Beileibe keine Hunde - Henri Christines PHI-PHI, DEDE und etece.

  • Auch diesen Thread eröffne ich, damit die Vorstellungen eher unbekannter Werke nicht in den Rätselthreads verloren gehen. Dieser, wie immer leicht überarbeitete, Artikel stammt aus diesem Rätsel: Ein Olympisches Rätsel - Der Lösungsthread


    Die vor genau einem Jahr erstmals beantwortete Frage lautete:
    Während ein Mann und eine Frau für das Abbild von Tugend und Liebe unbekleidet Modell stehen, fallen sie übereinander her und veranlassen das züchtige Fallen des Vorhangs.


    Diese herrlich verjuxte und sehr pikante Boulevardoperette des 1867 in Genf geborenen Henri Christiné und, nicht zu vergessen, seiner Librettisten Fabien Solar und Albert Willemetz, die 1918 in Paris uraufgeführt wurde, hat natürlich nichts mit Hunden oder auch nur den thailändischen Phi-Phi - Inseln zu tun, sondern mit dem legendären athenischen Bildhauer Phidias, der in diesem respektlosen Werk stets als Phi-Phi bezeichnet wird. Das Werk wird viel zu selten gespielt und ist alles andere als ehrfürchtig. Vielmehr verfährt es mit den Heiligtümern des Altertums in einer respektlosen Weise, gegen die Offenbachs Travestien der Antike wie ein mildes Lächeln erscheinen. Volker Klotz weist in seinem Standardwerk zur "Operette" völlig zu Recht darauf hin, dass das Werk außerdem noch die hehren Stilmittel der Tragödien eines Sophokles, Corneille oder Racine auf die Schippe nimmt, indem es den antiken Chor in die Bekleidung einer Schar von Malermodellen (soweit vorhanden) steckt, die das Geschehen mit süffisanter Frechheit kommentiert.


    Zu Beginn praktizieren sie einen Verfremdungseffekt, der nicht nur an die an das Publikum gerichteten Kommentare des Puck aus dem Sommernachtstraum erinnert, sondern auch wesentliche Teile des Verfremdungseffekts vorweg nehmen, wie er später mit Brecht assoziiert wurde. Mit dem Voyeurismus des Publikums spielend, führen sie anschaulich Klage darüber, dass die vermeintlich großen Künstler die harte Arbeit ihrer Modelle ausnutzen um sich mit ihnen zu verlustieren und dann auch noch allen Ruhm einheimsen, obwohl sie doch ohne die Reize ihrer Modelle gar nichts zu bieten hätten.


    In diesem Ton geht es weiter. Phi-Phi sucht ein Modell für die Tugend, das es nach den spöttischen Bemerkungen seiner Modelle gar nicht geben kann. Schließlich findet er doch eine attraktive Frau, die zwar nicht so unschuldig ist, wie er glaubt, sich gegen seine Annäherungsversuche aber so vehement wehrt, dass die Venus von Milo ihre Arme und die Statue der Nike ihren Kopf verliert. Schließlich verliert sie aber doch (wieder einmal) ihre Unschuld und zwar mit Phidias. Phi-Phis Frau hat indessen einen strammen Prinzen als Modell für die Liebe gefunden, der ihr so gefällt, dass sie selbst mit ihm nackt Modell für die Skulptur Tugend und Liebe steht. So kommt es zu der in der Frage angesprochenen Schlussszene des zweiten Aktes, die mit Liebe wenig und mit Tugend überhaupt nichts mehr zu tun hat.


    Wie es im dritten Akt weitergeht, mögen die jetzt hoffentlich interessierten Leser selbst herausfinden. Hier sei nur verraten, dass der "Chor" sich am Schluss für die gezeigten Frivolitäten entschuldigt, aber auch betont, dass sich die Dinge seit der Antike so wenig geändert hätten, dass alles nicht von ungefähr so aussieht, als spielte es in der Gegenwart.


    Zur Musik ist zu sagen, dass sie sich zu dem Niveau eines Offenbach umgekehrt verhält wie das Buch. Während dieses ziemlich weit über ihn hinaus geht, bleibt die Musik mindestens, was die Einfallskraft der Melodien angeht, merklich hinter dessen Kompositionen zurück. Sie ist aber immer gefällig und eingängig wie die erfolgreichen Varieténummern ihrer Zeit, und eines ist auffällig: je frivoler das Stück wird, um so charmanter, ja zärtlicher wird die Musik, bis sie schließlich zu einem sehr eigenen Ton gefunden hat, der die Operette auch über ihr freches Buch hinaus zu einem Genuss macht. Man braucht allerdings eine gewisse Offenheit für diesen leichtfüßigen spezifisch französischen Stil, wenn man sie genießen will, denn mit dem, was man in Deutschland für Operette hält, hat sie nur bedingt zu tun. Allerdngs kann man mindestens in den marschmäßigen Ensembles eine gewisse Ähnlichkeit zu den aus dem gleichen Theatermilieu heraus entstandenen Revuenummern eines Paul Lincke (en francais, naturellement) konstatieren.


    Aufnahmen gibt es bei uns natürlich keine, aber wer sich die Mühe machen will, kann in Frankreich oder den USA bei Amazon auf folgende Einspielung unter Edouard Bervilly stoßen, die sehr authentisch im Ton des Vaudeville ist, auf dem die Musik fußt. Ein wenig Französischkenntnis dürfte allerdings nicht schaden, wenn man die Aufnahme genießen will, denn PHI-PHI ist eine jener Operetten, die sich nicht nur für ihre gesungenen Texte, sondern auch für ihre Dialoge keineswegs so zu schämen brauchen wie seinerzeit die Darsteller/innen der Entstehungszeit für die gewagten Frivolitäten, die sie vorzutragen hatten.



    Soviel erst einmal mit dieser Übernahme. Wenn es interessiert, kommt bei Gelegenheit noch etwas zu Christiné selbst und zu seinem weiteren Erfolg DÉDÉ.


    :hello: Jacques Rideamus