ausgerichtet ist.

    Die Wiederholung der Melodik des ersten Verses ist ja auch nicht Folge eines kompositorischen Spiels mit dem klassischen Strophenlied-Modell, sie ist vielmehr textbedingt, dem Sachverhalt des das ganze Gedicht lyrisch-sprachlich prägenden „Wenn- dann“- Konzepts geschuldet. Und die Art und Weise, wie sich die melodische Linie auf dem ersten Vers beider Strophen entfaltet, reflektiert dieses Konzept. So stark Wolf in diesem Lied unter dem Einfluss Schumanns steht, was noch aufzuzeigen sein wird: Hier zeigt er eine größere Nähe zum lyrischen Text als dieser. Denn während Schumann die melodische Linie auf den Worten des ersten Verses ansteigen und aus Gründen der Anbindung an die Melodik des zweiten auf einer Tonrepetition enden lässt, legt Wolf auf sie eine bogenförmig ansteigende und wieder fallende, die, weil ihr eine Dreiachtelpause nachfolgt, als eigenständige singuläre melodische Einheit auftritt und darin wie eine programmatische Ouvertüre fungiert.

    In der Aufeinanderfolge von in Sekundschritten aufsteigenden, bei „deine“ den Höhepunkt erreichenden und sich dann wieder absenkenden Tonrepetitionen reflektiert sie das „Wenn-dann“-Konzept des lyrischen Textes. Dies vor allem deshalb, weil sich beim Fall auf dem Wort „Augen“, und auf den Worten „deine“ in der Tonrepetition ein mit der harmonischen Rückung zur Dominante einhergehender verminderter Sekundfall ereignet, Ausdruck des seelisch tiefgründigen emotionalen Potentials der lyrischen Aussage.

    Dass dieser melodischen Figur eine Schlüsselfunktion zukommt, zeigt nicht nur die Tatsache, dass sie das Vorspiel gleichsam vorgibt und dass sie auf dem ersten Vers der zweiten Strophe unverändert erneut erklingt, es wird auch darin vernehmlich und ersichtlich, dass die den zweiten und den dritten Vers beinhaltenden Melodiezeilen im Grunde Varianten von ihr darstellen. Auf den Worten „so schwindet“ setzt die melodische Linie auf noch einmal in der gleichen Weise mit einem auftaktigen Sekundsprung und einer nachfolgend gedehnten Tonrepetition auf der Ebene eines „D“ in tiefer Lage ein. Und sie beschreibt erneut eine am Ende sich wieder absenkende Bogenbewegung. Dieses Mal steigt sie allerdings, bedingt durch die lyrische Aussage, um eine Terz höher auf und endet, den semantischen Gehalt des Wortes „Weh“ reflektierend, in einem verminderten Sekundfall, der mit einer ausdrucksstarken harmonischen Rückung von der Subdominante Es-Dur nach B-Dur verbunden ist.

    Die melodische Figur auf den Worten „Doch wenn ich küsse deinen Mund“ mutet in dem über das große Intervall einer Sexte erfolgenden Sprung der deklamatorischen Tonrepetitionen von der Ebene eine tiefen „F“ zu der einen hohen „D“ wie eine Potenzierung der die Grundfigur prägenden Bogenbewegung an. Und das ist ja auch angebracht, stellt doch das lyrische Bild des Kusses die klassische metaphorische Verkörperung von Liebe dar. Diese Sprungbewegung der melodischen Linie erfährt dadurch noch eine Steigerung ihrer Expressivität, dass das Klavier sie mit seinen quartolischen Sechzehntelfiguren im Diskant mitvollzieht, wie es das bislang durchweg bei allen melodischen Bewegungen getan hat.

    Bemerkenswert aber: Dieses Mal ist die Fallbewegung, die sich auf den Worten „deinen Mund“ in anfänglich gedehnten Sekundschritten aus hoher Lage ereignet, in g-Moll harmonisiert, der Moll-Parallele der Grundtonart B-Dur also. Und das will wohl als Ausdruck hoher emotionaler Erregung verstanden werden und weckt die Erwartung, was dieses Mal auf das konditional-temporale „Wenn“ wohl nachfolgen werde. Diese liedmusikalische Binnenspannung ist von Wolf durchaus kunstvoll aufgebaut, und entsprechend eindrucksvoll löst er sie. Dies in Gestalt einer nach einer Achtelpause einsetzenden melodischen Linie, die nach einem einleitenden zweifachen Sekundfall auf „so werd ich“ bei den Worten „ganz und gar gesund“ eine mit einem Quartsprung einsetzende markant ruhige, weil zweimal auf den zentralen Worten „ganz“ und „gar“ gedehnte und einem leicht gedehnten „F“ in tiefer Lage endende Fallbewegung beschreibt. Das ist ein Enden auf dem Grundton, denn diese letzte Melodiezeile der ersten Strophe ist in F-Dur mit Zwischenrückung nach C-Dur gebettet.

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  • Wenn ich in deine Augen seh'“ (II)

    Diese Harmonisierung akzentuiert die Klarheit und Eindeutigkeit der musikalischen Aussage, die Wolf den auf das bedeutsame Wort „gesund“ zulaufenden lyrischen Worten des Schlussverses der ersten Strophe mit der spezifischen Melodik verliehen hat. Und der tiefere Sinn dieses liedkompositorischen Vorgehens enthüllt sich am Liedende: In dem starken Kontrast, in dem die Liedmusik des Schlussverses nun der auf dem der ersten Strophe entgegentritt. Bis dahin verbleibt sie, was die Grundstruktur der Melodik anbelangt, bei ihrem deklamatorischen Gestus, darin allerdings die jeweilige lyrische Aussage reflektierend. So ist die melodische Linie auf den Worten „Kommt's über mich wie Himmelslust“ auch wieder bogenförmig angelegt.

    Sie setzt, wie auch die erste und die zweite der ersten Strophe, auf der tonalen Ebene eines „C“ in tiefer Lage an, aber weil das lyrische Bild vom Überkommen-Werden wie von „Himmelslust“ einen hohen affektiven Gehalt aufweist, steigert sie sich in leicht gedehnten Sprung- und Fallbewegungen bis in die Höhe, die sie schon einmal bei den Worten „küsse deinen Mund“ erreicht hatte, wobei ihr das Klavier wieder mit seinen quartolischen Sechzehnteln im Diskant folgt. Auf dem Wort „Himmelslust“ geht sie dann aus dieser Lage in einen gedehnten und in eine Dehnung mündenden zweifachen Sekundfall über, bei dem die Harmonik die ausdrucksstarke, weil weitab von der Grundtonart liegende Rückung von D-Dur nach G-Dur beschreibt. Und weil überdies das Klavier hier im Bass zwei sehr hohe vierstimmige D-Dur-Akkorde erklingen lässt, erfährt dieses Wort eine markante musikalische Hervorhebung.

    Mit den Worten „doch wenn du sprichst“ geht die melodische Linie zu einem vom bisherigen deutlich abweichenden Gestus über, - und lässt darin, wie auch in den folgenden Schritten und ihrer Harmonisierung, auf recht deutliche Weise die Einflussnahme von Schumann erkennen. Sie setzt in rhythmisierter deklamatorischer Repetition auf der tonalen Ebene eines anfänglichen „B“ ein, das sich aber schon im zweiten Schritt zu einem „H“ und danach zu ein „His“ erhöht, wobei die Harmonik, diese Halbtonschritte mitvollziehend, ein Rückung von G- nach Gis-Dur beschreibt. Und nach einer Achtelpause ereignet sich dann auf dem klassischen Geständnis „Ich liebe dich“ eine melodische Bewegung, die, weil sie mit einem verminderten Terzsprung einsetzt und in einem ebenfalls verminderten Sekundfall endet, mit einer markanten harmonischen Rückung einhergeht: Von einem anfänglichen H-Dur nach Fis-Dur, sich niederschlagend in einem mit einer Fermate versehenen sechsstimmigen Fis-Dur-Akkord.

    Bei Schumann ereignet sich bei diesen lyrisch so zentralen Worten eine enharmonische Rückung. Hugo Wolf folgt ihm darin, dies allerdings auf eine Art und Weise, die, weil die Rückung in eine von der Grundtonart weitab liegende, im Kreuztonbereich angesiedelte Tonalität ausgreift, eine Steigerung der musikalischen Expressivität beinhaltet.
    Das ist durchaus als Ausdruck seines sich von Schumann abhebenden, weil die lyrische Aussage in ihrem kognitiven und affektiven Gehalt tiefer ausloten wollenden Verständnisses von Liedkomposition zu verstehen. Hier, bei diesen drei Heine-Vertonungen von1876, ist das noch ein zaghaftes Sich-Absetzen. Alsbald, bei dem nachfolgenden Sich-Einlassen auf Heine-Lyrik im sogenannten „Liederstrauß“, wird daraus ein starkes, zu einer neuartigen Liedsprache führendes werden.

    Was melodisch auf den Schlussworten „So muß ich weinen bitterlich“ nachfolgt, reflektiert, weil es auf den semantischen Gehalt des Wortes bitterlich ausgerichtet ist und zugleich das gleichsam schicksalhafte „so“ reflektiert, auf höchst eindrückliche Weise die lyrische Aussage. Aus einer dreimaligen Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines „Fis“ geht die melodische Linie nach einem Halbton-Anstieg in einen Fall über, der wiederum nur in Halbtonschritten erfolgt, wobei auf „weinen“ eine gedehnter und in Moll gebetteter Halbtonfall von „G“, nach „Ges“ liegt, der auf der letzten Silbe von „bitterlich“ auf der damit erreichten tonalen Ebene eines „F“ in tiefer Lage in Gestalt einer kleinen, nun in b-Moll harmonisierten Dehnung verharrt und ausklingt.
    Im dreitaktigen Nachspiel erklingt das Vorspiel noch einmal, nun allerdings auf vielsagende Weise in b-Moll-Harmonik.

  • "Liederstrauß"

    Nach der Komposition von „Wenn ich in deine Augen seh`“ Ende Dezember 1876 vergingen eineinhalb Jahre, bis Hugo Wolf sich wieder Heines Lyrik zuwandte. Und das könnte durchaus etwas mit seiner damaligen Liebe zu Valentine Franck, genannt „Vally“, zu tun gehabt haben, denn die sieben Lieder, die nun zwischen dem 18. Mai und dem 22. Juni 1878 entstanden, haben allesamt das Thea „Liebe“ zum Gegenstand. Er fasste sie unter dem Titel „Liederstrauß“ zusammen und suchte vergeblich einen Verleger dafür, so dass sie erst nach seinem Tod publiziert wurden.

    Diese Liedgruppe stellt den ersten - allerdings noch leicht ausgeprägten - Fall von phasenweise gleichsam vulkanisch ausbrechendem rauschhaftem Schaffen dar, wie es so typisch für Hugo Wolf ist und die großen Liedfolgen hervorbrachte. Als bedeutsam ist sie deshalb zu betrachten, weil sich in ihr, was die kompositorische Auseinandersetzung mit Heines Lyrik anbelangt, ein wichtiger Schritt der Emanzipation von Robert Schumann hin zur Ausprägung einer eigenen Liedsprache ereignet.

    „Sie haben heut' Abend Gesellschaft“

    Sie haben heut' Abend Gesellschaft
    Und das Haus ist lichterfüllt.
    Dort oben am hellen Fenster
    Bewegt sich ein Schattenbild.

    Du schaust mich nicht, im Dunkeln
    Steh' ich hier unten allein,
    Noch weniger kannst du schauen
    In mein dunkles Herz hinein.

    Mein dunkles Herze liebt dich,
    Es liebt dich und es bricht,
    Und bricht und zuckt und verblutet,
    Du aber siehst es nicht.

