Beiträge von Leiermann

    Nur ein kurzer Einwurf vom Rand: Im WM wird keine Abhängigkeit von welchem Geschick auch immer verhandelt, zumindest ist das meiner Erinnerung nach kein zentrales Thema des Buchs und auch eigentlich sonst kein Thema, das JWG beschäftigt hat.


    Ich sehe auch nicht, wo das Thema der „Abhängigkeit vom Geschick“ in der Literatur jener Zeit eine größere Rolle spielt, allenfalls in Wallensteins astrologischen Kalkulationen. Vielleicht habe ich aber auch nicht alles im Blick.

    Ich habe das ziemlich aus der Hüfte geschossen, weil ich an die Figur Wilhelm denke, dessen individuelles "Geschick" auf etwas mysteriöse Weise mit der zunächst im Verborgenen wirkenden Turmgesellschaft verknüpft ist. Wilhelm strampelt sich als Individuum ab, meint dabei, "seinen" Weg zu gehen, und muss irgendwann erkennen, dass sein "Geschick" in Wirklichkeit von einer höheren Macht überwacht/geleitet/bestimmt (?) wurde. Sein erstes Ziel, ans Theater zu gehen, erscheint ihm am Ende der "Lehrjahre" als verfehlter Entwurf seines leidenschaftlichen Egos und macht der Erkenntnis Platz, als Arzt ein wertvollerer Teil eines Allgemeineren zu sein.


    Edit: Ich weiß nicht, ob Holger es schon irgendwo geschrieben hat, aber Geck zitiert in diesem Zusammenhang auch Goethes "Egmont": "Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unseres Schicksals leichtem Wagen durch; und uns bleibt nichts, als, mutig gefaßt, die Zügel festzuhalten."


    Edit 2: Je öfter ich es lese: Das "Egmont"-Zitat ist ja wohl großartig. Das rahme ich mir.

    Ich muss mal sehen, dass ich mir von der hiesigen Universitätsbibliothek den Voss-Text elektronisch besorge.

    Der Aufsatz ist ziemlich kurz (7 Druckseiten), lohnt sich aber aus meiner Sicht sehr zu lesen. Voss gibt darin auch einen kleinen Überblick über Beethovens Änderungen am ersten Satz sowie Überlegungen, sich nach 1817 nochmal um veränderte Metronomzahlen zu kümmern. Ein Umstand, den Voss bei Erscheinen der Studie als musikwissenschaftlich bislang völlig vernachlässigt ansah. Aber das ist natürlich alles sehr verkürzt von mir. Die Indizienkette ist wirklich spannend und lehrreich.

    Ich würde da differenzieren. Eine Wirkungstradition ist erst einmal eine Gegebenheit, die man hinnehmen muss - ob man sie nun mag oder nicht. ^^

    Warum schreibst du das? Ich hatte bereits angemerkt, dass ich die Wirkungstradition selbstverständlich als gegeben betrachte.

    Unbestreitbar ist die 5. Beethoven sehr "heroisch" - da geht es grob gesagt darum, dass das "schwache Ich" zu einem "starken Ich" wird. Das ist sozusagen der allgemeine aber auch etwas unbestimmte Verstehenshorizont. Die Schicksalsproblematik ist dann eine darüber hinausgehende konkretisierende Auslegung - die Rezeption ist ja selber ein sinnschöpferischer Akt.

    Geck würde eher vom "schwachen Ich" zum "starken Wir" tendieren, oder? Er schreibt: "Gegen die Macht des Schicksals vermag sich das einzelne Subjekt nicht durchzusetzen; es kann sich nur den großen Bewegungen der Zeit anschließen und das Bad in der jubelnden Menge suchen" (Sinfonien, S.101). Es folgt natürlich der Hinweis auf die Frz. Revolution.

    Es scheint sich mit Blick auf euer beider Formulierungen also genau das zu bestätigen: Der "Verstehenshorizont" ist vage, unbestimmt. Und: Er wird beim "sinnschöpferische[n] Akt" der Rezeption wichtig. Ich könnte theoretisch also auch meinetwegen den sehr bodenständig und musikimmanent denkenden Toscanini mit Beethoven V hören, und dennoch könnte sich das "Heroische", "Schicksalhafte" usw. in meinem rezipierenden Bewusstsein bilden. Weil es - bei aller Unbestimmtheit - mit der ästhetischen Beschaffenheit der Komposition einhergeht und sich nicht über das Bewusstsein des Dirigenten oder der Musiker vermitteln muss.

    Natürlich ist diese Konkretisierung im Zeitkontext von Goethe und der Romantik plausibel - die Thematik der Abhängigkeit vom "Geschick" ist auch in der Literatur der Zeit präsent. Wenn man nun davon versucht zu abstrahieren ist allerdings die Frage, welche andere "Konkretisation" an die Stelle tritt, die wirklich überzeugender ist. Das wäre dann die Frage. Gibt es wirklich eine "bessere" Alternative? Ich sehe die Alternative im Moment nicht wirklich, habe mich damit aber auch nicht eingehender beschäftigt. :hello:


    Schöne Grüße

    Holger

    Genau, ich denke da z.B. auch an den "Wilhelm Meister". Und mein Gedanke zum Thema "Alternativen": Konkret sprechen ließe sich erst über den konkreten Einzelfall. Insofern halte ich mich da völlig zurück.

