Rund 65 Jahre nach ihrer Fertigstellung erlebte am vergangenen Sonntag die Oper „Szenen aus dem Leben der heiligen Johanna“ von Walter Braunfels ihre szenische Uraufführung.
In konzertanter (leicht gekürzter) Form wurde das Stück bereits im Jahr 2001 in Stockholm und in München unter der musikalischen Leitung von Manfred Honeck aufgeführt. Die Münchener Vorstellung vom 21.12.2001 wurde damals auch live im Rundfunk übertragen.
Es war ein grosser, ein spektakulärer Abend in der „Deutschen Oper“ an der Bismarckstrasse, sie wurde zu einem Triumph für den Komponisten Walter Braunfels, aber auch für den Theatermacher Christoph Schlingensief, der krankheitsbedingt die Regie an ein dreiköpfiges Regieteam abgeben musste.
Walter Braunfels wurde am 19.12.1882 in Frankfurt am Main geboren und starb am 19.03.1954 in Köln. Trotz vorhandenem musikalischen Talents entscheidet sich Braunfels zuerst für ein Wirtschafts- und Jurastudium, bevor er nach einer Münchener „Tristan“-Vorstellung, die ihn tief beeindruckt hat, doch der Musik den Vorzug gibt.
Von Haus aus war Braunfels Protestant, aber ein Erlebnis im Ersten Weltkrieg machte ihn zum Konvertiten, er wurde ein tiefreligiöser Katholik, was auch auf seine Vorstellung von Musik nicht ohne Auswirkung blieb. Zum einen forderte er eine „katholische Kunst“ oder dass die Musik wieder eine „deutsche Kunst“ werden möge, zum anderen wollte er die „christliche Oper“ vollenden. Neuen Klängen, wie sie aus der zweiten Wiener Schule zu vernehmen waren, stand Braunfels ablehnend gegenüber.
Diese sehr konservative Grundhaltung nutzte Braunfels, seit 1925 Direktor der Kölner Musikhochschule, im Jahr 1933 nichts: als „Halbjude“ wurde er von den Nazis aus allen Ämtern gejagt, seine Werke wurden verboten.
Nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Bad Godesberg liess sich Braunfels in Überlingen am Bodensee nieder. In der inneren Emigration komponierte Braunfels nur noch für die Schublade, so z. B. seine Opern „Der Traum, ein Leben“ (Uraufgeführt am 24. Mai 2001 in Regensburg) und die „Szenen aus dem Leben der heiligen Johanna“.
Nach dem Krieg wurde Braunfels erneut nach Köln berufen: er baute massgeblich die Kölner Musikhochschule mit auf, aber seine Musik schaffte den Durchbruch nicht mehr: die Musikwelt hatte sich jenen neuen Tönen zugewandt, die Braunfels immer fremd geblieben sind.
Braunfels verlässt in seiner Musik den tonalen Bereich nicht, auch wenn er an dessen Grenzen geht. Seine Klangwelt ist spätromantisch geprägt, manchmal blüht die Musik eruptiv auf, aber auch Einflüsse seiner Zeit sind da zu hören, wenn auch in gemässigterer Form als bsplsw. bei Krenek oder Weill und die Gesangspartien sind ausgesprochen dankbar.
Bemerkenswert ist das Leben des Bauernmädchens aus Domrémy, das die Stimmen der Heiligen gehört haben will, ganz sicher. Wir heutigen Menschen würden wohl von einem pathologischen Phänomen ausgehen, aber auch in früheren Jahren hat die katholische Geistlichkeit schon mal die Meinung vertreten, wer Visionen habe oder Stimmen höre möge „mehr Essen“.