    Diese Verse kreisen um eine von Heine immer wieder lyrisch reflektierte existenzielle Grundsituation: Die lebensweltlich-existenzielle Distanz zwischen dem liebenden Ich und dem begehrten Du, die, weil sie wesenhaft unüberwindlich ist, mit tiefem Leid für das Ich einhergeht. In der Metaphorik nutzt Heine hier das evokative Potential des Kontrasts von hell und dunkel, oben und unten, um diese Distanz in eben dieser Unüberwindlichkeit zum Ausdruck zu bringen. Da ist „oben“ die in lebhafter Gesellschaftlichkeit entfaltende „helle“ Welt der Geliebten, und „unten“ im „Dunkeln“ das lyrische Ich, wobei die Dunkelheit seiner Welt so groß und tief ist, dass sie sein Herz ergreift. Zwei Mal setzt Heine das lyrische Bild vom „dunklen Herz“ ein, beim zweiten Mal gar in der sprachlich melismatischen und auf diese Weise affektiv potenzierten Version „Herze“.

    Die Unzugänglichkeit der „Welt da oben“ wird sinnfällig dadurch, dass für das Ich allenfalls ein „Schattenbild“ daraus wahrnehmbar ist. Und dessen Situation des als Liebender seinerseits nicht Wahrgenommenen erfährt dann in der dritten Strophe evokativ hochgradig aufgeladenen Ausdruck im Bild von dem „brechenden“, „zuckenden“ und „verblutenden“ Herzen.
    Das ist wieder einer von den vielen Fällen, wo Heine mit der Grenze des lyrisch Sagbaren und Verantwortbaren spielt. Nie hat er sie überschritten, aber – wie hier - im Innehalten davor das ihr innewohnende lyrische Aussage-Potential auf gekonnte Weise genutzt.


    Und worin sich diese poetischer Könnerschaft auch zeigt: Die große innere Erregung, die für das lyrische Ich mit diesem aus der Situation des Blicks aus dem einsamen Dunkel draußen auf die helle Welt des gesellschaftlichen Lebens oben verbunden ist, schlägt sich lyrisch-sprachlich in der der Unruhe des Metrums nieder, - im permanenten Übergang von jambischem Versmaß zu daktylischem und gar anapästischem. Der einleitende Vers ist, weil er ganz im sachlichen Anrede-Gestus verbleibt, noch rein jambisch ausgerichtet. Aber schon der zweite Vers setzt mit einem Anapäst ein, und danach ereignet sich im Metrum immer wieder einmal ein Übergang von einem Jambus zum Daktylus.

    Wie schlagen sich diese prosodischen, semantischen und metaphorischen Gegebenheiten dieses Gedichts nun in Hugo Wolfs Liedmusik nieder? Wie weit greift er sie kompositorisch auf und dokumentiert darin die für seine Liedsprache so typische und bezeichnende Nähe zum lyrischen Text in seiner genuinen Sprachlichkeit?
    Hierzu ist vorab in allgemeiner Weise festzustellen:
    Obgleich in diesem Lied noch eine leichte Anlehnung an Schumanns „Dichterliebe“-Komposition „Das ist ein Flöten und Geigen“ vernehmlich ist, erfasst die Liedmusik den lyrischen Text in seiner sprachlichen Gestalt und seiner poetischen Aussage in einem Umfang und einer Tiefe, die einen wesentlichen Schritt weg von Schumann und hin zur ganz und gar eigenen Liedsprache darstellt.


  • „Sie haben heut' Abend Gesellschaft“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    „Lustig, etwas breit“ soll das Lied vorgetragen werden. Ein Dreivierteltakt liegt ihm zugrunde, als Grundtonart ist G-Dur vorgegeben. Der auftaktig einsetzenden melodischen Linie geht ein neuntaktiges Vorspiel voraus, und allein schon sein Umfang, vor allem aber sein musikalischer Gehalt lassen schon ahnen, dass dem Klaviersatz eine wichtige Funktion in der Liedmusik zukommen wird: Im Sinne eines eigenständigen und aus einem dialogischen Verhältnis zu Singstimme hervorgehenden Beitrags zu derselben.

    Und das bestätigt sich alsbald im spezifischen Satz der Begleitung der melodischen Linie, darüber hinaus aber auch in den ebenfalls umfangreichen Zwischenspielen und schließlich im als ganz und gar eigenständiger Kommentar auftretenden und darin tatsächlich siebenundzwanzig Takte in Anspruch nehmenden Nachspiel. Die so hoch ausgeprägte Eigenständigkeit des Klaviersatzes gründet vor allem darin, dass er in seiner musikalischen Substanz aus eigenen, vielfältige Variationen durchlaufenden Figuren besteht. Diese generieren in ihrer Aufeinanderfolge eine melodische Linie, und der hochgradig artifizielle Charakter dieser Liedkomposition zeigt sich darin, dass diese in ihrer Grundstruktur Bewegungen der melodischen Linie der Singstimme aufgreift. Das ist bereits genuin Wolfsche Liedsprache.

    Gleich am Anfang wird das vernehmlich. Das im Diskant in bitonalen Achtel- und Viertelfiguren im Diskant forte sich entfaltende und mit der Vortragsanweisung „stark markiert“ versehene Vorspiel lässt eine vom Dreivierteltakt beschwingte, geradezu tänzerisch anmutende melodische Linie erklingen, die am Ende in Legato-Achtelsprünge übergeht und eine Harmonisierung durchläuft, die sie in ihrer Aufwärtstendenz verstärkt und sich in den weit ausgreifenden Rückungen als typisch für diese Liedmusik erweisen wird: Es sind Rückungen von der Grundtonart G-Dur zur Subdominante C-Dur, aber von dort dann nach der Doppeldominante A-Dur und zurück zur Dominante D-Dur,- den Einsatz der melodischen Linie in der Grundtonart vorbereitend.

    Vor allem aber: Die Grundstruktur dieser melodischen Figur ist mit der identisch, die die melodische Linie auf den Worten der ersten beiden Verse beschreibt. Auf den Worten „Sie haben heut Abend Gesellschaft“ ist es eine in zwei Ansätzen aufsteigend angelegte: Nach einem Sekundsprung mit nachfolgender Tonregepetition schwingt sie sich nach einem Quintfall bei dem Wort „Abend“ nach einer neuerlichen Tonrepetition in tiefer Lage mit einem Sextsprung auf dem Wort „Gesellschaft“ in hohe Lage empor, um dort erst einmal, gefolgt von einer Viertelpause, in Gestalt wiederum einer Tonrepetition zu verharren.

    Das beschwingt tänzerisch sich gebende Vorspiel will wohl, so mutet es an, mit seinen Mitteln die helle gesellschaftliche Welt „da oben“ imaginieren, die Wolf sich als eine von vergnüglichen Tänzen erfüllte vorstellt. Und bemerkenswerterweise lässt er sie ja sogar in die Äußerungen des lyrischen Ichs hinein klingen, in Gestalt der Begleitung der melodischen Linie der Singstimme. Während diese, die seelische Verfassung desselben reflektierend, sich auf stockende, weil in immer neuen Ansätzen erfolgende Art und Weise aus mittlerer in hohe Lage hinauf bewegt, wird sie im Diskant immerzu von der gleichen, aus einer Kombination aus Achtel-Sekundsprung und Viertel-Sekundfall bestehenden Figur umtänzelt, die sich nach zwei Anläufen mit einem Sprung in hohe Lage aufschwingt, um von dort in einen sie wieder in mittlere führenden Sekundfall überzugehen.

    Das wirkt in seiner ganz und gar ungebrochenen Beschwingtheit und der Übergriffigkeit, in der es erfolgt, wie eine Verhöhnung des im Grunde ja doch stockenden Gestus´, in dem das lyrische Ich sich melodisch artikuliert. Und es zeigt, mit welcher liedkompositorischen Kunst Wolf hier die Psyche des lyrischen Ichs auslotet. Denn das übergriffige Eindringen der Tanzmusik des Vorspiels in die Liedmusik auf den Versen der ersten Strophe ist ja doch ein Eindringen in dessen Seele.

    Stockend mutet die Melodik hier nicht nur deshalb an, weil sie sich in von Viertelpausen eingegrenzten und jeweils einen Vers beinhaltenden Zeilen entfaltet, vor allem ist es ihre Grundstruktur, die diese Anmutung bewirkt: Durchweg entfaltet sie sich in der ersten Strophe in Gestalt von deklamatorischen Tonrepetitionen, die, und das in mehrfachen Anläufen, mit Sprüngen in höhere Lage übergehen, dort sich einem gedehnten Weiteranstieg oder Fall über eine Sekunde hingeben, um am Ende, bei dem Wort „Fenster“ nämlich, einen partiell gedehnten Fall von einem hohen „Fis“ zu einem „A“ in mittlerer Lage zu beschreiben, der bei den Worten „Bewegt sich ein Schattenbild“ über einen weiteren Sekundfall zu einer höchst eindrücklichen und die lyrische Aussage reflektierenden Abfolge von Tonrepetition auf der Ebene eines tiefen „Fis“ und einer ritardando vorzutragenden und in Cis-Dur mit Rückung nach Fis-Dur harmonisierten Kombination aus Quartsprung und Quintfall übergeht.

  • „Sie haben heut' Abend Gesellschaft“ (II)

    Wie völlig unberührt von dieser tiefe innere Betroffenheit zum Ausdruck bringenden, bei den Worten „Dort oben am hellen Fenster“ in Moll (d-Moll, a-Moll) harmonisierten und in einen regelrechten Absturz mit schmerzlichem Aufbäumen am Ende übergehenden Melodik begleitet das Klavier sie mit seiner tänzerischen Achtel-Viertelfigur. Und geradezu frech setzt es im nachfolgenden neuntaktigen Zwischenspeil die Artikulation dieser beschwingten Figuren fort.
    Allerdings so ganz unberührt auf Dauer dann doch nicht. Der Geist der Liedmusik auf der nachfolgenden Strophe scheint auf es überzugreifen. Und so beschreibt diese Achtel-Viertelfigur denn eine fallende Bewegung, die harmonisch mit einem Übergang von Fis-Dur nach a-Moll einhergeht, und sie sinkt am Ende in Basslage ab, besteht im Achtel-Teil nur noch aus verminderten Sekundsprüngen und wird schließlich ganz und gar abgelöst von einer ritardando vorzutragenden bogenförmigen Figur aus Oktaven, der ein forte angeschlagener und lang gehaltener fünfstimmiger E-Dur-Akkord nachfolgt.

    Er eröffnet die Liedmusik der zweiten Strophe. Und diese hebt sich auf kontrastive Weise von der der ersten ab. Die melodische Linie geht zu einem deklamatorischen Gestus über, einsetzend bei den Worten „Du siehst mich nicht“ mit einem Fall über das Intervall von zwei Terzen, wobei die zweite eine verminderte ist, denn die Harmonik beschreibt hier eine Rückung nach E-Dur. Unter dem entsprechenden, wieder lang gehaltenen Akkord erklingt im tiefen Bass pianissimo dumpf grummelnd das Achtel-Viertel-Motiv, und eine lange drei Viertel einnehmende Pause folgt für die Singstimme nach. Wolf folgt also hier nicht der Anlage des ersten Verses, und auf diese Weise wird der Aussage des lyrischen Ichs ein starker Nachdruck verliehen: Sie wird zum Ausdruck tiefen existenziellen Getroffen-Seins.

    Kein Wunder also, dass die melodische Linie bei den nachfolgenden Worten „im Dunkeln / Steh' ich hier unten allein“ in langer, fünfmaliger Repetition in tiefer Lage verharrt, nun in a-Moll harmonisiert und vom Klavier im Diskant mit der aus partiell verminderten Sekundschritten bestehenden Achtel-Viertelfigur begleitet. Bei den Worten „hier unten sinkt sie sogar über einen Sextfall auf eine noch tiefere, um seine Sekunde abgesenkte tonale Ebene ab, um sich Ende, bei dem Wort „allein“ wie mühsam und gequält in einem Sekundschritt zu einem gedehnten „E“ in tiefer Lage zu erheben. Und das Klavier bringt diese innere Qual zum Ausdruck, indem es im Diskant eine in hohe Lage emporschießende und mit einem Crescendo sich ins Forte steigernde Folge von Achteln erklingen lässt, die wie ein Aufschrei anmutet.