    Im Wesentlichen - und dem Positiven - sind wir uns doch aber wohl einig. Nur darauf kommt es letztlich an. Wir wollen uns ja alle nur gemeinsam bemühen, Brahms und bzw. Beethoven - vielleicht besser - zu verstehen. ;)

    Ja, es geht natürlich ums Verstehen. Aber wir werden uns sicherlich längst nicht in allem einig sein. Was ja auch nicht weiter tragisch ist.

    Ich finde aber z.B. das, was Geck über die Fünfte schreibt, überwiegend überzeugend. Er bietet mehrere Aspekte und Formulierungen an, anhand derer man sich diesem "Schicksalsding" nähern kann. Heißt: Er macht aus meiner Sicht sehr deutlich, dass man die geistige Idee nicht überstrapazieren sollte, weil sie vage ist und zu unterschiedlichen "Lesarten" führen kann. Sonnenklar aber ist, dass die "Pochabschnitte" (und das Oboensolo) schon rein strukturell von Beethoven als "exterritoriale" Gebiete markiert sind. Toscanini hätte Geck zufolge also gesagt: Es steht schon alles da, man muss es "nur" noch zum Klingen bringen und braucht keine weitere geistige/sprachliche Idee als Bezugspunkt.

    Was mir nicht gefällt an Geck, ist seine unvorsichtige Art, Voss in seine Betrachtungen einzubeziehen: Man merkt, dass er ihn für seine eigenen Gedanken "verwenden" möchte, und instrumentalisiert ihn somit etwas.

    Sehr zurückhaltend bin ich bei dem Aspekt der Wirkungstradition, der dir so wichtig ist. Die ist natürlich nicht wegzudiskutieren. Ich würde ihren "Machtanspruch" auf alle angehenden Interpreten aber wohl stärker relativieren oder in Frage stellen als du. Und wenn diese Wirkungstradition auf Schindler zurückgehen sollte, dann erst recht.

    Aber warum ist das schräg? Man kann doch nicht aufgrund einer bloßen Spekulation, dass Schindler das vielleicht erfunden haben könnte, eine wirkungsgeschichtlich begründete Deutung bestreiten. Voss braucht sich doch gar nicht damit zu beschäftigen, was an der Behauptung dran sein könnte, dass Schindler das vermeintlich erfunden hat, wenn er für die gegenteilige Annahme Belege findet.

    Das wird mir zu umständlich. Um mich nicht zu wiederholen, lasse ich jetzt einfach den Umstand stehen, dass ich anhand des von dir Geschriebenen erkennen konnte, dass du Voss wohl nicht gelesen hast - es gibt da inhaltliche Differenzen, die ich auch benannt habe.

    Falls es hier jemanden gibt, der an Genauigkeit interessiert ist: Holgers Ausführungen lesen sich erneut, als ob er die Voss-Studie nicht vorliegen hätte. Damit also hinsichtlich Voss (mir liegen beide Geck-Bücher ebenfalls vor) keine inhaltliche Schieflage stehen bleibt, schreibe ich noch ein paar Zeilen dazu.

    Die Behauptung, Schindler habe den Beethoven zugeschriebenen Ausspruch „So klopft das Schicksal an die Pforte“ eventuell erfunden, ist erst einmal reine Spekulation. Aufgrund einer bloßen Spekulation kann man aber nicht im Ernst die Rechtmäßigkeit einer zweihundertjährigen Wirkungsgeschichte bestreiten. Karajan wird so zu einer Art des Messias stilisiert, der den Weg zur Wahrheit in Sachen Brahms und Beethoven weist – nun endlich und ein für allemal „für die Ewigkeit“ gleichsam zeigt, dass es hier nicht um das Schicksal geht und dieser ganze Deutungshorizont sinnlos ist. Die Forschungen von Egon Voss zeigen allerdings dies, dass solche Unterstellungen bloße Spekulation bleiben und keine nachweisbare Begründung haben.

    Der letzte Satz ist schräg. Voss beschäftigt sich nicht damit zu belegen, dass der Vorwurf, Schindler habe den Ausspruch erfunden, auf bloßer Spekulation beruht. Er diskutiert ebenfalls nicht die Frage, ob der "Deutungshorizont" des Schicksalhaften sinnlos sei.

    Sein Gedankengang hat eine andere Richtung: Er zeigt, dass der Ausspruch "So pocht das Schicksal an die Pforte!" in einem gewissen Zusammenhang zu dem passen könnte, was Beethoven wollte - und es somit plausibel sei, Beethoven habe das womöglich selbst so gesagt.

    Der Zusammenhang, den Beethoven geknüpft haben könnte: Der Ausspruch soll einer deutlicheren, bewussten Hervorhebung der ersten fünf Takte und folgender "Parallelstellen" im Sinne der musizierpraktischen Ausführung dienen. Voss legt Wert darauf, dass es hier nicht um Schicksalssemantik im Sinne einer geistigen Idee geht, die dem Satz oder gar der Sinfonie zugrundegelegt werden müsste.

    Wenn man sich auf Voss beruft, lässt sich also - und das hatte Holger ja auch selbst erkannt - die Deutungstradition des "Schicksalhaften" nicht auf Beethoven selbst zurückführen. Sie lässt sich aber auf Schindler zurückführen, welcher 1860 in der dritten Ausgabe seines Buches aus einer Frage der Musizierpraxis plötzlich einen umfassenden Deutungszusammenhang konstruiert. Wenn man Voss hier Glauben schenken möchte, dann ergäbe sich die Konsequenz, dass der von Holger angesprochene Deutungshorizont eine Erfindung Schindlers und somit nicht "authentischer Beethoven" ist.

    Auch aus aktuellem, traurigen Anlaß:



    Auch diese Aufnahmen haben große Bedeutung für mich.

