Marco Tutino - ein italienischer Avantgardist?


  • Wer kennt Marco Tutino (*1954)?


    Ich bin letzthin über eine CD mit seiner Ballettmusik »Riccardo III.« gestolpert, die ich - weil seeehr günstig - mal hab' mitgehen lassen (d.h.: ich hab' sie gekauft). Spannende Musik, schon sehr avanciert, aber doch zugänglich - oder anders herum formuliert: eingängige modere Musik, die dabei keineswegs vordergründig gefällig ist. Nun habe ich weiters eine CD mit Orchester- und Kammermusikwerken erstanden, darunter die »Friedrich Lieder für Sopran, Sprecher und Orchester« aus dem Jahr 1991, eine Art Vor-Auskopplung aus seiner 1992/93 entstandenen Oper »Federico II.« - und bin wiederum recht angetan. Eingangs dachte ich: klingt wie Goreckis 3. Symphonie - aber nichts da! Eine so frostig, abgründige Atmosphäre, wie sie durch den über die schwebenden Orchesterklänge (eine dichtes Gewebe in-sich-kreisender Motive auf engem Tonraum - vieles scheint sich gar im mikrotonalen Raum abzuspielen, das konnte ich aber bisher nicht mit Gewissheit feststellen) rezitierten Text erzeugt wird (italienisch und daher für mich leider unverständlich; kein Text im Booklet), habe ich selten erlebt.


    Nun habe ich ein wenig recherchiert und festgestellt, daß Tutino nicht allein die Opernhäuser in Turin und Bologna geleitet hat bzw. leitet, sondern daß er seit den 1980er Jahren mit mehreren Opern hervorgetreten ist: u.a. »Pinocchio« (1984), »Cirano« (1986-87), »Vite immaginarie« (1989), »La Lupa« (1990) und eben »Federico II.« (1992-93). Einige dieser Opern sind auch in Deutschland gezeigt worden. So hat es bereits 1996 eine Inszenierung von »Federico II.« in Bonn gegeben und 2002 eine in der Presse sehr positiv besprochene Aufführung von »La Lupa« in Erfurt.


    Mich würde interessieren, ob jemand weitere Werke von Tutino kennt, vielleicht gar bereits Opern oder Orchesterwerke live erlebt hat und wie ihr seine Werke und seinen Stil einschätzt?


    Herzlichst,
    Medard

  • Nun, da will ich mal diesem siechen, antwortlosen Thread ein wenig Leben einhauchen, obgleich anscheinend wenig Hoffnung besteht, daß Herr Tutino weitere Freunde bei Tamino finden wird (und die, obwohl »Tamino« sich eigentlich einen schönen Reim auf »Tutino« machen könnte - »und was sich reimt ist gut!«). Allerdings paßt das Monologische ja ganz gut zum Werk dieses Herrn, hat er doch gleich mehrere Stücke für Orchester und Monorezitation komponiert... :D


    Also: Nachdem ich gestern Tutinos Oper »La Lupa« gehört habe, möchte ich Stück kurz vorstellen. »La Lupa« ist Tutinos viertes musiktheatralisches Werk. Die Oper - ein Akt in zwei durch ein motorisch-hypnotisches orchestrales Zwischenspiel getrennten Szenen, die jeweils mit einem »Quadro« eingeleitet werden (Spielzeit: insgesamt knapp 70 Minuten) - wurde im Jahr 1990 vom Theater Livorno in Auftrag gegeben, anläßlich des 100. Jahrestags der Uraufführung von Pietro Mascagnis »Cavelleria Rusticana«.


    Die Uraufführung erlebte die Oper dann im La Gran Guardia Theater in Livorno (Regie: Claude d’Anna, Musik. Leitung: Bruno Bartoletti) – zusammen mit einer Aufführung der »Cavelleria Rusticana«. Wie diese beruht das Libretto von »La Lupa« (Librettist: Giuseppe di Leva) auf der gleichnamigen Erzählung Giovanni Vergas – und wie Mascagni folgt auch Tutino hier der Idee einer realistischen bzw. naturalistischen Operndramatik. Thema der Oper – Setting ist (naklar abweichend von Vergas Novelle) eine süditalienische Vorstadt in den 1960er/70er Jahren – ist der Konflikt zwischen moralischem Schein und zerstörerischem Begehren, letzteres personifiziert in der Protagonistin Pina, der »Wölfin«, einer Frau von Anfang 40, attraktiv, einsam, lebenshungrig, frustriert und provokativ. Eine Frau, die sich nimmt, was wie will – insbesondere Männer, u.a. ihren Schwiegersohn Nanni – ohne gesellschaftliche Tabus oder die Gefühle anderer (etwa von deren Frauen, u.a. eben der eigenen Tochter, und Familien) zu achten. Zugleich jedoch ist die »Wölfin« ein Opfer jener bigotten, moralinsauren, gesellschaftlichen Konventionen - von Männern bestimmt, die sich selbst gern und bereitwillig über diese Konventionen hinwegsetzen, ohne »der Frau« die gleichen Freiheiten einzuräumen. Die Atmosphäre des Stücks ist von einer dunklen Schwüle bestimmt, bleiern und trostlos.