    Bis zum Ende der Strophe bleibt die melodische Linie bei ihrem deklamatorischen Gestus, steigert dessen Expressivität sogar noch. Auf den Worten „Noch wen´ger kannst du schauen“ liegt eine partiell gedehnte, forte und „langsamer“ vorzutragende Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines „F“ in hoher Lage, die sich in zwei Sekundschritten absenkt, um danach erneut in eine Repetition überzugehen. Sie wird vom Klavier mit einem lang gehaltenen fallenden und sforzato ausgeführten B-Dur-Akkord begleitet, der von drei fallenden E-Dur-Akkorden abgelöst wird.

    Die mit einem E-Dur einsetzende Harmonik dieser Strophe hat nun also über ein lange vorhaltendes a-Moll und ein B-Dur die Tonalität E-Dur erreicht, - Ausdruck der tiefen seelischen Verstörung des lyrischen Ichs. Und diese schlägt sich auch in der melodischen Linie nieder, denn bei den Worten „In mein dunkles Herz hinein“ beschreibt die melodische Linie einen Anstieg in Terzschritten, den sie nach einer Dehnung auf der ersten Silbe von „dunkles“ in einen Fall über die gleichen Intervalle umkehrt und ritardando über zwei Sekundschritte weiter in die Tiefe fortsetzt. Bei dem „Dis“ in tiefer Lage, auf dem dieser Fall endet, vollzieht die Harmonik eine Rückung nach H-Dur und akzentuiert damit die tiefe Betrübnis, den die melodische Linie hier zum Ausdruck bringt.

    Während der Dehnung, in die dieser verminderte Sekundfall auf „hinein“ mündet, lässt das Klavier, das beim zweiten Verspaar der zweiten Strophe mit lang gehaltenen Akkorden begleitete, die grummelnde Achtel-Viertelfigur in tiefer Basslage erklingen, und das setzt es nun auch im Zwischenspiel vor der dritten Strophe auch fort, allerdings dergestalt, dass es diese Figur im vierten Takt mit einem Mal in den Diskant springen lässt, verbunden mit einem Übergang zu einem „weichen“ Anschlag im Piano und einer harmonischen Rückung vom vorangehenden e-Moll und H-Dur zur Grundtonart G-Dur, das zur Dominante D-Dur übergeht, um den Einsatz der melodischen Linie auf den Worten der dritten und letzten Strophe vorzubereiten.

    Die tiefgreifende Diskrepanz in den lyrischen Aussagen, das Liebesbekenntnis des lyrischen Ichs, das Geständnis eines gebrochenen Herzens und die schmerzliche Klage über die existenzielle Verlorenheit, - all das bringt die Liedmusik hier auf tief anrührende Weise zum Ausdruck. Wie überaus kunstvoll Wolf dabei vorgeht, lässt die auf den beiden ersten Versen erkennen. Schon das Zwischenspiel deutet ja an, dass sie zum Geist der ersten Strophe zurückkehrt. Und tatsächlich stellt die melodische Linie auf den Worten „Mein dunkles Herze liebt dich, / Es liebt dich und es bricht“ in ihrer Grundstruktur eine Variation derjenigen dar, die auf den Worten des ersten Verspaars der ersten Strophe liegt. Aber sie soll nun „mit zunehmender Leidenschaft“ vorgetragen werden, und so lässt denn auch das Klavier den Achtelfall im Übergang zur zweiten Melodiezeile in Gestalt von Viertel-Oktaven erklingen, und die anfängliche Tonrepetition ist nun auf den Worten „es liebt dich und…“ als ausdrucksstarke Folge von gedehnten und kurzen deklamatorischen Schritten angelegt.

  • „Sie haben heut' Abend Gesellschaft“ (III)

    Den Worten „es bricht“, die bei Heine in einen durch die viermalige Wiederholung der Konjunktion „und“ geprägten Kontext eingebunden sind, verleiht Wolf eine deutlich höhere Bedeutsamkeit. Er will, dabei auf für Heine so typischen Aussage-Bruch abzielend, den lyrischen Text interpretieren und setzt dafür hohe liedkompositorische Kunst ein. Hier besteht diese darin, dass er auf die Worte „es bricht“ einen in eine Dehnung mündenden verminderten melodischen Sekundfall legt, der mit einen ausdrucksstarken harmonischen Rückung von a-Moll zu verminderter Dis-Harmonik einhergeht, Dann lässt er eine lange Pause für die Singstimme folgen, in der das Klavier erneut – und das wieder forte – seinen Sekundfall von partiell gedehnten Vierteloktaven erklingen lässt. Das dreifache „und“ im dritten Vers setzt er liedmusikalisch in der Weise um, dass er die melodische Linie bis zum letzten Fall auf der Ebene eines hohen „Fis“ in Repetitionen verharren lässt, dies allerdings mit einem Crescendo versehen, in einer Rückung von fis-Moll nach H-Dur harmonisiert und vom Klavier im Diskant mit der Achtel-Viertel-Figur in oktavischer Gestalt, im Bass mit einem Wechsel von Oktaven und mehrstimmigen Akkorden begleitet.

    Und dann, bei dem Wort „verblutet“ ereignet sich die expressive Aufgipfelung der Liedmusik. Aus einer zweifachen Tonrepetition auf der Ebene eines hohen „Fis“ beschreibt die melodische Linie fortissimo einen Terzsprung mit nachfolgend gedehntem Sekundfall, und sie ist dabei in verminderte Fis-Harmonik gebettet. Bei den nachfolgenden Worten „du aber siehst es nicht“ geht sie, in einer Rückung von G-Dur nach H-Dur harmonisiert, in einen dreischrittigen Fall über das Intervall einer Sexte über, der mit der Vortragsanweisung „zurückhalten“ versehen ist. Sie reflektiert darin die tief schmerzliche Resignation, die Wolf aus diesem Schlussvers herausgelesen hat und für so bedeutsam hält, dass er zum Mittel der Wiederholung greift.

    Nach einer Dreiviertelpause Beschreibt sie auf den Worten „du aber“ erneut einen Fall, dieses Mal eine Sekunde höher ansetzend und in drei nun gedehnten Schritten und a-Moll-Harmonisierung erfolgend. Er wird in einem Decrescendo vom Forte zum Piano vorgetragen und bringt, auch weil das Klavier in vorab in Gestalt von Oktaven hat erklingen lassen, die Schmerzlichkeit auf expressiv gesteigerte Weise zum Ausdruck. Auf den wiederholten Worte des letzten Verses liegt dann eine „pp“ und „ritardando“ vorzutragende und nun vollkommene Resignation vernehmen lassende Fallbewegung in Sekundschritten von einem „D“ in unterer Lage zu einem sehr tiefen und eine lange Dehnung tragenden „H“ auf dem Wort „nicht“, das auf diese Weise einen starken Akzent erhält.

    Ungewöhnlich das lange, tatsächlich 27 Takte umfassende Nachspiel. Erst ergeht sich das Klavier darin in der Wiederholung des aus der Achtel-Viertelfigur bestehenden Zwischenspiels vor der dritten Strophe. Dann aber, nach einer akkordisch geprägten und harmonisch starke Rückungen von h-Moll über F-Dur, Es-Dur und verminderte Tonalität beschreibenden Phase ereignet sich geradezu Verblüffendes. „Lustig“ lautet hier die Anweisung, und es erklingt eine tatsächlich überaus lustig und beschwingt anmutende Tanzmusik im Dreivierteltakt, die sich ins Fortissimo steigert und in einen in hoher Lage ansetzenden Fall von vierstimmigen Akkorden im Diskant übergeht, dem im Bass Achtel-Oktavfolgen entgegenlaufen. Das Ganze mündet in einen im dreifachen Forte vorzutragenden und taktlang gehaltenen verminderten G-Akkord, dem ein lakonischer, weil nur den Wert eines Achtels in Anspruch nehmender Schlussakkord in der Grundtonart G-Dur nachfolgt.

    Was hat sich da ereignet?
    Doch wohl der liedmusikalische Ausdruck von bitterem Sarkasmus. Die heitere, von sich in Tanzvergnügen ergehende Welt der Geliebten geht in gnadenloser Ignoranz über das tiefe seelische Leid des Liebenden hinweg.
    In diesem Umschlag der Liedmusik in schieren Sarkasmus am Ende lässt sie erkennen, wie tief Hugo Wolf in die Aussage der Heine-Lyrik vorgedrungen ist. Tiefer, als dies das lyrische Wort zum Ausdruck zu bringen vermag.

  • „Ich stand in dunkeln Träumen“

    Ich stand in dunkeln Träumen
    Und starrte ihr Bildnis an,
    Und das geliebte Antlitz
    Heimlich zu leben begann.

    Um ihre Lippen zog sich
    Ein Lächeln wunderbar,
    Und wie von Wehmutstränen
    Erglänzte ihr] Augenpaar.

    Auch meine Tränen flossen
    Mir von den Wangen herab -
    Und ach, ich kann´s nicht glauben,
    Daß ich dich verloren hab'!

    Die lyrische Evokation des Grundthemas, um das Heines Gedichte in immer neuen Anläufen kreisen, die verloren gegangene oder keine Erfüllung findende Liebe, ereignet sich hier auf höchst kunstvolle Weise: Im Umschlag eines im temporalen Imperfekt erfolgenden Berichts einer traumhaften Begegnung mit der ehemaligen Geliebten in die erst ganz am Ende im Präsens sich ereignende direkte Ansprache dieselbe. Die imaginative Kraft der Traumbilder ist so groß, dass das längst verloren gegangene Du in die Gegenwart des lyrischen Ichs geholt wird, die allerdings eine höchst klägliche ist, wie das der einleitende Ausruf „und ach“ zum Ausdruck bringt.

    Wie hochgradig artifiziell die so schlicht und einfach daherkommende lyrische Sprache ist, und wie groß das daraus sich konstituierende evokative Potential von Heines Metaphorik, das lässt die erste Strophe auf eindrückliche Weise erkennen. Er lässt das lyrische Ich nicht einfach träumen, er stellt es in einen Traum, und dies auch nicht in einen einfach dunklen, sondern einen „dunkeln“. Dies vom Partizip sich herleitenden Variante des Adjektivs „dunkel“ vermag die Dunkelheit noch zu steigern, und das „Stehen“ im Traum hebt diesen über das einfache und unbedeutende passive Erleben hinaus auf die einer gewichtigen und bedeutsamen Erfahrung. Und dazu gehört, dass das Bildnis der Geliebten dem Ich nicht erscheint, sondern von ihm aktiv angestarrt wird und in dieser von den Verben „stehen“ und „starren“ geprägten Erfahrungssituation mit einem Mal „zu leben“ beginnt, - und dies nicht einfach so, sondern „heimlich“, das heißt in zaghafter, zarter und nur vom Ich erfahrbarer Weise.

    Und wenn dann die traumhafte Geliebte dem lyrischen Ich nicht einfach lächelnd und weinend begegnet, sondern in dem so überaus fein und kostbar gezeichneten Bild eines sich „wunderbar“ um die Lippen ziehenden Lächelns und von „Wehmutstränen“ erglänzendem „Augenpaar“, „Wehmutstränen, - ein Kompositum, wie es nur ein Heine hinbringt, - dann wird mit einem Mal voll verständlich, warum die Zahl der Komponisten so unendlich groß ist, die Heine nicht widerstehen konnten. Auch ein Schubert ist darunter, und er wurde von eben diesem Heine zu einigen seiner größten Liedkompositionen inspiriert. Eine Besprechung derselben findet sich hier: Schuberts „Schwanengesang“ und seine Begegnung mit der Lyrik Heinrich Heines

    Und Hugo Wolf?
    Als in seiner Sensibilität für Lyrik Schubert sogar noch übertreffender Musiker und Komponist vermochte er sich natürlich der dem magischen lyrisch-sprachlichen und metaphorischen Potential von Heines Lyrik nicht zu entziehen, und in seiner damaligen Situation großen Liebe zum für ihn im Grunde unerreichbaren, nie nur einem Mann treu bleiben könnenden Flattergeist „Vally“ musste dieses Gedicht eine starke Anziehungskraft auf ihn ausgeübt haben.

