Hugo Wolf und Eduard Mörike

  • Das Lied wurde am 20. April 1888 komponiert. Es nimmt in vielerlei Hinsicht eine Ausnahmestellung in Wolfs Mörike-Opus ein. Dies nicht nur unter formalen Gesichtspunkten, der Tatsache nämlich, dass Wolf ausnahmsweise einmal ein Strophenlied komponiert hat. „Um Mitternacht“ ist wohl auch in einem Maße „stimmungshaltig“, wie das bei kaum einem anderen Mörike-Lied der Fall ist.


    Für den Griff zur Form des Strophenliedes bietet das Gedicht Mörikes wohl hinreichende formale und inhaltliche Gründe. Beide Strophen sind metrisch gleich gebaut, und – was noch wichtiger ist – : Das in der ersten Strophe entfaltete lyrische Bild beherrscht auch die zweite, und die „Quellen“ singen ihr gleiches Lied. Wolf muss wohl gespürt haben, dass er dieses lyrische Bild musikalisch so voll und ganz erfasst und ausgeleuchtet hat, dass eine Modifikation unangebracht war.


    Worin gründet dieses so starke evokativ-emotionale Potential dieses Liedes? Da ist zunächst einmal der Klaviersatz zu nennen. Er entfaltet mit den in klanglich dunkel wirkendem cis-Moll wie strömend repetierenden Achteln unter Einschluss von Terzen und Oktaven eine klangliche Aura, die nächtliche Atmosphäre evoziert. Und da diese Grundstruktur des Klaviersatzes auch dann erhalten bleibt, wenn er, der Singstimme folgend, Modulationen durchläuft, prägt er den klanglichen Charakter dieses Liedes sehr stark.


    Und dann ist da noch die Bewegung der Singstimme. Ruhe geht von ihr aus. Punktierte Viertelnoten dominieren, und das auf der Grundlage eines Zwölfachtel-Taktes. Wenn einmal Achtel auftauchen, dann wirkend sie wie eine melodische Legato-Brücke hin zum nächsten Viertel. Zu vernehmen etwa bei dem Verspaar „Ihr Auge sieht die goldne Waage nun // Der Zeit in gleichen Schalen ruhn“. Die Vokallinie verbleibt hier lange auf einer tonalen Ebene, und die lyrischen Hauptworte tragen allesamt eine melodische Dehnung.


    Überaus beeindruckend dabei, wie die Ruhe am Ende musikalisch zum Ausdruck gebracht wird: Bei den Worten „stille ruhn“ macht die melodische Linie der Singstimme nur einen kleinen Sekundschritt nach oben, kehrt dann wieder zu ihrem „gis“ zurück und klingt in Form einer langen, sich fast über einen ganzen Takt erstreckenden Dehnung aus, wobei sich das „gis“ harmonisch in ein „as“ wandelt. Das ist tatsächlich eine überaus expressive klangliche Evokation von Ruhe.


    Man meint bei diesem Lied zu hören, mit welcher Behutsamkeit und Achtung vor dem großen lyrischen Text sich Wolf diesem Gedicht kompositorisch näherte. Wenn man bedenkt, wie stark seine Neigung war, die jeweilige lyrische Vorlage mit allen Mitteln der musikalischen Expression auszuleuchten und zu interpretieren, dann spürt man die Zurückhaltung, die er hier übt, ganz besonders deutlich.

  • Man hat bei diesem Gedicht wirklich den Eindruck, dass keine Musik an seine Metaphorik und die lyrische Sprache, in der sie sich entfaltet, heranzureichen vermag. Fischer-Dieskau meinte einmal: „Hier würde das Gedicht neben ein Bildwerk wie Michelangelos >Notte< zu stellen sein.“ Womit er ja wohl sagen will, dass Mörikes Gedicht so wie diese Plastik in vollkommener Weise aus sich selbst spricht.


    Gleichwohl finde ich, dass Wolf ihm musikalisch sehr nahe gekommen ist. Ich wies schon darauf hin, dass er sich bei diesem Lied in auffälliger Weise zurückhält, was die interpretierende Ausleuchtung des lyrischen Textes mit musikalischen Mitteln anbelangt. Im Klaviersatz beschränkt er sich darauf, mit repetierenden Achteln einen Klangraum zu schaffen und dem, was die Singstimme zu sagen hat, vorwiegend durch harmonische Modulationen musikalische Akzente zu verleihen.