    Genau. Ich habe vor allem op.90 und die Moments Musicaux schon als Schüler geliebt und anhaltend gespielt, und das lag u.a. an diesen Aufnahmen - wobei ich bei dem Cover gerade nicht so sicher bin.

    Meine Lehrerin, deren Begeisterung über Brendel sich auf mich übertrug, schenkte mir die Peters-Noten zur Konfirmation. Und weil das alles so war, spielte ich bei ihrer Trauerfeier op.94,2 und später bei einem Gedenkkonzert zu ihren Ehren op.90,1.

    Das sind jetzt sehr persönliche Berührungspunkte, die sich da bei mir auftun.

    Und eben noch zu deiner Liszt-Erweckung: Wir haben da wohl die gleiche Sendung gesehen...:saint:

    Danke für deine Zeilen, die mich ebenfalls innehalten lassen. Spontan schließe ich mich deiner Hinwendung zu den Mozart-Konzerten an. Das sind großartige und für meine Ohren auch mustergültige Aufnahmen, deren Erinnerung allein mir schon etwas Tröstliches vermittelt.

    Brendel hat mich sicherlich mehr geprägt als viele andere, ebenso berühmte - oder gar berühmtere - Pianisten.

    Einer seiner Fernsehaufnahmen verdanke ich eine echte Liszt-Erweckung. Untermauert wurde dies von seinen klugen Gedanken zu Liszt in "Nachdenken über Musik".

    Natürlich: Schubert.

    Seine Grimassen beim Spielen in "jüngeren" Jahren - die er auf selbstkritische Weise reflektierte und deshalb ablegen wollte (und dies auch in beträchtlichem Maße tat), weil sie zu oft und zu stark den Ausdruck der Musik störten, konterkarierten.

    Seine ehrlichen Worte über "unspielbare" Stellen.

    Eine Fahrt mit meiner mittlerweile lange verstorbenen Klavierlehrerin in die Bremer Glocke, wo ich als Jugendlicher Schumanns "Sinfonische Etüden" von ihm hörte. Brendels Aura beeindruckte mich. Da war so viel uneitle Ernsthaftigkeit. Seinen Humor, den ich nicht immer teilen konnte, lernte ich erst deutlich später kennen.

    Es bleibt sehr viel von ihm.

    Da war meine Formulierung auch etwas unvorsichtig. Aber man kann nicht einfach sich - wie heute üblich - etwas zusammengoogeln und etwas abstreiten, d.h. das Unplausible plausibel erscheinen lassen.

    Das ist ein Gaga-Zusammenhang. Hier hat niemand gegoogelt. Du hast dich auf Geck verlassen, statt Gecks Quelle vorliegen zu haben. Und damit bist du Gecks falscher Darstellung unkritisch auf den Leim gegangen. Beim nächsten Mal wäre es besser, sich umfassender zu informieren bzw. abzusichern, bevor man Forianern ein sachlich falsches, aber umso großspurigeres "Deine Darstellung ist längst eindeutig widerlegt" vorlegt.

    Die Deutung der 5. Symphonie als "Schicksalssymphonie" ist nicht abhängig von der Deutung des Schicksalsmotivs allein. Dafür gibt es genug andere gewichtige Gründe.

    Was nicht bedeutet, dass eine solche Diskussion auch aus musikwissenschaftlicher Sicht zu einem eindeutigen Ergebnis führen müsste. Dass es eine solche Deutungstradition gibt, bleibt auch von mir unbestritten. Dass sie Interpreten darauf beschränkt, wäre eine falsche Konsequenz.

    Noch einmal, auch Du hast nicht verstanden, was ein "Wirkungszusammenhang" im hermeneutischen Sinne ist. Dass Brahms dieses Motiv als Schicksalsmotiv verstanden hat, ist aus dem Wirkungszusammenhang eindeutig. Sonst wäre es gar nicht zitierfähig. Das abzustreiten, ist reine Sophisterei. Aber zur Deutung des 1. Brahms speziell werde ich noch kommen.

    Holger, lies lieber genau, was ich geschrieben habe. Ich habe weder bestritten noch bestätigt, dass Brahms das "Motiv als Schicksalsmotiv verstanden hat". War nicht mein Thema. Ich fürchte, du regst dich wieder zu sehr auf.

    Du kannst natürlich wieder von anderen Dingen anfangen zu reden. Ich ziehe es allerdings vor, bei der Sache zu bleiben.


    Was ich auch mit Blick auf Glockentons Anmerkungen, auf die du dich bezogen hast, deutlich gemacht habe:


    1. Es ist mit Blick auf das angebliche Beethoven-Zitat keineswegs widerlegt, dass Schindler es Beethoven in den Mund gelegt hat.


    2. Es ist mit Geck/Voss ebenso wenig widerlegt, dass man sich als Interpret verpflichtet fühlen müsste, bei Brahms die "Schicksalssemantik" mitschwingen zu lassen. Diese Semantik könnte laut Voss sogar eine Projektion sein, die auf Schindlers Mist gewachsen ist. Und damit wäre Glockentons Satz, den du als "eindeutig widerlegt" bezeichnet hast, immer noch relevant: "Muss man als Interpret eine schon an sich zweifelhafte 'schicksalshafte' Deutung der Beethoven-Sinfonie überhaupt auf Brahms übertragen, nur weil dieser- sicher mit Absicht- ein ähnliches Motiv verwendete?"