    Marco Tutino hat diesem Setting eine höchst suggestive, freitonale Musik von bisweilen beängstigender Spannung geschenkt. Seine Musik wir häufig (so auch im Booklet der mir vorliegenden Einspielung) als neo-romantisch beschrieben, der Stil der Oper als Neo-Verismo. Diese Einschätzung scheint mir tendenziell zutreffend aber letztlich doch eher zu kurz gegriffen. Sicherlich steht der »Ausdruck« im Zentrum von Tutinos Musik, nicht so sehr das Material. Doch wird der dichte Orchestersatz häufig von ostinaten Figuren bestimmt, die durch minimale Variationen allmählich ihre Gestalt verändern. Dem Idiom der »Minimal Music« ist die Musik jedoch auch nicht verpflichtet, da dies eher als Stilmittel denn als Programm verwirklicht wird – was sich einerseits an den dann doch häufig überraschenden und heftigen Motiv- und Stimmungswechseln zeigt (eingestreut finden sich immer wieder auch Elemente von Popmusik und Italo-Rock – insbesondere in einer Partysequenz in der ersten Szene), andererseits an der Art, wie die Gesangsrollen geführt werden. In den dominierenden rezitativischen Sprechgesang finden sich tatsächlich immer wieder – durchaus auch tonal gehaltene – Kantilenen, mit expliziten (und wohl auch beabsichtigten) Reminiszenzen an Mascagni, Leoncavallo oder Puccini.


    Die Uraufführung von »La Lupa« war durchaus ein Erfolg und auch von der Kritik wurde das Werk positiv aufgenommen. Abgesehen von den Aufführungen in Livorno wurde »La Lupa« in Pisa (1990), im ungarischen Szeged (1994/95), in Palermo (1998 ) und in Erfurt (2002) gespielt.


    Auch auf CD ist das Werk erschienen. Das in Livorno beheimatete Label »fonè« hat 1998 einen Mitschnitt der Inszenierung des La Gran Guardia Theaters aus dem Jahr 1990 herausgebracht:



    Viorica Cortez (Mezzo) – Pina »La Lupa«
    Maurizio Frusoni (Tenor) – Nanni Lasca, Pinas Schwiegersohn
    Laura Cherici (Sopran) – Mara, Pinas Tochter
    Alessandro Cassis (Bariton) – Maresciallo Ricci
    Alessandra Rossi Trusendi (Sopran) – Gloria, Pinos Frau
    Corina Schmidt (Mezzo) – Lia,
    Vincenzo Manno (Tenor) – Pino
    Mauro Buffoli (Tenor) – Nicola
    Dino Musio (Bariton) – Salvatore


    Orchestra della Toscana
    Leitung: Bruno Bartoletti


    Ganz herzlich,
    Medard

  • Das zweiaktige Ballett Riccardo III. nach William Shakespeares »Richard III.« war das erste Werk Tutinos, das ich kennengelernt habe – ein Zufallskauf insofern, als ich den Komponisten zuvor nicht kannte und mir zunächst einmal nur das etwas gruselig anmutende Cover ins Auge gestochen ist. Da die Doppel-CD spottbillig war, hab‘ ich sie mal heimgetragen – und war gleich beim ersten Hören von den Socken von dieser hypnotisch-ostinaten Musik mit archaisch-bohrendem Charakter! Grundgrausam, doch immer wieder von lyrischen Passagen gelindert, spielt sich ein Hördrama von großer Intensität ab: suggestiv, klanggewaltig und assoziationsoffen. Die acht großen Szenen (die kürzeste ist gut 6 Minuten lang, die längste knapp 20) sind symphonisch angelegt, ja streckenweise durchaus philharmonisch und tonmalerisch – ins freitonale, rhythmisch-treibende Gewirk (oh je, jetzt heideggerts schon bei mir) mischen sich Anklänge an Ensemblemusik des elisabethanischen Zeitalters.


    Höhepunkte:


    1) Der finstere »Alptraum« der Eingangsszene, in der Richard von den Geistern der von ihm Ermordeten heimgesucht wird – über einem ostinaten Pulsieren von tiefen Streichern, Pauken und Schlagzeug erscheinen und verschwinden Fragmente schmerzvoller Melodien (Holzbläser), die schließlich gewaltsam (brutale Schläge von Blech/Schlagzeug/Streichern) zum Schweigen gebracht werden.


    2) Der Trauerzug der Lancasters (Szene IV), die Heinrich VI und dessen Sohn Edward – von Richards Schergen erschlagen – zu Grabe tragen, in den sich das obszöne Werben Richards um die Witwe des erschlagenen Heinrich mischt. In dieser langen Szene (knapp 13 Minuten) entsteht eine beinahe physisch spürbare Reibung zwischen dem tieftraurigen, in seiner Monotonie trostlosen und schwarzen Trauermarsch und der frivol-scharfen, dem Metrum des Marsches entgegenlaufenden Melodik, die Richards - zuletzt gar erfolgreiche - »Anmache« der trauernden Lady Anne nachzeichnet.


    3) Die Thronbesteigung Richards (Szene VI.). Richard ist am Ziel – und er ist allein. Diese Szene, in der an äußerer Handlung nichts geschieht, ist nicht allein die längste des Balletts (19:33), sondern auch die musikalische Schlüsselszene des Werkes. Hier wird das gesamte Drama der äußeren Handlung musikalisch enggeführt: das thematisch-motivische, klangliche und rhythmische Material der fünf vorhergehenden Szenen wird hier rekapituliert, verarbeitet, transformiert und so das Material der beiden Schlußszenen vorbereitet. Eine Art Ballettsuite im Ballett.


    Ein wirklich erschlagendes Werk.


    Eingespielt findet sich das gesamte Ballett auf dieser Doppel-CD:



    Marco Tutino: Riccardo III. Ballett in zwei Akten nach dem Drama von William Shakespeare
    Orchestra del Teatro Sociale de Rovigo, Leitung: Stefan Anton Reck


    Ganz herzlich,
    Medard