    Die enge Verschmelzung der Vokallinie mit dem lyrischen Text zeigt sich nicht nur darin, dass durchweg silbengetreu deklamiert wird. Die melodische Linie der Singstimme bildet in der Struktur ihrer Bewegung auch die Aussage der lyrischen Bilder ab: Das „Ans-Land-Schreiten der Nacht ist im ruhigen Aufwärtsschreiten der melodischen Linie ebenso zu vernehmen wie das Hervorrauschen der Quellen in deren Herabsteigen aus höherer Lage hinab zu ihrem Tiefpunkt bei dem Wort „Nacht“.


    Übrigens: Kein anderer Liedkomponist von Bedeutung hat sich - außer Hugo Wolf – mit seiner Musik an dieses Lied herangewagt. Es gibt Chor-Kompositionen von Hugo Distler und Manfred Schlenker. An Kompositionen für Singstimme und Klavier konnte nur die – mir unbekannten – Versionen von Werner Erich Josten (1885-1963), Clara Faisst (1872-1948), Wilhelm Bein (1883-1966) und dem 1964 geborenen Thomas Hennig eruieren. Letzterer hat neun Gedichte von Mörike vertont, darunter auch „Zitronenfalter im April“.

  • Gleichwohl finde ich, dass Wolf ihm musikalisch sehr nahe gekommen ist.

    Lieber Helmut,


    das finde ich auch! Weil er sehr tonmalerisch ein Stimmungsbild malt und damit die innere Empfindung "hinter" dem Text quasi bildlich nach außen kehrt. :)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Tochter des Walds, du Lilienverwandte,
    So lang von mir gesuchte, unbekannte,
    Im fremden Kirchhof, öd und winterlich,
    Zum erstenmal, o Schöne, find ich dich!


    Von welcher Hand gepflegt du hier erblühtest,
    Ich weiß es nicht, noch wessen Grab du hütest;
    Ist es ein Jüngling, so geschah ihm Heil,
    Ists eine Jungfrau, lieblich fiel ihr Teil.


    Im nächtgen Hain, von Schneelicht überbreitet,
    Wo fromm das Reh an dir vorüberweidet,
    Bei der Kapelle, am kristallnen Teich,
    Dort sucht ich deiner Heimat Zauberreich.


    Schön bist du, Kind des Mondes, nicht der Sonne;
    Dir wäre tödlich andrer Blumen Wonne,
    Dich nährt, den keuschen Leib voll Reif und Duft,
    Himmlischer Kälte balsamsüße Luft.


    In deines Busens goldner Fülle gründet
    Ein Wohlgeruch, der sich nur kaum verkündet;
    So duftete, berührt von Engelshand,
    Der benedeiten Mutter Brautgewand.


    Dich würden, mahnend an das heilge Leiden,
    Fünf Purpurtropfen schön und einzig kleiden:
    Doch kindlich zierst du, um die Weihnachtszeit,
    Lichtgrün mit einem Hauch dein weißes Kleid.


    Der Elfe, der in mitternächtger Stunde
    Zum Tanze geht im lichterhellen Grunde,
    Vor deiner mystischen Glorie steht er scheu
    Neugierig still von fern und huscht vorbei.


    Dieses Gedicht, das lyrisch die religiösen Dimensionen eines botanischen Gewächses ausleuchtet, sagt selbst etwas über den Anlass seiner Genese aus, - im letzten Vers der ersten Strophe nämlich: „Zum erstenmal, o Schöne, find ich dich!“


    Mörike kannte die Christrose tatsächlich nicht und ist ihr erstmals auf dem Friedhof des Ortes, an dem er anlässlich eines Festes seines Vetters sich aufhielt, im wahren Sinn des Wortes „begegnet“. Er schreibt darüber an Wilhelm Hartlaub (1841):


    „Eine mir völlig neue Blume mit fünf ganz aufgeschlagenen, ziemlich breiten Blättern, an Weiße und Derbheit wie die der Lilie. (…) Ihr Duft ist äußerst fein, kaum bemerklich, aber angenehm. So reizend fremd sah sie mich an, so sehnsuchtserregend. (…) Sie freute mich unbeschreiblich und schon dachte ich daran, meine Empfindungen bei guter Zeit in einigen Strophen auszudrücken – kann wohl auch noch geschehen.“


    Es ist „geschehen“. Und die hier gleichsam quellenmäßig überlieferten Umstände der Genese des Gedichts sind hilfreich beim Erfassen seiner dichterischen Aussage. Das Gedicht zeichnet sich nämlich durch einen es ganz und gar prägenden und überaus reizvollen meditativ-dialogischen Ton der Begegnung mit einem fremden Wesen aus, das in derselben sich in den Tiefendimensionen seines Wesens enthüllt. Man hat gleichsam an diesem Akt seiner Erschließung unmittelbaren Anteil. Und das ist zauberhaft.