    Dass Brahms rezeptionsgeschichtlich informiert war, würde ich gar nicht anzweifeln wollen und können. Dass ein heutiger Interpret rezeptionsgeschichtlich informierter sein wird, dürfte allerdings evident sein - und zu dem Schluss führen, dass man Glockentons Frage auch mit "nein" beantworten kann.

    Geck beruft sich, wie oben erwähnt, auf Egon Voss. Lediglich Geck zu zitieren, ist problematisch. Man müsste zu Voss zurück.


    Wenn man Voss' Studie liest, kann allerdings keine Rede davon sein, dass "längst widerlegt" sei, Schindler habe das Zitat "So pocht das Schicksal an die Pforte" Beethoven in den Mund gelegt. Voss bastelt sich eine Indizienkette zusammen und kommt zum Ergebnis, das Zitat aus Beethovens Mund könne durchaus authentisch sein. Allerdings garniert er seinen Gedankengang mit: "se non è vero è ben trovato". Von "widerlegt" kann gar keine Rede sein. Und das fällt letztlich auch auf Geck zurück, dessen Formulierung im Indikativ schlicht eine Verfälschung von Voss' vorsichtigerer Darstellung ist. Geck hätte besser schreiben sollen: "Es ist plausibel dargelegt worden, dass Beethoven den Ausspruch getan haben könnte".


    Zudem verbietet sich auf der Grundlage von Voss' Studie eine Gleichsetzung von semantischer und aufführungspraktischer Ebene des "Pochens".

    Voss stellt dar, dass Beethoven nach Fertigstellung der Sinfonie merkte, der Beginn könne womöglich zu leichtgewichtig gespielt werden. Voss: "Dem sollte der Vergleich mit dem an die Pforte pochenden Schicksal entgegenwirken."

    Schindler hatte in der ersten Auflage seiner Beethovenbiografie von 1840 für eine Tempoveränderung der ersten 5 Takte hin zu mehr Langsamkeit geworben. Dies steht laut Voss auch durchaus in Einklang mit Beethovens nachweisbaren Interessen zur Aufführungspraxis und einer besonders exponierten Betonung des "Klopfmotivs". Erst in der dritten Auflage seines Buches von 1860 aber möchte Schindler das angebliche Zitat Beethovens als semantischen Schlüssel nicht nur für den ganzen Satz verstanden wissen.

    Voss: "Schindler entwickelte also aus einem bloßen Anschauungsmodell für die praktische Aufführung der Anfangstakte des 1. Satzes den Träger der Semantik der gesamten Symphonie".

    Ach schön, ich wäre auch fast Freitag gegangen, aber ein Familienfest gestern und heute ist wichtiger.

    Bei mir heute auch Familientreffen - allerdings wurde gestern gesagt (und ich habe eben auch nochmal nachgeguckt), dass es für heute noch ein kleines Kartenkontingent gibt. Sollte ich rechtzeitig zurück sein, überlege ich es mir noch. Das Quartett ist famos.

    Kleine Korrektur: Gestern wurde zwar Schönberg op.7 gespielt, allerdings steht das natürlich in d-Moll.

    Mein Lieblingsquartett feiert sein 30jähriges Bestehen dieses Wochenende in Hamburg mit drei Konzerten. Am Sonntag bin ich in der Elphi dabei, wenn das Belcea Quartett mit Verstärkung Mozarts Streichquintette KV 515 & 516 zur Aufführung bringt.

    Da wünsche ich dir ganz viel Freude an diesen tollen Musikerinnen und Musikern. Heute war der Auftakt im Kleinen Saal der Laeiszhalle (nicht ganz gefüllt) mit Schönberg c-Moll, op. 7 und Beethoven cis-Moll, op.131 - also mit zwei echten Brocken. Intensität und Spannung von Anfang bis Ende, grandioses Konzert!

    Das hier rezensierte Konzert / Jahresprogramm habe ich nicht selbst erlebt, aber einige andere, neulich das 2025er Programm, oft mit hohem Genuss und Bewunderung, aber einige Sätze dieser Kritik kann ich nachvollziehen und unterschreiben. Das Sokolov-Ritual scheint mir in Erstarrung zu geraten.


    https://www.radiodrei.de/musik…bend-grigory-sokolov.html

    Das kann ich einerseits im Rückblick auf das gestrige Konzert in der Hamburger Laeiszhalle nachvollziehen. Rahmen und Ablauf des Konzerts sind einfach sehr stereotyp.

    Andererseits war das Publikum ebenso hingerissen, wie ich es beim letzten Konzert in HH erlebt habe - für mich war also kein "Abnutzungseffekt" auszumachen.

    Erst einmal belegt Lazar Berman mit seinen feinsinnigen Liszt-Interpretationen, wo wirklich jede Note ernst genommen und alles bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet wird, was das bedeutet.

    Holger, ich fürchte, du entgleist gerade.

    Aber wenn für dich das Begründen jeder Note (eigentlich könnte man besser sagen: Ein Musiker müsste jeden 'Ton', den er spielt, begründen können - für die Begründung der Noten wäre der Komponist zuständig, wenn man so wollte) gleichzusetzen ist mit "jede Note ernst" nehmen, kommen wir einander inhaltlich überraschend nah. Hätte ich nicht gedacht. :)


    Zweitens sollte man den Kontext kennen, aus dem die Goldenweiser-Maxime stammt. Goldenweiser war ein Gegner des in der russischen Klavierschule gepflegten Expressivo-Stils mit seinen Freizügigkeiten. Darüber bist Du ganz offensichtlich nicht im Bilde und schwafelst einfach nur herum.