    Eine melodisch lange ruhig sich entfaltende, Innigkeit und Wehmut atmende, aber von einem unruhigen Achtel-Klaviersatz vorangetriebene und am Ende in der Wiederholung der beiden Schlussverse schmerzlich aufgipfelnde Liedmusik ist daraus hervorgegangen. Sie lässt unmittelbares Angesprochen-Sein, ja sogar Betroffenheit von der Aussage des lyrischen Textes vernehmen und vermag dies voll und ganz an ihre Rezipienten weiterzugeben. „Innig, ziemlich langsam“ soll sie vorgetragen werden. Ein Zweivierteltakt liegt ihr zugrunde, und als Grundtonart ist As-Dur vorgegeben.


  • „Ich stand in dunkeln Träumen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Das achttaktige Vorspiel führt auf ausdrucksstarke Weise in ihren Geist, dieses schmerzlich-wehmütige Leiden unter dem Verlust der Geliebten ein. Es besteht aus einer „sehr ausdrucksvoll“ und im Piano vorzutragenden Folge von Achteln in Bass und Diskant, die eigenständig und partiell gegenläufig eine ansteigende und fallende Bewegung beschreiben, die im Diskant nach einem Fall auf oberer tonaler Ebene verharrt und den auftaktigen Einsatz der melodischen Linie der Singstimme trägt. In seiner Harmonisierung vermag dieses Vorspiel auf höchst subtile Weise die Seelenlage des lyrischen Ichs gleichsam vorab anzudeuten. Die Achtelfolge verbleibt zunächst in der Grundtonart As-Dur mit Zwischenrückung zur Dominante, aber durch eingelagerte Halbtonschritte schleicht sich hier schon Chromatik ein, und die wächst sich dann stärker aus, wenn die Harmonik, verbunden mit einem kurzen Anstieg der Dynamik ins Forte, eine Rückung nach Des-Dur und vor der Rückkehr zur Grundtonart gar eine nach F-Dur beschreibt.

    Hier, schon im Vorspiel, begegnet man der spezifischen und danach im Dialog von Melodik und Klaviersatz durchaus kunstvoll gestalteten Binnenspannung von äußerlicher Ruhe und innerer Erregung, die diese Liedmusik prägt und den Ausbruch in Expressivität an ihrem Ende so plausibel werden lässt.
    „Leise“, darin ihre Genese aus der monologischen Einsamkeit des lyrischen Ichs reflektierend, setzt die melodische Linie der Singstimme ein. Das erfolgt auftaktig und auf bemerkenswerte Weise: Es ist ein Halbtonschritt von einem „H“ zu einem „C“ den sie im Wert von halben Noten vollzieht. Auf dem in As-Dur harmonisierten Wort „stand“ liegt eine Dehnung (punktierte halbe Note), bevor die melodische Line in Gestalt einer Wiederholung dieses kleinen Sekundsprungs den Übergang zu dem Terzsprung auf dem Wort „dunkeln“ vollzieht.
    Das alles ist große Liedkompositionskunst. Der leiterfremde und „leise“ erfolgende Halbtonschritt auf dem Wort „ich“ lässt vernehmen, dass die melodische Linie aus der monologischen Einsamkeit eines leidenden lyrischen Ichs kommt, und der Terzsprung im Wert von halben Noten verleiht dem lyrisch so bedeutsamen Wort „dunkeln“ das ihm gebührende Gewicht. Auf dem Wort „Träumen“ ereignet sich anschließend ein mit einem Quintfall eingeleiteter und mit einer harmonischen Rückung zur Dominante eingeleiteter gedehnter Sekundanstieg, der die melodische Linie in ihrer Anmutung innig verhaltener Wehmut fortsetzt.

    Nun aber kommt mit dem zweiten Vers Handlung in den narrativen lyrischen Text, und die Liedmusik reagiert in der Weise darauf, dass das Klavier, das bislang mit steigend und fallend angelegten Achtelfiguren im Diskant begleitete, in der halbtaktigen Pause für die Singstimme im Diskant einen mit einem Crescendo versehenen Bogen aus ansteigenden und wieder fallenden Vierteln erklingen lässt, dem im Bass dann eine ähnliche Figur aus Achteln nachfolgt. Und auch die melodische Linie beschreibt nun eine Bewegung, die wie eine Fortsetzung und Weiterführung der vorangehenden Zeile in der gleichen Grundstruktur anmutet, dies aber auf einer um eine Sekunde angehobenen tonalen Ebene, so dass der Sekundanstieg in Halbtonschritten nun zu einer Aufgipfelung in einem hohen „F“ führt. Das lyrische Bild vom Anstarren des Bildnisses reflektiert die melodische Linie dergestalt, dass sie auf den Worten „starrte ihr“ in Gestalt einer dreischrittigen Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines hohen „Des“ verharrt, wobei die Harmonik eine Rückung vom vorangehenden Es-Dur zur Subdominante Des-Dur vollzieht.

    Sinnfällig wird, auf welch subtile Weise die Melodik den lyrischen Text in seiner Metaphorik reflektiert. Und das zeigt sich auch darin, dass Wolf auf das Wort „an“, nicht den ihm angesichts seiner Einsilbigkeit gebührenden Einzelton gelegt hat, sondern die melodische Linie einen Legato-Sekundanstieg im Wert von halben Noten beschreiben lässt, der in As-Dur harmonisiert ist und vom Klavier im Bass mit der pyramidenartigen Achtelfigur begleitet wird, die zuvor schon zweimal erklang. Dieser deklamatorisch gewichtige melodische Sekundanstieg auf der kleinen sprachlichen Partikel „an“ verleiht dem lyrischen Bild die Bedeutsamkeit, die ihm als Grundlage und Ausgangspunkt für alle nachfolgenden lyrischen Aussagen zukommt.

  • „Ich stand in dunkeln Träumen“ (II)

    Der Augenblick, in dem heimliches Leben in das traumhaft sich vergegenwärtigende Antlitz der Geliebten tritt, erfährt eine höchst eindrückliche liedmusikalische Evokation. Aus einer im bislang ruhigen Gestus erfolgenden Tonrepetition auf den Worten „und das“ geht die melodische Linie bei dem Wort „geliebte“ mit einem Quartsprung zu einem gedehnten verminderten Sekundfall auf der tonalen Ebene eines „As“ in hoher Lage über, dem eine lange taktübergreifende Dehnung mit nachfolgendem Sekundanstieg auf dem Wort „Antlitz“ nachfolgt, wobei die Harmonik eine Rückung zur Subdominante Des-Dur vollzieht. Das Klavier begleitet das mit steigenden und wieder fallenden Vierteln im Diskant und die gleiche Bewegung beschreibenden Achteln im Bass. Bei den Worten „heimlich zu leben begann“ vollzieht die melodische Linie, nach einer dreimaligen Tonrepetition in einen gedehnten und auf „leben“ mit einem Sechzehntelvorschlag versehenen Anstieg, der am Ende in einen Sekundfall mit Dehnung übergeht, wobei die Harmonik eine Rückung in die Dominante Es-Dur vollzieht. In dieser mit einem melismatischen Anflug versehenen Aufstiegsbewegung und ihrem Innehalten auf der Dominante wird dieses Erwachen von Leben auf eindrückliche Weise sinnfällig.

    Die das Gesicht der Geliebten vergegenwärtigenden lyrischen Bilder der zweiten Strophe weisen einen hohen affektiven Gehalt auf. Und die innere Erregung, die sie im lyrischen Ich bewirken, schlägt sich in einem Übergang der melodischen Linie zu lebhafterer, in Gestalt von kleinen ansteigend angelegten Zeilen erfolgender Entfaltung nieder, die das Klavier mit ebenfalls lebhaft anmutenden Legato-Figuren aus einem Achtelsprung im Bass und seiner Fortführung in einer steigenden Achteltriole im Diskant begleitet. Das alles ereignet sich musikalisch aber unter der ausdrücklichen Anweisung „leise“, handelt es sich doch bei aller seelischen Erregtheit um eine traumhafte Begegnung mit einer wesenhaft zarten Erscheinung.

    Wie tief das Ergriffen-Sein des lyrischen Ichs davon reicht, das bringt nicht nur die Melodik in den Figuren ihrer Entfaltung, sondern auch die Harmonik zum Ausdruck. Bei den Worten „um ihre Lippen“ beschreibt die melodische Linie auf „ihre“ einen verminderten Legato-Sekundfall, der in einen Terzsprung- und Fallbewegung übergeht, und in der Harmonik schlägt sich der affektive Gehalt dieses Bildes in der Weise nieder, dass sie die Grundtonart As-Dur in ein as-Moll verwandelt. Und das Tongeschlecht Moll ist noch einmal bei der wieder mit einem vermindernden Sekundanstieg einhergehenden und die Bewegung auf den Worten des ersten Verses wiederholenden melodischen Linie auf den Worten „und wie von Wehmutstränen“ angesagt.
    Bei den Worten „ein Lächeln wunderbar“ ist das aber nicht der Fall. Hier darf die melodische Linie in reiner As-Dur-Harmonisierung auf „wunderbar“ einen melismatischen, mit einem Sechzehntelvorschlag versehenen Sekundfall mit nachfolgendendem, in eine Dehnung mündenden Anstieg in zwei Sekundschritten beschreiben. Und auch das lyrische Bild vom „glänzenden Augenpaar“ bewirkt, dass die melodische Linie am Ende einen nun in Rückung von der Doppeldominante B-Dur zur Dominante Es-Dur harmonisierten melismatischen Legato-Sekundfall beschreibt, der über einen Sekundanstieg in einer Dehnung auf der Terz zum hier als Grundton fungierenden „Es“ endet.

    Dieses offene Ende der Liedmusik auf der zweiten Strophe will sagen, dass die das lyrische Ich so tief berührende Begegnung mit dem Traumbild der Geliebten ja noch nicht zu Ende ist, vielmehr in ihren seelisch so erschütternden Folgen eine Fortsetzung erfährt. Und weil diese das lyrische Ich in einer es existenziell bis ins Fundament reichenden Weise angehen, bringt Wolf hier das kompositorische Mittel der Wiederholung zum Einsatz. „Belebter im Ausdruck“, soll die melodische Linie nun vorgetragen werden. In ihrer Struktur und ihrer Harmonisierung bringt sie auf in der Expressivität gesteigerte Weise die tiefe innere Betroffenheit des lyrischen Ichs von dem Traum-Erlebnis zum Ausdruck.

    Auf den ersten beiden Versen beschreibt sie in ihrer Grundstruktur sich ähnelnde, aber im zweiten Fall höhere tonale Lagen erreichende Anstiegsbewegungen. Bei ersten Vers ereignet sich dieser Anstieg in gleichsam zwei Anläufen, weil die melodische Linie nach dem in Halbtonschritten erfolgenden Terzsprung in hohe Lage bei dem Wort „Tränen“ in mittlere Lage zurückkehrt, um mittels zweifachen lang gedehnten, den Takt übergreifenden Sekundanstieg dem Wort „flossen“ die seinen affektiven Gehalt reflektierende Eindrücklichkeit zu verleihen. Dazu gehört, dass die Harmonik hier eine Rückung von einer verminderten „As“-Tonalität zur Dominante Es-Dur beschreibt.