Jeanne befreit nicht nur Orléans im hundertjährigen Krieg zwischen England und Frankreich, sie prophezeit auch – zutreffend – die Kaiserkrönung Karls des VII., gerät erst in burgundische, dann in englische Gefangenschaft, acht Monate später wird sie als Hexe, Zauberin und falsche Prophetin angeklagt, sie widerruft ihre Aussage, dass sie von Gott und seinen Heiligen Befehle empfangen habe, nur um kurze Zeit später diesen Widerruf zu widerrufen. 1431 verbrennt man Jeanne auf dem Scheiterhaufen. Die Legende besagt, dass ihr Herz unverbrannt geblieben sei. 1920 wird Jeanne d´Arc heilig gesprochen.
Die zweite, wichtige Figur der Handlung ist Gilles de Rais, eine faszinierende, abgrundtiefe Persönlichkeit. Er begleitete Jeanne nach Orléans und kämpfte dort an ihrer Seite. Bei ihrer Hinrichtung in Rouen fehlt Gilles de Rais. Er hat sich auf sein Schloss bei Nantes zurückgezogen und offenbart eine ganz andere Seite seiner Persönlichkeit: er wird zum grausamen Massenmörder und zum Knabenschänder. Sein Spitzname Blaubart ist auch heute noch wohl jedem bekannt.
Die „heilige Johanna“ ist kein ganz einfach zu fassendes Werk. Das mystisch-religiöse des Stoffes muss auf Braunfels grossen Eindruck gemacht haben. Teilweise hat er (als sein eigener Textdichter) Originalzitate aus den Prozessakten gegen Jeanne d´Arc in seiner Oper verwendet. Die erzählt das Leben und Sterben der Johanna als Stationendrama, also genau wie es der Titel sagt, in Szenen und nicht als geschlossene Handlung. Auch musikalisch sind die 8 Bilder des Stückes in sich geschlossene Teile. Die Form dieser „Szenen aus dem Leben der heiligen Johanna“ entspricht eher einer Passion, als einer Oper. Schon zu Beginn wird das deutlich, wenn der Chor „Herre, hilf“ intoniert und am Ende in einem grossen Schlussgesang das Wunder des nicht verbrannten Herzens der Johanna preist.
Christoph Schlingensief sollte die szenische Uraufführung der Braunfels-Oper für Berlin übernehmen. Im Frühjahr musste Schlingensief ins Krankenhaus, eine Operation an der Lunge war dafür, so wurde es in der Öffentlichkeit bekannt, der Grund. Der Programmzettel nennt nun Schlingensief als Ideen- und Konzeptionsgeber, das Regieteam besteht aus Anna-Sophie Mahler (einer Regisseurin), Sören Schuhmacher (ebenfalls als Regisseur tätig und für die Spielleitung verantwortlich) und dem Dramaturgen Carl-Georg Hegemann.
Das, was da in Berlin zu sehen ist, lässt sich kaum mit den Maßstäben herkömmlicher Opernregie beschreiben. Die Ideen- und Bildwelt ist überwältigend, hoch suggestiv, beeindruckend und oftmals frei-assoziativ.
Zum Jahreswechsel 2007/2008 war Schlingensief in Nepal und hat dort in Pashupatinath die Verbrennungsrituale von Toten gefilmt. Am Fluss Bagmati gibt es eine Verbrennungsstätte für Leichen, das sind Vorsprünge direkt am Wasser, mehrere nebeneinander, auf denen die Toten möglichst kurz nach dem Ableben von Priestern nach einem bestimmten Ritual verbrannt werden. Oberhalb dieser Stätte gibt es ein sehr einfaches Hospital für Sterbende, es gilt als besonderes Glück, dort sterben zu können. Entgegen der westlich geprägten Welt, die den Tod oft tabuisiert, gehört in Nepal der Tod direkt zum Leben dazu: um diese Verbrennungsstätte geht das normale Leben einfach weiter – mit Touristen, Marktständen, Schaulustigen.