    Du verlierst die Contenance und damit auch den Sinn für die äußeren Grundvoraussetzungen von kontroverser Rede und Gegenrede. Ich habe dir deutlich gemacht, dass mir das Goldenweiser-Zitat zu diffus erschien, um daraus inhaltliche Klarheit zu gewinnen. Jetzt sagst du mir zwar, aus welchem Kontext es stammen soll, verbindest dies aber mit einem ungehörigen Ad hominem-Angepampe. ;(


    Wenn jemand über eine rote Ampel fährt, fährt er über eine rote Ampel. Wenn bei Ravel ausdrücklich steht "Dasselbe Tempo" und man nicht dasselbe Tempo spielt, dann fährt man als Interpret über eine rote Ampel. Und dann braucht man schon eine sehr starke Begründung dafür. Der Notarzt darf über die rote Ampel fahren. Brauchte Ravels Musik etwa einen Notarzt, so dass Arzt Ciccolini über alle roten Notentext-Ampeln brettern durfte? :untertauch:

    Das ist mir zu billig. Aber selbst wenn ich mit deiner für mich befremdlichen Vorstellung von roten Ampeln mitginge: Du hast die Möglichkeit offenbar ausgeschlossen, dass Ciccolini tatsächlich "starke" Begründungen für seine Interpretation hätte anführen können = jede Note ernst genommen hat. Damit verlegst du den Inhalt deiner Kritik übrigens in Bereiche, die man nicht nachprüfen kann. Und ich glaube im Leben nicht, dass du oder jemand Anderes zuverlässig ableiten kann, welche Noten ernst genommen wurden und welche nicht. Man kann lediglich hören, was klingt bzw. wie es klingt. Daran müsste man sich m.E. in einer Kritik abarbeiten.


    Unstrittig ist, dass ich ein Fachmann bin und Du einfach keiner bist. Von daher kann ich jedenfalls beurteilen, was eine vertretbare und was eine abwegige Position in der Ästhetik ist.

    Auch das ist leider ganz billig. Und befremdlich für einen Philosophen, der das Wort "Sokrates" immer mal wieder anerkennend in die Tastatur buchstabiert. Ich kann mir gut vorstellen, dass ein solcher Hang zum Sichaufblasen u.a. mit deiner Hermeneutiker-Biografie zusammenhängt. In Gadamers Hauptschrift gibt es ja dieses für mein Verständnis hochproblematische Kapitel über Autorität und Tradition. Das bringe ich mit deinem Verhalten und deiner Schwäche für autoritäres Dampfhämmern mühelos zusammen.


    Ach Leute. Da sitzt jetzt die Fraktion, die aufgrund meines Einwandes gegen einen Kalehta-Satz das Popcorn rausgeholt hat. Ich denke aber eher an diejenigen, die sich über Ravel austauschen wollen. Tut mir leid. Vielleicht kommt ja noch der Löschzug.

    Du unterstellst mir da einfach etwas, was schlicht unsachlich ist.

    Nein, ich habe ausschließlich sachlich geschrieben. Der zu schreddernde Satz ist apodiktisch formuliert. Das passt aber grundsätzlich nicht zu deiner Darstellung, du habest eine sehr gut begründete Kritik vorgebracht. Das sind unterschiedliche Dinge.

    Wenn ein Interpret genau das Gegenteil von dem tut, was im Notentext steht, dann muss er das gut begründen können bzw. der, welcher das gut heißt, muss dann ebenfalls eine vernünftige Begründung dafür anbringen können. Lazar Berman berichtet von seinem Lehrer Alexander Goldenweiser, dass der seinen Schülern die Maxime mitgab: "Der Interpret muss jede Note, die er spielt, begründen können!" Wenn man das nun "verhandeln" will, was sind denn dafür nun die guten Gründe? Sind Gedankenlosigkeit, Unachtsamkeit, Schlampigkeit auf einmal ein positiver Wert?

    Ja, ich kenne diese Gedanken natürlich von dir. Man könnte jetzt darüber diskutieren, was es denn konkret heißen soll, wenn ein Interpret "jede Note, die er spielt, begründen" könnte. Das ist zwar eine für dich offenbar nette Vorstellung, für mich aber viel zu unklar und insgesamt fragwürdig. Als pädagogischer Hinweis mag sie bei den richtigen Schülern was taugen.

    Dass jeder gute Interpret auch reflektiert und analysiert: klar. Aber sicherlich in unterschiedlichem Maße, auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlicher Qualität, ohne dass man dies als Hörer von außen anhand der Musik sicher bestimmen könnte. Und gutes Musizieren kennt auch noch etwas Anderes als den ihm vermeintlich zugrundeliegenden Gegensatz "begründet" / "gedankenlos, unachtsam, schlampig". Da gibt es z.B. noch die Aspekte des Spiels und der Intuition. Im Zusammenhang damit: Ein guter Musiker kann auch die komplexe Beschaffenheit der Aufführungssituation berücksichtigen - bzw. tut er es auf irgendeine wie auch immer reflektierte Weise eh.

    Wir werden hier keine Übereinstimmung finden, aber mir kommen deine Zeilen zu undifferenziert sowie den Sachverhalt verkürzend vor. Zudem "muss" ein Musiker nichts begründen, was er nicht begründen will.

    Mit Verlaub: Kant, Hegel, Herbart oder Friedrich Nietzsche waren größere Geister als Du, weswegen ich mir erlaube, Deine unverbindlichen Meinungen über Ästhetik ganz unbenommen für "Schimären" zu nehmen. :P

    Ja, kein Problem. Dass wir beide von uns leider nicht behaupten können, als Geistesgrößen zu gelten, ist weder schlimm noch strittig. Und du hast ja nicht wirklich angenommen, ich wolle dich von etwas zu überzeugen versuchen. Ich wollte lediglich deinen verfehlten Satz und vor allem die ästhetische Problematik, die mit ihm aufscheint, kritisieren.

