Hallo, liebe Musikfreunde,
wer kennt nicht das Gefühl, wenn sich alles verdüstert, Enttäuschungen einander überholen und tief im Innern zu verdorren droht, woraus jedes neue Gefühl von Vertrauen entstehen könnte: dann hilft ein Stück wie dieses. Es erhebt so weit seine Schwingen, reißt alles Verkrustete mit sich und lässt es abfallen, dass nichts beim Alten bleibt. Und sage keiner, dass solche Gefühle nur in der späten Jugend möglich sind. Weitaus bitterer können sie später wiederkehren, und um so mehr hilft, diese Kraft immer neu zu gestalten.
Skrjabin war 22 Jahre alt, als er diese Etüde komponierte. Gerade hatte er eine tiefe Krise hinter sich, als 1892 die rechte Hand schwer erkrankte und er alle Hoffnungen auf eine Pianisten-Karriere bedroht sah. Und nun musste er miterleben, wie die Familie seiner geliebten Jugendfreundin ihm alle Kontakte abschnürte und er sie schließlich ganz aufgeben musste. 1895 stürzte er sich in lange Auslandsreisen nach Westeuropa mit Besuchen beim Psychiater Erb in Heidelberg und ausschweifendem Leben in Paris.
Alle Kraft und Hoffnung nahm er zusammen, als diese Etüde entstand. Sie wurde wegweisend für die Ereignisse der nächsten Jahre in Russland. Der Musikhistoriker Drosdow erinnert sich an eine Aufführung von 1902 in Saratow:
„Ein neues, ungewohntes Element erfaßte unser Bewußtsein. Ein buchstäblich aufrührerischer Sturm entriß sich den Saiten des Instruments und zog uns in seinen ungestümen Flug hinein. Es waren die Klagen und der Lärm des Kampfes zu hören. Man vernahm den Ausbruch des gefangenen Helden, der die Fesseln sprengt, um in einem letzten Kampf zugrunde zu gehen, der sich aber nicht ergibt: das war es, was uns Skrjabins dis-Moll-Etüde sagte."
Der Name Sturmvogel-Etüde nimmt Bezug auf Gorkis Drama "Das Lied vom Sturmvogel" von 1901. Skrjabin hatte den Ton einer jungen Generation getroffen, die begeistert von Nietzsche mit den gesellschaftlichen Verhältnissen unzufrieden war und nach einem eigenen Weg suchte.
Obwohl Skrjabin in seinem Denken und Verhalten sehr exzentrisch war, ein typischer Vertreter des Nietzscheanismus, sich von theosophischen Ideen beeinflussen ließ und sich bisweilen bis in grotesken Größenwahn verrannte, hatte er viel Sympathie für die russische Revolution 1905. In diesem Jahr traf er in Italien den Marxisten Plechanow. Trotz entgegengesetzter Weltanschauungen verstehen beide sich sehr gut. Plechanow ist von Skrjabins Musik begeistert. Skrjabin wollte ursprünglich dem "Poème de l'extase" das Motto "Stehe auf, erhebe dich, arbeitendes Volk!" voranstellen. Der junge Prokofjew, der in diesen Jahren in Petersburg Musik studierte, war begeistert.
Später spielten bis in die 1920er Jahre Skrjabinisten eine wichtige Rolle in der frühen sowjetischen Musikkultur. Sein Freund und Interpret Sabanejew gründete 1921 das Staatsinstitut für Musikwissenschaft in Moskau, emigrierte aber 1926. Wikipedia verrät uns: Stalins Außenminister Molotow war ein Neffe von Skjrabin.
Viele Grüße,
Walter