  • „Ich stand in dunkeln Träumen“ (III)

    Den affektiven Gehalt der Worte „von den Wangen herab“ greift die Melodik dergestalt auf, dass sie nach einer in b-Moll harmonisierten dreimaligen Tonrepetition zu einem in Es-Dur gebetteten Sekundanstieg in hohe Lage übergeht, von dort aber bei „herab“ einen Terzfall mit nachfolgendem lang gedehntem, nun in As-Dur harmonisierten Legato-Sekundanstieg beschreibt, bei dem das Klavier, das bei dieser Melodiezeile nur mit steigend und wieder fallend angelegten Achtel-Quartolen im Bass begleitet hat, im Diskant aufsteigende Viertel erklingen lässt, die in der nachfolgenden Dreiviertelpause für die Singstimme in einen Fall aus hoher Lage übergehen, wobei die Dynamik sich ins Forte steigert.
    Auf diese Weise wird das vorbereitet, was Wolf aus dem dritten Vers macht. Weil er mit seinen liedmusikalischen Mitteln den affektiven Gehalt des lyrischen Textes voll ausloten will, löst er die Worte „und ach“ aus dem Kontext und legt auf sie eine von einer langen (drei Viertel) Pause gefolgte, in eine Dehnung übergehende Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines hohen „Es“., die das Klavier forte wieder mit seiner pyramidenartigen Achtelfigur im Bass begleitet.

    Die Worte „ich kann´s nicht glauben“ setzt er, und das ist ganz typisch für seine Liedsprache, in eine stark deklamatorisch-rezitativisch geprägte Melodik um, damit sie die tiefe seelische Erschütterung zum Ausdruck zu bringen vermögen, die er in ihnen vernimmt. Die melodische Linie verharrt hier auf der tonalen Ebene eines „F“ in tiefer Lage, erhebt sich davon nur in zwei rhythmisierten Halbtonschritten, um bei „glauben“ in einen gewichtigen, weil in deklamatorischen Schritten im Wert von halben Noten erfolgenden wiederum verminderten und in Des-.Dur-Harmonik verminderten Sekundfall von einem „Ges“ zu einem „F“ überzugehen. Bei den Worten „daß ich dich verloren hab´“ beschreibt die melodische Linie dann, darin die schreckliche Faktizität reflektierend, einen ausdrucksstarken und mit einer entsprechenden Rückung in das harmonisch weitab liegende F-Dur einhergehenden Oktavsprung, dem eine immer wieder in eine Dehnung übergehende Folge von Terz- und Sekundfällen in hoher Lage nachfolgt, wobei der wieder in eine Dehnung mündende Sekundanstieg auf dem Wort „hab´“ in b-Moll gebettet ist, der großen Schmerzlichkeit dieser Erkenntnis des lyrischen Ichs entsprechend.

    Die Wiederholung nutzt Wolf, um das affektive Potential dieser Schlussverse in Gestalt einer in ihrer Expressivität gesteigerten Liedmusik noch tiefer auszuloten. Die Worte „ich kann´s nicht glauben“ setzt er, und das ist ganz typisch für seine Liedsprache, in eine stark deklamatorisch-rezitativisch geprägte Melodik um, damit sie die tiefe seelischer Erschütterung zum Ausdruck zu bringen vermögen, die er in ihnen vernimmt. Die melodische Linie verharrt hier auf der tonalen Ebene eines „F“ in tiefer Lage, erhebt sich davon nur in zwei rhythmisierten Halbtonschritten, um bei „glauben“ in einen gewichtigen, weil in deklamatorischen Schritten im Wert von halben Noten erfolgenden wiederum verminderten und in Des-.Dur-Harmonik verminderten Sekundfall von einem „Ges“ zu einem „F“ überzugehen.

    Bei den Worten „daß ich dich verloren hab´“ beschreibt die melodische Linie dann, darin die schreckliche Faktizität reflektierend, einen ausdrucksstarken und mit einer entsprechenden Rückung in das harmonisch weitab liegende F-Dur einhergehenden Oktavsprung, dem eine immer wieder in eine Dehnung übergehende Folge von Terz- und Sekundfällen in hoher Lage nachfolgt, wobei der wieder in eine Dehnung mündende Sekundanstieg auf dem Wort „hab´“ in b-Moll gebettet ist, der großen Schmerzlichkeit dieser Erkenntnis des lyrischen Ichs entsprechend.

  • „Ich stand in dunkeln Träumen“ (IV)

    Die Wiederholung nutzt Wolf, um das affektive Potential dieser Schlussverse in Gestalt einer in ihrer Expressivität gesteigerten Liedmusik noch tiefer auszuloten. Dieses Mal liegt auf den Worten „und ach“ keine Tonrepetition, sondern ein Quartsprung, der in eine Dehnung auf der tonalen Ebene eines „G“ in hoher Lage übergeht und nun in C-Dur harmonisiert ist. Der lyrische Ausruf entfaltet auf diese Weise eine deutlich gesteigerte Expressivität. Bemerkenswert aber:
    Man würde, da es sich ja um eine Klage handelt, hier eigentlich Moll- oder verminderte Harmonik erwarten. Wolf aber lässt die Harmonik eine Rückung nach dem von der Grundtonart As-Dur weit entfernten C-Dur vollziehen, und das soll wohl so verstanden werden, dass sich dieses lyrische Ich, so wie er Heines Gedicht rezipiert hat, nicht aus der Haltung jämmerlicher Klage, sondern der des Erschreckens und Entsetzens äußert.

    Erst bei den Worten „ich kann´s nicht glauben“ erfährt die Schmerzlichkeit der in diesem Traum gemachten Erfahrung angemessenen Ausdruck. Nun verharrt die melodische Linie nicht in Gestalt von kleinen verminderten Anstiegs- und Fallbewegungen in tiefer Lage, sondern sie beschreibt eine dreimalige Tonrepetition auf der hohen tonalen Ebene des „G“, auf der die Dehnung auf dem Wort „ach“ gerade erklang, und dann vollzieht sie bei dem Wort „glauben“ einen äußerst ausdrucksstarken, mit einem Sekundsprung zu einem hohen „As“ einsetzenden und sich fortissimo in einer Legato-Dehnung über das Taktende hinaus erstreckenden Fall zu einem „H“ in mittlerer Lage, über das Intervall eine Septe also. Und dieser ist nun in verminderte As-Harmonik gebettet, und seine so große Expressivität wird vom Klavier noch dadurch gesteigert, dass es im Diskant fortissimo einen kontrastiven Anstieg von Vierteloktaven erklingen lässt, den im Bass ein über zwei Oktaven sich erstreckender Anstieg von Achteln begleitet.

    Diesem liedmusikalisch so geradezu gewaltigen Ausbruch in schmerzerfüllte Klage kann nur noch die resignative Erschöpfung nachfolgen. Und die bringt die melodische Linie auf den Schlussworten „daß ich Dich verloren hab'“ auch tatsächlich zum Ausdruck. In Gestalt einer in Kadenzrückung Tonika-Dominante harmonisierten melodischen Linie, die nach einem kläglich anmutenden verminderten Sekundfall und Wiederanstieg auf „daß ich dich“ und der nachfolgenden Achtelpause auf dem Wort „verloren“ eine lang gedehnte bogenartige, sich über das Intervall einer Quarte erstreckende Bewegung beschreibt, die auf dem Grundton „As“ ansetzt und bei dem Wort „hab´“ zu ihm wieder zurückkehrt. Das ist überzeugender Ausdruck resignativer Anerkennung von Faktizität. Und das Klavier begleitet hier aus eben diesem Grund abweichend von seiner bisherigen Verfahrensweise mit einer Folge von lang gehaltenen drei- und vierstimmigen Akkorden im Diskant.

    Und im achttaktigen Nachspiel wiederholt es „wie zu Anfang“ (Anweisung) sein im Grunde um dieses Ende schon wissendes Vorspiel, lässt es dann aber nach einem wie ein Erschrecken wirkenden Innehalten in Gestalt einer akkordischen Ges-Dur-b-Moll Rückung pianissimo in einem mit Achteln eingeleiteten Fall von Sexten auf den Tonika As-Dur ausklingen.

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  • „Das ist ein Brausen und Heulen“

    Das ist ein Brausen und Heulen,
    Herbstnacht und Regen und Wind;
    Wo mag wohl jetzo weilen
    Mein armes, banges Kind?

    Ich seh' sie am Fenster lehnen
    Im einsamen Kämmerlein;
    Das Auge gefüllt mit Tränen,
    Starrt sie in die Nacht hinein.

    Die erste Strophe evoziert in starken, sprachlich den substantivischen Gestus nutzenden lyrischen Bildern eine schreckenerregende Herbstnacht, die das lyrische Ich in die bange Frage nach dem Verweilen des geliebten Du drängt, das angesichts der bedrohlichen realweltlichen Gegebenheiten für es zu einem „armen, bangen Kind“ wird.
    Heine treibt mir diesen Worten am Ende der ersten Strophe ein geschicktes lyrisches Spiel. Denn der Rezipient meint ja zunächst, dass es hier um ein wirkliches Kind geht.

    Die zweite Strophe aber macht schon im ersten Vers aus diesem eine „sie“ und lässt damit in die Seele dieses lyrischen Ichs blicken. Den auf die Außenwelt Bezug nehmenden lyrischen Aussagen der ersten Strophe tritt nun eine Folge von lyrischen Bildern gegenüber, die in der seelischen Innenwelt des lyrischen Ichs durch die realweltlichen Gegebenheiten ausgelöst werden. Die Worte „ich seh´ sie“ verraten, dass es sich dabei um eine rein imaginative Vergegenwärtigung der Geliebten handelt. Und die Subtilität von Heines Lyrik zeigt sich in diesem Fall darin, dass offen bleibt, wie weit es sich bei dem Bild einer im einsamen Kämmerlein am Fenster lehnenden und mit Tränen in den Augen in die Nacht starrenden Person um eine ihr tatsächliches Wesen treffende Imagination handelt, oder vielmehr um ein reines Wunschbild.

    Das extrem große und sich lyrisch-sprachlich in die Nähe der Trivialität (einsames Kämmerlein, von Tränen gefüllte Augen, Starren in die Nacht) vorwagende affektive Potential, das Heine in diesen Bildern verliehen hat, legt nahe, dass sich in ihnen die tiefe, aber letztlich unerfüllbare Sehnsucht des lyrischen Ichs ausdrückt, ein solches Wesen zur Geliebten zu haben. Und so wäre denn der eigentliche thematische Gegenstand dieser Verse – wie üblich bei Heine – die seelische Befindlichkeit eines existenziell wesenhaft einsamen und nach lieberfüllter Zweisamkeit sich sehnenden lyrischen Ichs. Für den sie in Liedmusik umsetzenden Komponisten wäre also, so er die lyrische Aussage erfassen will, die zweite Strophe der eigentliche Ansatzpunkt. Der ersten käme nur eine Art Rahmenfunktion zu, etwa in Gestalt einer musikalisch-klanglichen Evokation der in „Brausen“, „Heulen“, „Regen und Wind“ sich präsentierenden Welt.

    Und Hugo Wolf hat – natürlich, möchte man eigentlich sagen - diese durchaus poetisch kunstvolle innere Anlage dieses Heine-Gedichts voll erfasst. Seine Liedkomposition lässt das sehr deutlich vernehmen: Dem Klaviersatz ist die klangliche Evokation dieser realweltlichen Gegebenheiten zugewiesen, während die Melodik die seelische Innenwelt des lyrischen Ichs reflektiert. Aber das wäre keine Wolf-Komposition, handelte es sich dabei um einen simples Nebeneinander zweier musikalischer Welten. Zwischen der Art und Weise, wie sich die melodische Linie der Singstimme und der Klaviersatz entfalten, lassen sich vielgestaltige Interaktionen feststellen.


  • „Das ist ein Brausen und Heulen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    „Bewegt“ soll die Liedmusik vorgetragen werden. Sie steht in f-Moll, bzw. As-Dur als Grundtonart, und ein Viervierteltakt liegt ihr zugrunde. Ihr Geist klingt gleich im zweitaktigen Vorspiel auf. Es ist der einer geradezu stürmisch anmutenden Rasanz der Entfaltung. Im Diskant, dort allerdings im Bassschlüssel, stürmen, darin begleitet von Einzel-Achteln im Bass, in f-Moll harmonisierte Achtel-Oktaven in Sekundschritten aus tiefer in hohe Lage empor und gehen danach in einen Fall über das Intervall einer Terz über, um schließlich, vor dem Einsatz der Singstimme in einem Auf und Ab zu verharren. Dabei beschreibt die Dynamik ein sich zum Forte steigerndes Crescendo und schwächt sich danach wieder ab.
    Der Klaviersatz besteht in der ersten Strophe durchgehend aus der lebhaften Bewegung von Achteloktaven im Diskant und Einzelachteln, aber auch Oktaven im Bass, und dies in einem durchaus großen Ambitus und andererseits auch dem kurzzeitigen Verharren in Repetitionen auf der gerade eingenommenen tonalen Ebene.