    Die Bemerkung ist absolut überflüssig. Als Philosoph halte ich mich an das sokratische "logon didonai" (dt. "Rechenschaft geben aus Gründen"). Ich habe meine Kritik an Ciccolinis Interpretation begründet und das finde ich sehr gut. Alle Anderen haben nur eine völlig unbegründete subjektive Meinung dagegen gesetzt.

    Das alles hinterfragbar ist, ist eine Banalität. Mit dem "Hinterfragen" hat Sokrates, also die Philosophie, begonnen. Die Behauptung dagegen, dass ästhetische Urteile nur hypothetisch bleiben könnten, ist schlicht und einfach nicht haltbar. Kant sagte: Über Geschmacksurteile kann man nicht streiten. Ästhetische Urteile bekommen nämlich ihre Verbindlichkeit durch den Bezug auf eine ästhetische Idee, die man freilich erkennen können muss. Dazu gehört nicht zuletzt so etwas wie Kompetenz und Sachkompetenz - oder anders ausgedrückt: ästhetische Bildung. Die hat man, oder die hat man nicht.


    Schöne Grüße

    Holger

    Du hast einen Basta-Satz formuliert und wolltest dem Leser in diesem Zuge weismachen, er sei aufgrund von Fakten nicht zu verhandeln. Wenn du es nicht so gemeint haben solltest, sondern dein Urteil lediglich als bislang am besten begründet ansiehst, kann der Satz dann wohl auch von dir aus in den Schredder.

    Zum Übrigen: Deine Vorstellung von der "Verbindlichkeit" ästhetischer Urteile bleibt dir natürlich unbenommen. Dass ich sie für eine Schimäre halte, bleibt mir wiederum unbenommen. Ich sehe in diesem Zusammenhang eine wenig überzeugende Verquickung von Bildung und Einbildung.

    Macht es denn überhaupt Sinn, die poetischen Freiheiten eines damals beinahe 90jährigen Interpreten auf ihre 'Berechtigung' zu befragen, zumal auf Basis eines vermutlich unauthorisierten Mitschnitts? Für mich ist das kein lohnendes Thema für eine Auseinandersetzung.

    Holger hat da m.E. einen inakzeptablen Satz rausgehauen. Die Interpretation Ciccolionis ist womöglich wirklich kein lohnendes Thema. Ich habe sie auch gar nicht gehört. Dass Holger die Interpretation mit dem Hinweis auf "Fakten" als unberechtigt hinstellt, ist aber nichts Anderes als seine eigene begründete Überzeugung, der er zu gerne den Nimbus der Unangreifbarkeit verleihen möchte. In Wirklichkeit sind ästhetische Urteile über Interpretationen aber grundsätzlich hinterfragbar und schon gar nicht von einer Person abschließend zu entscheiden. Holgers Satz gehört in den Schredder.

    Autor Eibl hatte auch Humor, wie man sieht. Er hat unter anderem die Goethe-Gedichteausgabe in zwei Bändern im Deutschen Klassiker Verlag herausgegeben (1987) und darin extensiv falsifiziert. Er ist also nicht irgend ein Doktorand, der eine Arbeit hochgeladen hat (wobei für mich das Renomee eher nebensächlich ist).

    Eben nur ganz kurz: Vielen Dank dafür, dass du den interessanten Eibl-Text verlinkt hast. Eibl ist in der Tat nicht "irgendein Doktorand", sondern ehemaliger Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft (Trier, München). Ich halte seit Jahren ein lesenswertes Buch von ihm in Ehren, nämlich: "Das monumentale Ich - Zwölf Vorlesungen über Goethes Faust".


    Und was ist den symphonischen Werken?

    Ich lese mir jetzt nicht den ganzen Thread durch, ob das bereits geschrieben wurde, aber auf Wiki ist vermerkt, dass z.B. der Beginn der 1. durch ein Gedicht von Adolf Bötttger angeregt wurde: https://de.wikipedia.org/wiki/1._Sinfonie_(Schumann)

    Ich lege für die Richtigkeit keine meiner Hände ins Feuer, aber vielleicht ist es ein gesicherter Bezug.

    Es war gestern in der Elphi durchaus beeindruckend.

    Den Sørensen hätte ich nicht gebraucht, wie ich gestehen muss. Das wirkte auf mich doch recht affektiert.

    Rach 2 habe ich insgesamt schon besser live gehört. Das war ein bisschen pflichtübungsmäßig absolviert, im gar nicht so züchtigen Kleid. Dass eine Künstlerin beim Applaus derartig exzessiv Kusshände verteilt, habe ich hingegen noch nie erlebt. Das Werk lässt sich für mich allerdings gar nicht zerstören, es war das Traumwerk meiner Jugend und ich habe es in zig Interpretationen gehört. Die gestrige war gar nicht so schlecht, einige Passagen im 1. Satz waren orchestral sauberer herausgearbeitet, als das meistens der Fall ist. Buniatishvilli natürlich technisch sauber und mit romantisch-schwelgerischen Gestus (und Mimik!). Aber grade die Höhepunkte fand ich ein wenig fantasielos gespielt. Das ist allerdings Meckern auf hohem Niveau.