Zu den ersten Klängen der „heiligen Johanna“ sieht man auf einer Leinwand Ausschnitte aus dem Schlingensief-Video aus Nepal: eine Leiche wird verbrannt. Auf der Bühne dann erkennt man eines dieser Hospiz-Zimmer und im Hintergrund eine Kopie der nepalesischen Verbrennungsstätte.
Fast ununterbrochen werden den ganzen Abend über Videos gezeigt, nicht nur aus Nepal, manchmal auch nur Farbspiele oder eine Art Prozession, Maden sind da zu sehen und Krankheitserreger, stark vergrössert. Die Bilder überlagern, ergänzen, begeleiten die Szene. Das ist anstrengend fürs Auge, aber auch faszinierend.
Im Krankenzimmer Johanna, links und rechts, ganz in eleganten schwarzen, geheimnisvoll glitzernden Kleidern die heilige Katharina und die heilige Margarethe, die Johanna den göttlichen Auftrag mitteilen.
Johanna nimmt Abschied von echten Ziegen und ihrem Vater, der als katholischer Würdenträger erkennbar ist (und auch schon mal als Nikolaus im Schlitten über die Bühne fährt) und der heilige Michael, arkadisch-leicht gekleidet, weist ihr den Weg.
Gilles de Rais, ganz in schwarz, mit einer Halbmaske über dem Gesicht, die an nur wenigen Stellen fällt, wird Johannas Begleiter.
Dauphin, der spätere Karl VII., ist ein schwächlicher Mann, mit einem sich in spastischen Bewegungen verrenkenden Tänzer als Gattin an der Seite, unter dem Mantel ist ein Tierkörper erkennbar.
Immer wieder verlassen Menschen die Bühne durch einen Sarg, immer wieder sterben sie symbolisch oder tatsächlich (auch Karl VII.), werden zur Verbrennung auf die entsprechenden Podeste getragen. Eine grosse Lunge senkt sich mehrfach vom Schnürboden herunter.
In einer Kirchenszene steht im Vordergrund ein verhüllter Altar – er verbirgt das riesenhaft vergrösserte Herz der Johanna.
Das letzte Abendmahl wird szenisch zitiert, Knaben werden symbolisch von Gilles de Rais geschändet, die Schlingensiefschen Freaks gibt es genauso, wie den toten Hasen.
Johanna befindet sich am Schluss des Stückes wohl in der Psychatrie, der Bischof, der sie zum Flammentod bestimmt, ist der dortige Chefarzt. Johanna springt am Ende aus einer Geburtstagstorte, ganz in schwarz, entzündet die Wunderkerzen an deren Rand – der Tod ist auch eine Geburt.
Menschen, auch Naturvölker sind zu erkennen, ziehen zum Schlusschor hinter Johannas unverbranntem Herz her.
Wenn man sich an die ungewöhnliche Optik gewöhnt hat, bereit ist, sich auf eine solche Realisation einzulassen, erlebt man einen tollen Theaterabend.
Die Sängerinnen und Sänger leisten enormes – besonders die Titelrolleninterpretin Mary Mills mit ihrem schönen, ausgeglichenen Sopran begeistert, sie ist das Zentrum dieser Aufführung.
Ihr zur Seite der am Anfang etwas zurückhaltende Bariton Morten Frank Larsen, der gegen Ende ebenfalls herausragend singt und agiert.
Erwähnenswert die Mezzosopranistin Julia Benzinger als heilige Margarthe und Paul McNamara mit strahlkräftigem Tenor als heiliger Michael.
Kongenial begleitet Ulf Schirmer vom Dirigentenpult aus diese Produktion. Er hält die Musik in ständigem Fluss, setzt Akzente, die sich gegen die überbordende Szene behaupten können und verhilft damit Walter Braunfels zu jener Anerkennung, die dieser Komponist verdient.
Am Ende begeisterter Jubel für Mary Mills, den Dirigenten und das Regieteam – das Publikum in Berlin zeigte sich der Herausforderung in Bild und Musik bestens gewachsen.