    Diese Struktur des Klaviersatzes bringt den Gestus stürmischer Atemlosigkeit in die Liedmusik, der den Charakter dieser Komposition so stark prägt. Er erfährt noch eine Steigerung dadurch, dass in der zweiten Strophe aus den Oktaven dreistimmige Achtelakkorde werden. Wenn sie, wie auch in der ersten Strophe, beim ersten Verspaar in ein Verharren in Repetitionen übergehen, treten ihnen nun im Bass lebhaft auf und ab steigende Achtelquartolen gegenüber, bis sie dann beim letzten Verspaar selbst wieder zu einer Bewegung in Gestalt einer Pyramide übergehen, wie das im Vorspiel auf gleichsam programmatische Weise ja schon geschah.

    Dem Klaviersatz ist ganz offensichtlich die Funktion einer klanglichen Evokation der Grundsituation zugewiesen, wie sie die beiden ersten Verse des lyrischen Textes lyrisch-sprachlich skizzieren, und da alle nachfolgenden lyrischen Aussagen sich gleichsam innerhalb derselben entfalten und daraus ihre poetische Relevanz beziehen, behält der Klaviersatz nicht nur in der Begleitung der Melodik, sondern auch im Zwischen- und Nachspiel die gleiche Grundstruktur.
    Die Art und Weise, wie er sich entfaltet, lässt aber sehr wohl die Intention vernehmen und erkennen, als eigenständiger liedmusikalischer Faktor aufzutreten. An keiner Stelle beschränkt er sich darauf, der melodischen Linie in ihren Bewegungen zu folgen oder ihr gar nur ein klangliches Bett zu bereiten. Immer wieder einmal tritt er ihr mit gegenläufigen Bewegungen gegenüber, und wenn er im Diskant einmal in Repetitionen verharrt, derweilen sie sich ebenfalls in nur wenigen deklamatorischen Schritten von ihrer tonalen Ebene wegbewegt, sorgen lebhafte Auf und Ab-Bewegungen von Achteln im Diskant dafür, dass die lyrische Grundsituation großer Unruhe und stürmischer Bewegung erhalten bleibt.

    Und das hat ja einen guten Grund, denn bei dieser lyrischen Grundsituation handelt es sich nicht nur um eine realweltliche, sondern auch um eine innerseelische des lyrischen Ichs. Und Wolf setzt dieses spezifische Merkmal seiner Liedmusik, die absolute Eigenständigkeit des Klaviersatzes im dialogischen Verhältnis zu melodischen Linie der Singstimme, ein, um eben diesen lyrischen Sachverhalt auf eindrückliche Weise zum Ausdruck zu bringen. Insofern stellt diese Liedkomposition ein bemerkenswertes Dokument seines Weges hin zu einer eigenen, sich von der Schumannschen auf markante Weise abhebenden Liedsprache dar.

    Die Melodik des Liedes reflektiert in der Art ihrer Entfaltung sowohl die lyrisch-realweltliche Grundsituation, als auch das Geschehen im seelischen Innenraum des lyrischen Ichs. Wie getrieben von der stürmischen Unruhe des Klaviersatzes setzt sie beim ersten Vers ein. Und sie beschreibt dabei sogar die gleiche pyramidenartige Bewegung wie dieser, geht bei „Brausen“ zu einem Quartsprung in hohe Lage über, vollzieht danach zu dem „und“ hin einen Sturz über eine ganze Oktave, um schließlich bei „Heulen“ nach einem Sprung über eine Sexte einen lang gedehnten Sekundfall in hoher Lage vorzunehmen, wobei die Harmonik von f-Moll nach b-Moll übergeht. Und bei diesem Gestus der lebhaften Entfaltung in großem Ambitus bleibt sie, darin die lyrische Aussage reflektierend, auch beim zweiten Vers. Wieder ist es eine pyramidenartige, am Ende in einen Sprung in hohe Lage übergehende Bewegung, die sie hier beschreibt, und sie mutet in dem inneren Getrieben-Sein sogar noch gesteigert an.

    Denn bei dem Wort „Herbstnacht“ vollzieht sie erst einmal, dessen Semantik entsprechend, einen Terzfall in tiefe Lage, geht dann aber zu dem Wort „Regen“ hin zu einem Anstieg im Intervall einer Sexte über, um – wie beim ersten Vers – zu dem Wort „und“ hin einen Fall nun über eine Quinte zu beschreiben, dem ein Sprung über eine Sexte nachfolgt, auf dass sie sich bei „Wind“ einer langen Dehnung in hoher Lage überlassen kann, bei der die Harmonik eine ausdrucksstarke Rückung vom vorangehenden f-Moll über G-Dur nach C-Dur vollzieht.

  • „Das ist ein Brausen und Heulen“ (II)

    Typisch für die Eigenständigkeit des Klaviersatzes ist dabei, dass er mit seinen Oktaven im Diskant den Bewegungen der melodischen Linie keineswegs folgt, sondern sein pyramidenartiges Auf und Ab nun zweimal pro Takt vollzieht, so dass er bei den Worten „und Wind“ einen zur melodischen Linie gegenläufigen Fall beschreibt, in der nachfolgenden Viertelpause für die melodische Line aber in einen in Diskant und Bass synchron erfolgenden Oktaven-Sturzfall in tiefe Lage übergeht. Auf diese liedkompositorisch höchst kunstvolle Weise ereignet sich hier die musikalische Evokation des lyrischen Bildes der ersten beiden Verse.

    Wenn das lyrische Ich mit dem zweiten Verspaar die es tief bewegende und beängstigende Frage nach dem „armen bangen Kind“ stellt, reflektiert das die melodische Linie dergestalt, dass sie zu einer wellenartig gebundenen und weiter phrasierten, also nicht mehr von einer Pause unterbrochenen Entfaltung übergeht. Die Eindringlichkeit der Frage kommt dabei in der Weise zum Ausdruck, dass sie zwei Mal, und zwar bei den Worten „weilen“ und „banges“ einen gedehnten Fall beschreibt, im ersten Fall einen nachdrücklichen, weil in Es-Dur harmonisierten über das Intervall einer Quinte, im zweiten einen eher kläglich anmutenden, in hoher Lage über eine Sekunde erfolgenden und in f-Moll gebetteten. Das Klavier begleitet hier durchgehend mit in der tonalen Ebene ansteigenden und wieder fallenden Achtel-Oktav-Repetitionen im Diskant, wobei aber die Oktaven im Bass, darin die innere Unruhe des lyrischen Geschehens reflektierend, steigende und wieder fallende Bewegungen beschreiben und bezeichnenderweise bei dem gedehnten Sekundfall auf „banges“ in einen Anstieg übergehen. Im Ritardando, Pianissimo und in f-Moll-Harmonisierung entfaltet sich die Liedmusik hier am Ende der ersten Strophe. Das lyrische Bild vom „armen bangen Kind“ steht schließlich in ihrem Mittelpunkt.

    Aber da ist ja noch die weiter bestehende und alles bedingende lyrische Grundsituation. Auf die von tiefer Seelennot kündende Frage des lyrischen Ichs reagiert das Klavier im viertaktigen Zwischenspiel mit unter permanenten Achtel-Akkordrepetitionen im Diskant geradezu dramatisch im Bass nach oben stürmenden und in einen gedehnten Fall übergehenden Achteloktaven. Die Anmutung von sowohl die Grundsituation als auch die Seelenlage des lyrischen Ichs reflektierender dramatischer Erregtheit kommt dadurch zustande, dass diese oktavischen Figuren sforzato in verminderter Des-Harmonik von Takt zu Takt in immer höhere tonale Lage steigen und schließlich im dritten Takt fortissimo in einen Sturz über zwei Oktaven übergehen.

    Wenn sich das lyrische mit den Worten „Ich seh' sie am Fenster lehnen / Im einsamen Kämmerlein“ dem Bild hingibt, das sich in seiner monologischen seelischen Innenwelt aufbaut, reflektiert das die Melodik zunächst mit einer stark von deklamatorischen Repetitionen geprägten und nur in Sekundschritten erfolgenden Entfaltung in mittlerer tonaler Lage. Dabei ist bemerkenswert, dass die Harmonik nun zum Tongeschlecht Dur übergegangen ist und eine Rückung von C-Dur nach F-Dur beschreibt. Nur die Worte „im einsamen Kämmerlein“ weisen einen so hohen Grad an affektiver Rührung auf, dass sich hier eine kurze Rückung nach g-Moll ereignet. Aber schon bei dem anfänglich gedehnten Fall der melodischen Linie erst über eine Sekunde und dann über eine Terz beschreibt die Harmonik wieder eine Rückung über den Dominant-Septakkord „C“ nach F-Dur.

    In dieser Struktur der melodischen Linie, ihrer Harmonisierung und in dem sie begleitenden, aus Akkordrepetitionen im Diskant und dem Auf und Ab von Achteln im Bass bestehenden Klaviersatz reflektiert die Liedmusik die Tatsache, dass die beiden ersten Verse der zweiten Strophe das lyrische Bild erst einmal in seiner Grundgegebenheit skizzieren. Mit dem dritten Vers beginnt es sich aber mit seinem affektiven Gehalt auszufüllen. Und prompt lassen Melodik und Klaviersatz von ihrem Gestus der Bewegung in engem Ambitus ab und gehen zu gleichsam schweifender Entfaltung über. Bei den Worten „Das Auge gefüllt mit Tränen“ setzt die melodische Linie auftaktig mit einem Sextsprung ein, geht auf der damit erreichten bereits hohen tonalen Ebene erst in eine rhythmisierte Tonrepetition, dann aber in einen weiteren Anstieg um eine Sekunde über, um schließlich auf dem Wort „Tränen“ einen lang gedehnten Sekundfall aus hoher Lage zu beschreiben, bei dem die Harmonik, wieder des hohen affektiven Gehalts wegen, eine Rückung ins Tongeschlecht Moll beschreibt, von F-Dur nach d-Moll nämlich.

  • „Das ist ein Brausen und Heulen“ (III)

    Auch das Klavier liefert nun einen Beitrag zur gesteigerten Expressivität der melodischen Linie, und bemerkenswerterweise nicht dadurch, dass es ihr mit seinen dreistimmigen Akkorden im Diskant in ihren Bewegungen folgt, vielmehr sind deren Bewegungen geradezu gegenläufig: Beim Anstieg der melodischen Linie auf den Worten „gefüllt mit“ ein Fall aus hoher in tiefe Diskantlage, und beim gedehnten Fall auf „Tränen“ ein Fortissimo- Aufstieg aus tiefer in hohe Diskantlage, der im Bass von Einzelachteln mitvollzogen wird. In der nachfolgenden Achtelpause für die melodische Linie auf dem letzten Vers gehen die dreistimmigen Akkorde mitsamt ihren Achteln im Bass in einen Fall über, um sich anschließend wieder in den Gestus der Repetition einzufinden. Die das lyrische Bild reflektierende und sich darin wegen seiner Bedeutsamkeit wiederholende melodische Linie erfordert das.