    Mein Highlight war Nielsen 4; nicht sehr oft erlebt man überhaupt Nielsen live aufgeführt. Leider! Luisi hat den ersten Satz schneller genommen, als die anderen mir bekannten Einspielungen - geht aber grade noch gut. Herrlich war der pittoreske zweite Satz und vor allem das pathetische Adagio. Das hat mich so richtig gefangen genommen gestern! Im Finale ging auch gut die Post ab. Die beiden Pauker, wie von Accuphan beschrieben, recht weit auseinander aber mit meiner perkussionistischen Laiensicht würde ich sagen, dass sie hervorragend abgestimmt waren. Die Akustik in der Elphi hat es ihnen dabei vermutlich leichter gemacht, als in Stuttgart.

    Es war insgesamt toll, was auch mein in Sachen Klassik noch eher unerfahrener jüngerer Bruder so empfand, der mich gestern begleitete. Er möchte jetzt mehr Nielsen kennenlernen - optimale Arbeit vom DNSO!

    Ja, mein Sohn, der gerade am Tag zuvor selbst noch die "Rosenkavalier-Suite" in der Elphi gepaukt hatte, kann sich dem, was du schreibst, sehr anschließen. Der ist letztlich wegen des Nielsen hingegangen und wollte das mal live erleben mit den Pauken - hat sich dann aber links hinter sie gesetzt, um den Musikern "auf die Finger zu sehen". Er hat mir ein kurzes Video (in der Pause aufgenommen) von der Paukenaufstellung geschickt - weiter entfernt voneinander konnten sie kaum stehen...:)

    Rach 2 fand er oftmals ziemlich flott, aber nicht gehetzt. Der kennt allerdings wohl erst 2-3 Interpretationen davon, insofern ist das SEHR relativ.

    Ich weiß nicht mehr, auf welcher Grundlage ich das damals mit der "letzten Oper" geschrieben habe. Eben rupfte ich mal ein bisschen Literatur dazu aus dem Regal. Da sprang mir mit als Erstes der Untertitel von Ekhart Wyciks Buch "Zauberflöte ... die unbekannte Bekannte - Freimaurerische Symbole, Strukturen und Musik in Mozarts letzter Oper" ins Auge.

    Und in der Einführung von Kurt Pahlen steht es, wie von Tristan2511 bereits dargestellt: Mozart "unterbrach" seine Arbeit an der ZF, um den "Tito" innerhalb kurzer Zeit komponieren zu können. Er wohnte dann wohl dessen Ua in Prag bei, und dann formuliert Pahlen: "Nach der sofortigen Heimkehr vollendet Mozart Die Zauberflöte (...)".


    Edit: Stefan Kunzes Wälzer "Mozarts Opern" ist schon sehr betagt (von 1984), aber Kunze legt sich auch auf das von Christian bereits kolportierte Datum fest: Ouvertüre und Priestermarsch seien am 28. September fertig gewesen.

    Und ergänzend zu meinen Quellen: Meine Ausgabe von Pahlens zuerst 1978 erschienener Einführung (Schott) ist von 2011, Ekhart Wyciks o.g. Buch immerhin von 2017.

    Es ging bei der Diskussion ursprünglich gar nicht um Aristoteles, sondern um um die seltsame These, dass überraschende Effekte in der Dramaturgie des 18. und vor allem 19Jhs. nicht zum Einsatz kämen. Das kann man jetzt natürlich verkomplizieren und ins Griechische wechseln und Begrifflichkeiten zu klären versuchen. Aber man kann es auch abkürzen und sich einfach den vorhandenen Theaterkanon ansehen oder mal ein beliebiges Stück lesen. Damit ist dann die Frage beantwortet.

    Ah, okay. Den Verlauf resp. Beginn hätte ich so nicht mehr erinnert. Kurz: Da könntest du durchaus Recht haben! ;)

    Ich kann mir das eigentlich nur so erklären, dass Du unter "Überraschung" etwas völlig anderes verstehst als in der gängigen Dramaturgie üblich.

    Ich gehe auch davon aus, dass der Begriff "Überraschung" nicht von allen an der Diskussion Beteiligten deckungsgleich verwendet wird. Alle wissen zwar gleichermaßen um den aristotelischen Begriff der "Notwendigkeit" der Handlung, aber ich vermute, dass es von ihm aus präzisere Ausführungen dazu geben müsste, wie er mit der "Überraschung" zusammenpasst oder auch kollidiert und inwiefern man trotz der Vielfalt von Theaterstücken und ihren theoretischen Grundlagen wirklich generelle Aussagen tätigen kann.

    Man müsste sich und die Sache aus meiner Sicht besser / gründlicher erklären.

    Ich halte auch die Meinung von einer Vorrangstellung einer bestimmten Version, zumindest bei den Interpretationen, nicht für gegeben, wie ein Blick in die aktuelle Diskografie erkennen lässt.

    Dem kann ich gut folgen und werbe für den schon mehrfach ins Spiel gebrachten Gedanken, von zwei ästhetisch eigenständigen Fassungen auszugehen. Der Begriff der "Vorrangstellung" erscheint mir (bislang) ohnehin als diffus, nebulös und somit unangemessen.

    Ich habe mich angesichts der Diskussion gefragt, wie wir über die "Kindertotenlieder" sprechen würden, wenn es nur die Klavierfassung gäbe. Meine Erwartung wäre, dass wir ihr dann gerechter werden würden.