    Denn das ist in seiner Aussage ein hoch komplexes, vielsagendes. Drückt sich in ihm, da es sich ja um eine Imagination des lyrischen Ichs handelt, darin der Wunsch aus, es möge ein Leiden unter der Einsamkeit und Ausdruck der Sehnsucht nach ihm sein, was das tränenerfüllte Starren in die Nacht ausgelöst hat?
    Wolf scheint diese beiden Verse so gelesen zu haben. Die melodische Linie verfällt nach der aus einer Art Anlauf hervorgehenden Emphase des Fortissimo-Terzfalls auf dem Wort „Tränen“ in eine geradezu kontrastiv wirkende, das Wort „starren“ in seiner Semantik direkt in Musik setzende Starre. Nach einer partiell triolischen vierfachen Tonrepetition in tiefer Lage erhebt sich die melodische Linie um eine Terz, das aber nur, um sich dort erneut einer nun gedehnten zweimaligen Repetition hinzugeben und danach mit einem Sekundfall in eine Dehnung überzugehen. Das Klavier begleitet das mit repetierenden dreistimmigen Achtel-Akkorden im Diskant und Oktaven im Bass. Die Harmonik beschreibt dabei eine Rückung von F-Dur zu verminderter B-Harmonik.

    Nach einer relativ langen, nämlich einen halben Takt einnehmenden Pause wiederholt die melodische Linie in einem Ritardando diese tatsächlich wie in Starre verfallende Bewegung noch einmal. Dies nun in sogar noch tieferer Lage, indem sie nämlich mit ihrer vierfachen Repetition auf der tonalen Ebene eines „C“ in tiefer Lage ansetzt. Darin reflektiert sie die nächtliche Düsternis dieses Schlussbildes, und deshalb beschreibt sie nun bei den Worten „Nacht hinein“ einen Anstieg über eine große Terz und eine Sekunde zum eine Dehnung tragenden Grundton „F“, bei dem die Harmonik eine Rückung vom vorangehenden C-Dur zur Tonika f-Moll vollzieht.

    Wolf will das wohl als Ausdruck eines vom lyrischen Ich als Wunschbild imaginierten Versinkens in schmerzlicher, weil sich nach dem geliebten Du sehnender Einsamkeit verstanden wissen. Und darin würde er ja durchaus dem in diesen Versen wieder durchgespielten Grundmodell von Heines Lyrik gerecht.
    Dass er im Nachspiel die das lyrische Bild des ersten Verspaares musikalisch evozierende Achtel-Oktavbewegungen des Vorspiels noch einmal erklingen lässt, darf man durchaus als Bekräftigung seiner Rezeption dieses Heine-Gedichts verstehen.

  • Gerade lese ich bei Anselm Feuerbach:

    "Das echte Kunstwerk bedarf keiner Vermittlung. Es spricht oder schweigt, je nach Natur des Beschauers. Das echte Kunstwerk bildet uns, indem wir es genießen. Mangel an Erklärung befördert bekanntlich den Kunstgenuß sehr".

    Das dürfte nach meinem Eindruck wohl die große Mehrheit der Taminos auch so sehen.

    Aber was, so frage ich mich, hätte wohl Feuerbach mir entgegnet, wenn ich ihm meine nun viele hundert Male gemachte Erfahrung vorgehalten hätte, dass ich ein musikalisches Kunstwerk, das mir durch rein genießendes Hören wohlbekannt war, in dem, was es zu sagen hat, erst wirklich begriffen habe, nachdem ich mich in reflexiv-analytischer Betrachtung mit ihm befasst hatte? Da erst gingen mir die Lichter auf, die beim schieren Genuss für mich in der Dunkelheit verblieben waren.

    So erging mir das auch wieder bei diesen Wolf-Liedern auf Heine-Lyrik.

  • „Aus meinen großen Schmerzen“

    Aus meinen großen Schmerzen
    Mach' ich die kleinen Lieder;
    Die heben ihr klingend Gefieder
    Und flattern nach ihrem Herzen.

    Sie fanden den Weg zur Trauten,
    Doch kommen sie wieder und klagen,
    Und klagen, und wollen nicht sagen,
    Was sie im Herzen schauten.

    Das ist eine hoch artifizielle und darin typisch Heinesche lyrische Reflexion eigenen poetischen Seins und Tuns. Sie ereignet sich, darin eben diesen ihren Charakter offenbarend, in einer sich einfach gebenden Prosodie, die aber gleichwohl eine ein hohes evokatives Potential aufweisende Metaphorik beinhaltet. Zwar sind die Verse der beiden Strophen metrisch regelmäßig als dreifüßige Jamben mit klingender Kadenz angelegt, aber das subtile Bild vom „klingenden Gefieder“ der „kleinen Lieder“ erfährt, darin seine Semantik reflektierend, eine Hervorhebung durch einen klingenden Daktylus. Hinzu kommt, dass dieses lyrische Bild auch dadurch ein hohes Aussage-Potential erhält, dass es über den adjektivischen Kontrast „groß – klein“ in Bezug zu den Schmerzen gesetzt wird. Das Adjektiv „klein“ erfährt inhaltlich eine Ausfaltung und Konkretisierung dadurch, dass die „Lieder“ metaphorisch auf die Ebene von befiederten und „flatternden“ Wesen gehoben werden.

    Die poetischen Hervorbringungen des lyrischen Ichs wollen also keine gewichtig- bedeutsamen Werke sein, stellen vielmehr gestalterisch zarte Gebilde dar, die gleichwohl von hoher Sinnhaftigkeit sind. Die beziehen sie daraus, dass sie sich an einen geliebten Menschen richten und mit der Hoffnung versehen sind, dass sie daselbst ihre Botschaft zu überbringen vermögen.
    Dieses lyrische Bild hat Heine nun dadurch zu einem überaus ausdrucksstarken gemacht, dass er in der zweiten Strophe, die Metapher von den beflügelten Wesen aufgreifend und fortsetzend, die „kleinen Lieder“ zu mit Leben erfüllten Wesen macht, die davon sprechen können, was sie im Herzen der Geliebten vorfanden. Poetisch kunstvoll verfährt er auch hier, - in seinem sprachlichen Spiel mit dem Wort „klagen“. Er verleiht ihm lyrisches Gewicht dadurch, dass er es vom Ende des zweiten Verses mitsamt der Konjunktion am Anfang des dritten wiederkehren lässt.

    Indem er es mit dem Vokal „a“ in Gestalt sowohl eines End-, als auch eines Binnenreims an das Wort „sagen“ bindet, verleiht er der Aussage des Gedichts hohe schmerzliche Relevanz. Was die „kleinen Lieder“ zu „klagen“ haben, ist, dass der geliebte Mensch nichts zu sagen hat, - die Frage betreffend, wie es mit seiner Liebe dem lyrischen Ich gegenüber steht. Das will, und das macht eben seinen spezifisch artifiziellen Charakter aus, der lyrische Text aber nicht direkt zum Ausdruck bringt. Er verbirgt es in dem Wort „klagen“, steigert aber dessen Anmutung von Schmerzlichkeit dadurch, dass die Adressatin der „kleinen Lieder“ mit dem Wort „die Traute“ versehen wird. Dieser lyrische Griff nach einer altertümelnden Bezeichnung rückt das geliebte Du für das lyrische Du in eine besondere seelische Nähe.


    Und wieder stellt sich – diesen Thread ja leitende – Frage, ob und auf welche Weise Hugo Wolf diese spezifischen prosodischen, metaphorischen und inhaltlichen Gegebenheiten von Heines Lyrik aufzugreifen und in eine ihnen voll gerecht werdende Liedmusik umzusetzen vermag.
    Dass er sich durch die gleichförmige Anlage der beiden Strophen nicht dazu verleiten lässt, zum Strophenlied-Konzept zu greifen, vielmehr die Durchkomposition wählt, und dabei die zweite Strophe durch die stärkere Dur-Harmonisierung der melodischen Linie auf markante Weise von der ersten absetzt, darf wohl als starkes Indiz für die Tiefgründigkeit seiner Rezeption des lyrischen Textes gewertet werden.


  • „Aus meinen großen Schmerzen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Ein zweites und durchaus gewichtiges Indiz für die Tiefgründigkeit von Wolfs kompositorischer Rezeption dieses Heine-Gedichts ist der hochgradig eigenständige Klaviersatz den er der melodischen Linie der Singstimme als Begleitung beigibt. In seiner durchgängigen Entfaltung in Gestalt von kontinuierlichen Sechzehntel-Figuren im Diskant und sprunghaft angelegten Achtelfiguren im Bass lässt er bereits den späteren, zur vollen Reife seiner Liedsprache gelangten Hugo Wolf vernehmen.

    Schon im viertaktigen Vorspiel klingt er auf, dies auf der Grundlage eines Zweivierteltaktes und mit der Vortragsanweisung „etwas geschwind“ versehen. Dreier- und Vierergruppen von Sechzehnteln beschreiben legato, „zart“ und piano eine zweimalig bogenförmige und in Rückung von g-Moll über c-Moll nach D-Dur harmonisierte Bewegung, die sich als vorausgehendes Aufklingen der Grundstruktur der melodischen Linie der Singstimme erweisen wird. Und dass dies in Gestalt von in ihrem Auf und Ab zierlich-flatternd anmutenden Sechzehntel-Figuren geschieht, ist wohl als klangliche Imagination ihres Geistes aufzufassen und zu verstehen.

    Es ist der der Heineschen „kleinen Lieder“, die mit ihrem „klingenden Gefieder“ nach der Herzen der Geliebten flattern. Wolf lässt sie das schon in seinem Vorspiel tun, und wenn das Klavier in der Begleitung der Singstimme diesen Gestus bis zum Ende beibehält und auch das Nachspiel darin ausklingt, dann zeigt sich darin, dass der spezifische Charakter dieser lyrischen Aussage voll erfasst ist: Dass sie sich im Medium einer filigran-zarten Metaphorik konstituiert, die ihren existenziell so hoch relevanten Kern, die Erfahrung von Einsamkeit in der Sehnsucht nach erfüllter Liebe nämlich, umso schmerzlicher werden lässt.

    Die Melodik entfaltet sich in der ersten Strophe in Gestalt von zwei Zeilen, die jeweils ein Verspaar beinhalten und voneinander durch eine Dreiachtelpause abgehoben sind. Sie weisen eine ähnliche Grundstruktur auf: Die melodische Linie beschreibt zwei bogenförmige Bewegungen, wobei die erste auf der gleichen tonalen Ebene eines hohen „D“ ansetzt und bei den Worten „Schmerzen“ und „Gefieder“ einen gedehnten Terzfall beschreibt, der allerdings im zweiten Fall, also bei „Gefieder“ in einer um eine Terz angehobenen tonalen Ebene ansetzt, weil sich die melodische Linie bei den Worten des dritten Verses in höhere tonale Lage hinaufbewegt. Das lyrische Bild vom „klingenden Gefieder“ ist dafür verantwortlich, und es bewirk auch, dass die gedehnte Fallbewegung eine andere Harmonisierung aufweist. Bei „Schmerzen“ ist sie in g-Moll harmonisiert, bei „Gefieder“ dann aber in einer Rückung von F-Dur nach B-Dur. In beiden Fällen begleitet das Klavier im Diskant mit einer identischen Figur: Einer Kombination aus einem dreifachen Sechzehntel-Sekundanstieg und einer quartolischen Sprung- und Fall-Figur.

    Dieses Arbeiten mit sich wiederholenden strukturell sich ähnelnden oder gar identischen melodischen Bewegungen und Klaviersatzfiguren verleiht der Aussage des lyrischen Ichs einen Grad an gewichtiger bekenntnishafter Eindrücklichkeit, die weit über das hinausgeht, was der lyrische Text diesbezüglich aufzubringen vermag. Und das gilt auch für den zweiten Teil der die Verse zwei und vier beinhaltenden Melodiezeilen. Bei den Worten „Mach' ich die kleinen Lieder“ verharrt die melodische Linie auf der tonalen Ebene eines „A“ in mittlerer Lage und weicht nach einer anfänglichen dreifachen Tonrepetition daselbst davon nur um eine Sekunde nach unten und oben ab: In Gestalt eines eine Sekunde höher ansetzenden und in g-Moll harmonisierten zweischrittigen Legato-Sekundfalls auf dem Wort „kleinen“ und eines neuerlichen, die melodische Linie wieder zu diesem „A“ zurückführenden und in D-Dur harmonisierten Sekundfalls auf dem Wort „Lieder.