    Gerd Indorf in seinem Wälzer "Mahlers Sinfonien" (2010) über "Das Lied von der Erde" :


    "Die Reinschrift der Klavierfassung entstand offenbar 1908, noch vor der Partitur-Reinschrift der Orchesterfassung. Die Klavierfassung wurde erst 1989 in der Kritischen Gesamtausgabe als zweiter Supplementband veröffentlicht und erweist sich keineswegs als kompositorische Vorstufe der Orchesterfassung, sondern als eigenständiges Werk. Hermann Danuser kommt in seinem sehr aufschlussreichen Vergleich beider Fassungen zu dem Ergebnis, dass möglicherweise zumindest das zweite und vierte Lied zuerst als Klavierfassungen entstanden sind (...)" (S.395).

    In der Kölner Philharmonie habe ich vorgestern das Tetzlaff Quartett gehört. Vor dem klanglich interessanten Widmann- und dem für mich sehr langweiligen Brahmsquartett hörte ich in der ersten Hälfte ein fantastisches und für mich sehr interessantes Opus 131 von Beethoven. Ich kenne kaum ein Musikwerk so gut wie dieses und habe es in schon so vielen Aufführungen und Einspielungen gehört, aber diesmal habe ich wieder eine neue Seite dieses Werks vernommen. Das Tetzlaff Quartett spielte es dermaßen leise, dezent und filigran, wie ich es noch nie gehört habe. Es war wunderbar und zeigte für mich ganz neue Betrachtungsweise. Das war eine sehr schöne erste Halbzeit, die mir noch lange in Erinnerung bleiben wird.


    Soeben habe ich vom Tetzlaff Quartett das op. 130 auf CD bestellt und bin mal gespannt, ob diese Handschrift auch in dieser Aufnahme vorzufinden ist (vielleicht kann jemand den Link einstellen, ich weiß nicht, wie das geht).

    Hallo Uwe! Danke für deine Eindrücke, die für mich besonders deshalb interessant sind, weil ich das Quartett am Mittwoch, also dem Tag nach deinem Konzert, im Kleinen Saal der Elbphilharmonie hören durfte.

    Das Programm war nicht identisch: Statt des Beethovens wurde vor der Pause (eigentlich war es für die zweite Hälfte angekündigt) das 1. Schönberg-Quartett gegeben. Und das war für mich auch der persönliche Höhepunkt des Abends. Großartiges (und sehr langes) Stück, mit immer wieder überraschenden Facetten interpretiert.


    Mit dem Widmann habe ich etwas gefremdelt: Ja, klanglich interessant war er auch für mich, aber das oder die fesselnden Faszinosa habe ich nicht entdeckt. Beim als sehr hörenswert empfundenen Brahms ging es mir ähnlich wie Giorgia Bertazzi: Konzert-Kritik Tetzlaff-Quartett in Köln


    Mein Schwiegervater hat so ziemlich alles an dem Hamburger Abend als schlimm empfunden. Er schimpfte z.B. auch auf die Tatsache, dass die Violinen und die Bratsche "moderne" Greiner-Instrumente spielten (während sich das Guadagnini-Cello ein ausdrückliches Lob erspielte). Zudem sei die 2. Geige kaum zu hören gewesen. Letzteres war für mich zumindest in der 1. Hälfte beim Schönberg nur in seltenen Fällen nachvollziehbar (hatte womöglich auch mit der Position der 2. Geige rechts außen zu tun): Ich fand das Quartett klanglich ganz überwiegend hervorragend und damit natürlich auch ausgeglichen.


    Alles in allem ein besonderer, überzeugender Konzertabend. Ebenfalls mit einem wunderbar abrundenden Haydn-Adagio als Zugabe.

    Welche Kriterien werden herangezogen, wenn ein künstlerisches Werk der Musik beurteilt wird?

    Die Geschichte musikalisch-ästhetischer Wertung bzw. von Musikkritik zeigt eindeutig, denke ich, dass es zwar Kriterien, aber keinen "gültigen" Kriterienkatalog gibt.

    Ich sehe allerdings eine entscheidende Frage, auf die jegliches Urteil hinauslaufen dürfte: Welchen einzigartigen Wert erkennen wir im Stück, dem Vortrag, der Aufführung (...) für uns?

    Das bedeutet, dass ein überzeugendes Urteil sowohl fachkundige Bezüge zum "Werk" herzustellen hat als auch damit zusammenhängende Überlegungen, inwiefern sich die Betrachtung des Kunstgegenstands für uns Menschen als wichtig erweist. Zudem sehe ich in der Frage den Umstand repräsentiert, dass der Gegenstand nur dann einen Wert haben kann, wenn er eine ganz und gar individuelle Betrachtung erforderlich macht (weil er einzigartig ist) bzw. ihr standhält. Wäre er ein Massenprodukt oder auch nur eine Kopie, könnte man ihm m.E. als Kunstwerk keinen (über subjektives Empfinden hinausgehenden) Wert zusprechen.

    Der "Kritiker" kommt also nicht umhin, die Kriterien seiner Beurteilung in der Auseinandersetzung mit dem einen Werk zu "finden". Er kann sich konsequenterweise auch nicht davon freisprechen, dass er als Subjekt urteilt und demgemäß persönliche Schwerpunkte u.Ä. in seiner Kritik auszumachen sein werden (für mich alles andere als ein Defizit).

    Ich möchte allerdings nicht den Eindruck erwecken, ich würde der Notwendigkeit einer kontextlosen Betrachtung das Wort reden. Jedes Werk hat natürlich kontextuelle Verstrickungen. Ein guter Kritiker wird das bei seiner Beurteilung mitbedenken. Das ändert für mich aber nichts an dem Gedanken, dass alles in der einen entscheidenden Frage zusammenläuft: Welchen einzigartigen Wert hat die Musik für uns?