  • „Aus meinen großen Schmerzen“ (II)

    Das lyrische Bild „Und flattern nach ihrem Herzen“ greift die melodische Linie in der Weise auf, dass sie zwar wieder, wie beim zweiten Vers, mit einer dreifachen deklamatorischen Tonrepetition einsetzt, dies nun allerdings auf einer um eine Sekunde angehobenen tonalen Ebene und nicht in D-Dur, sondern in g-Moll harmonisiert. Und nun verharrt sie auch nicht auf dieser Ebene, sondern geht, darin den semantischen Gehalt dieses Bildes reflektierend, bei dem Wort „ihrem“ zu einem Quartsprung in hohe Lage über, dem ein Sekundfall in Es-Dur-Harmonisierung nachfolgt, wobei das Klavier wieder diese triolisch-quartolische Sprungfigur wie bei „Gefieder“ erklingen lässt. Auf dem Wort „Herzen“ liegt dann, ganz dessen hohem affektivem Gehalt entsprechend, ein weit gespannter, das Taktende übergreifender melodischer Sekundanstieg, in den ein melismatischer Sechzehntelsprung eingelagert ist und der mit einer Rückung vom vorangehenden Es-Dur nach F-Dur einhergeht.

    Die Melodik der ersten Strophe endet also in harmonischer Offenheit, auf der Quinte der Dominante nämlich. Und in der nachfolgenden Pause stürzen im Klavierdiskant Sechzehntel aus hoher Lage in die Tiefe. Bei den Worten „Sie fanden den Weg zur Trauten“ geht die melodische Linie, dem lyrischen Bild entsprechend, mit einer viermaligen Tonrepetition zu ruhiger Entfaltung in mittlerer tonaler Lage über, und dies in F-Dur-Harmonisierung mit kurzer Zwischenrückung nach C-Dur. Das Klavier begleitet das mit einfachen aufsteigenden angelegten triolischen Sechzehntelfiguren, die „ruhig“ ausgeführt werden sollen. Schon mit dem Wort „doch“, mit dem der zweite Vers eingeleitet wird, erst recht aber mit dem Wort „klagen“, in dem er endet deutet sich die existenziell so tief berührende Erfahrung an, die Gegenstand dieser lyrischen Verse ist.

    Die Melodik kann also nicht bei diesem anfänglichen deklamatorischen Gestus verbleiben. Zwar setzt sie wieder mit einer Tonrepetition ein, diese wird aber mit einem verminderten Sekundsprung eingeleitet, und sie ereignet sich, mit einer Rückung nach B-Dur einhergehend, auf einer um eine Sekunde angehobenen tonalen Ebene. Von dort aus geht sie nun mit einem Terzsprung in hohe Lage über und beschreibt von dort aus einen dreischrittiigen Fall über zwei Sekunden und eine Terz, der bei dem Wort „klagen“ in eine ausdrucksstarke, das Taktende übergreifende Sekundanstiegsbewegung mündet, die einschließlich des eingelagerten melismatischen Sechzehntel-Vorschlags identisch ist mit der, die auf dem Wort „Herzen“ am Ende der ersten Strophe liegt.

    Diese Wiederkehr der dem Wort „Herz“ zugehören melodischen Figur bei dem Wort „klagen“ ist ein liedkompositorisch subtiler Sachverhalt, zeugt er doch davon, dass die „kleinen Lieder“ in der Lage sind, das Herz des geliebten Menschen zu erreichen, - und vielleicht ja auch das des Menschen schlechthin. Aber Wolf versieht diese Figur, bedenkend dass er sie an einem anderen lyrischen Ort wiederkehren lässt, nun mit einem anderen Klaviersatz. Nicht mit der quartolischen Sechzehntel-Sprungfigur begleitet das Klavier nun, sondern mit einem zweimaligen hochexpressiven, weil in extrem hoher Diskantlage sich ereignenden Sechzehntel-Sekundanstieg, bei dem sich die Dynamik vom Forte ins Fortissimo steigert und der in der Achtelpause der melodischen Linie nach dem Wort „klagen“ in einen Sturz in mittlere Lage übergeht. Das, was die „kleinen Lieder“ zu klagen haben, ist von großer Bedeutung und von eminentem Gewicht.

  • „Aus meinen großen Schmerzen“ (III)


    Heine lässt ja, wie er als lyrischer Poet in der für ihn typischen Weise oft verfährt, offen, woraus diese Bedeutung ganz konkret resultiert. Und Wolf? Wie reagiert er darauf?
    Er bleibt als Interpret des lyrischen Wortes, wie er sich als Liedkomponist versteht, auch mit seiner Musik in dieser Haltung der Offenheit, verleiht ihr aber – auch unter Einsatz des kompositorischen Mittels der Wiederholung - ein Gewicht, das weit über das des lyrischen Textes hinausgeht und sich dabei in der Aussage der Konkretion stärker annähert.

    Bei den Worten „Und klagen, und wollen nicht sagen“ beschreibt die melodischen Linie, auf einem mit einem Portato-Zeichen versehenen hohen „F“ ansetzend, zweimal einen Fall über eine Terz zu einem „D“, wobei diese beim ersten Mal ein direkter ist, in der Wiederholung aber einer in Gestalt von zwei Sekundschritten, was der Aussage eine starke Eindrücklichkeit verleiht. Und diese steigert sich noch durch den stark gedehnten Sekundanstieg auf dem Wort „sagen“. Denn das ist ein verminderter, der nicht wieder auf dem hohen „F“, sondern auf einem um einen Halbton angehobenen „Fis“ ansetzt und zu einem hohen „G“ führt. Die Harmonik beschreibt hierbei eine Rückung vom vorangehenden B-Dur nach c-Moll, und das Klavier begleitet mit einem in hoher Lage ansetzenden Fall von Sechzehnteln im Diskant, wie er schon einmal bei dem Wort „klagen“ erklang. Ins Forte hat sich die Liedmusik hier gesteigert.

    Auf dem Wort „Herzen“ liegt ein schmerzlich anmutender, weil in g-Moll gebetteter Sekundfall in hoher Lage. Bei dem nachfolgenden Wort „schauten“ ereignet sich nun aber Bemerkenswertes: Hier beschreibt melodische Linie erneut die melismatische Sekundanstiegsfigur, die bereits auf den Worten „Herzen“ und „schauten“ erklang, und auch die Klavierbegleitung ist die gleiche.
    Ganz offensichtlich will Wolf auf diese Weise sinnfällig werden lassen, dass all diese lyrischen Aussagen aus einem leidenden, gar verwundeten Herzen kommen. Und eben deshalb greift er auch zu dem – von ihm selten eingesetzten – Mittel der Wiederholung. Beim zweitletzten Vers beschreibt die melodische Linie anfänglich die gleiche Bewegung. Dann aber steigert sie ihre Expressivität, indem sie bei den Worten „wollen nicht sagen“ in einen zu einem hohen „As“ führenden Sekundanstieg übergeht und am Ende, also auf „sagen“, einen in c-Moll gebetteten taktübergreifenden verminderten Sekundanstieg beschreibt, der vom Klavier wieder mit der in hoher Diskantlage ansetzenden und ausdrucksstarken Sechzehntel-Fallbewegung begleitet wird.

    Die melodische Linie auf den Worten „Was sie im Herzen schauten“ weist nun die Anmutung resignativen Sich-Abfindens mit den faktischen Gegebenheiten auf. Aus einer in g-Moll harmonisierten dreifachen Tonrepetition steigt sie mit einem Sextsprung in hohe Lage auf, beschreibt bei dem Wort „Herzen“ nun keinen kläglich anmutenden Sekund-, sondern einen nüchternen Terzfall, und danach geht sie bei „schauten“ in einen ruhig wirkenden, mit einem Ritardando versehenen und anfänglich legato auszuführenden zweischrittigen Sekundfall über, der sie zum Grundton „G“ führt und in der Kadenzrückung von der Dominante D-Dur zur Tonika g-Moll harmonisiert ist.

    Dass das Klavier im Nachspiel zur Wiederholung der Sechzehntel-Figuren des Vorspiels übergeht, will daran erinnern, dass es bei all diesen lyrischen Aussagen um die Botschaft von „kleinen Liedern“ mit „klingendem Gefieder“ und die Reaktion des lyrischen Ichs darauf geht. Es lässt sie, darin die faktische Unabänderlichkeit des Geschehens zum Ausdruck bringend, am Ende pianissimo in tiefer Basslage versinken und in einem sechsstimmigen g-Moll-Akkord aufgehen.

  • „Mir träumte von einem Königskind“

    Mir träumte von einem Königskind,
    Mit nassen, blassen Wangen;
    Wir saßen unter der grünen Lind'
    Und hielten uns liebeumfangen.

    "Ich will nicht deines Vaters Thron,
    Ich will nicht sein Szepter aus Golde,
    Ich will nicht seine demantene Kron',
    Ich will dich selber, du Holde!"

    Das kann nicht sein, sprach sie zu mir,
    ich liege ja im Grabe,
    und nur des Nachts komm' ich zu dir,
    weil ich so lieb dich habe.

    Wieder, wie zuvor schon „Ich stand in dunkeln Träumen, ein Heine-Gedicht, dessen lyrische Aussage traumgeneriert ist. Er greift gerne zu diesem thematischen Konzept, weil es ihm im wesenhaft monologischen Ansatz seiner Lyrik eine größere Freiheit in der Handhabung der Metaphorik ermöglicht. Das beinhaltet, dass sie ins Phantastische, oder wie in diesem Fall in die Sphäre des Märchenhaften ausgreifen kann, es schließt aber auch die Möglichkeit ein, sie kontrastiv einzusetzen oder gar einem Bruch auszusetzen. Für den Liedkomponisten stellt das natürlich eine große Verlockung dar, birgt eine so geartete Metaphorik doch ein hohes inspiratives Potential zum Einsatz aller liedkompositorischen Mittel in sich. Vielleicht hat der noch junge Komponist Hugo Wolf ja eben deshalb zu diesem Gedicht gegriffen.

    Es hat Heines Generalthema zum Gegenstand: Die Sehnsucht nach liebeerfüllter Existenz und deren wesenhafte Unerfüllbarkeit. Die erste Strophe entwirft – Walthers von der Vogelweide Verse „Unter der Linden“ dezent nutzend - das traumhafte Bild einer „liebeumfangenen“ Zweisamkeit mit einem „Königskind“, dessen Wangen nicht nur von Rührung „nass“, sondern auch „blass“ sind. Was dieses lyrische Bild beinhaltet, wird die dritte Strophe später enthüllen. Das lyrische Ichs sieht sich in der Rolle des historisch zeitgemäßen Liebhabers, der beteuert, dass es ihm in seiner Liebe allein um das Du gehe und dessen Stellung in der Ständegesellschaft dabei ein völlig irrelevanter Sachverhalt sei.

    Die dritte Strophe bringt dann die typisch Heinesche Wende: Das traumhaft „unter der grünen Lind´“ in Liebe umfangene Königskind entpuppt sich als ein Wesen, das allein aus Liebe zum lyrischen Ich dem Grabe entstiegen ist. Um die Größe dieses Liebesbekenntnisses lyrisch-sprachlich zum Ausdruck zu bringen, macht Heine daraus mit den Worten „nur des Nachts komm' ich zu dir“ einen regelrechten Handlungsakt und lässt ihn in das volksliedhaft innige Bekenntnis münden: „weil ich so lieb dich habe“.

    Wolfs Liedmusik vermag die traumhaft idyllische Atmosphäre des Geschehens, wie Heines Verse es lyrisch-narrativ entfalten, auf beeindruckende zu generieren. Dies deshalb, weil er Melodik und Klaviersatz auf hoch differenzierte Weise einsetzt. Beide reflektieren in ihrer von Strophe zu Strophe sich wandelnden Binnenstruktur, in der vielgestaltigen Harmonik und Dynamik nicht nur die Art und Weise des Auftretens von lyrischem Ich und Königskind auf treffende Weise, sie generieren auch die märchenhafte Aura, in der sich das abspielt.


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