    Die Christblume wird – ganz typisch für den Lyriker Mörike – als Teil der Natur mit der Aura der Personalisierung umgeben und damit in den Raum menschlicher Lebenswelt hereingeholt. Sie wird anfänglich als „Tochter des Waldes“ angesprochen, rückt aber im weiteren Verlauf dieser Ansprache mehr und mehr in die Sphäre der Transzendenz. Die Wonne anderer Blumen, das helle Licht der Tagessonne, wäre tödlich für sie. Sie ist ein „Kind des Mondes“ und lebt von himmlischem Balsam. Vollends kündet ihr kaum merklicher Duft, der das lyrische Ich an das Brautgewand Marias erinnert, von ihrer Zugehörigkeit zur Welt christlicher Religiosität.


    Und wiederum ganz typischer Mörike begegnet einem in der Schlussstrophe. Das ist ja kein wirklich religiöses Gedicht. Es ist lyrischer Niederschlag einer Begegnung mit einem Wesen aus der Natur, das freilich als mit einer mystischen Glorie umgeben erfahren wird. Dennoch ist es ein Wesen des irdischen Hier und Jetzt. Was also ist näherliegend, als dass ihm ein Elf begegnet, der, wie es selbst auch, beiden Welten zugehörig ist.


    Bezaubernd das Bild: Der Elf geht – auf ganz und gar irdische Weise – „zum Tanze“. Aber der Teil seines Wesens, der jener anderen Welt zugehörig ist, drängt ihn, vor dieser Christblume wenigstens einen Augenblick still zu verweilen.

  • „Mäßig Langsam“, lautet die Vortragsanweisung für dieses Lied, das im Viervierteltakt steht. Die langsame Bewegung der melodischen Linie der Singstimme bestimmt den Klangeindruck, den es macht. Ein besinnlicher Grundton liegt über allem, und er entfaltet sich pianissimo. Nur die Schlussstrophe bringt eine klangliche Überraschung. Nicht, dass das Pianissimo verlassen würde, aber etwas mehr Leben kommt in das Lied. Freilich ist es ein geheimnisvolles Leben. Und insofern bringt es keinen musikalischen Bruch mit sich, denn ohnehin umgibt eine Aura des Geheimnisvollen dieses Bild von der Christrose. Wolf hat sie in überaus eindrucksvoller Weise musikalisch eingefangen.


    Der Charakter des Liedes wird ganz wesentlich von dem Gegensatz von rhythmischer Ruhe und klanglicher Vielfalt geprägt. Der für Wolf so typische liedkompositorische Ansatz, dieses musikalische Sich-Einlassen auf die Expressivität des lyrischen Bildes, hier ist er in seiner höchsten Entfaltungsstufe zu vernehmen.


    Musikalisch gibt es hier dies alles: Nachdenkliche Besinnlichkeit, liebliche Verzückung, zärtliche Zuwendung, religiöse Beschaulichkeit und am Ende Elfenzauber. Kompositorisch drückt sich dies in einer ungewöhnlichen Vielfalt der „Techniken“ aus: Variable Deklamation, reiche harmonische Modulation, vielfältiges Chroma und abwechslungsreiche Rhythmik. Und das Bewundernswerte daran ist: Diese Vielfalt gefährdet die musikalische Einheit an keiner Stelle. Der Grund dafür: Diese Vielfalt ist durchgängig textbedingt.


    Das Lied kann in seiner Gänze hier nicht beschrieben werden. Dazu ist es zu lang. Eine Beschränkung auf markante kompositorische Merkmale dürfte hinreichend sein. Zeichnen sich andere Lieder Wolfs durch lebhafte und von großen Intervallen geprägte Bewegung der melodischen Linie aus, so hebt sich dieses dadurch davon ab, dass das Verharren auf einer tonalen Ebene auffällig häufig vorkommt. Und dies gepaart mit einem Ostinato im Klaviersatz. Wenn dieses Lied klanglich den Eindruck von Nachdenklichkeit und Besinnlichkeit macht, so dürfte das ganz wesentlich daran liegen.


    So setzt die melodische Linie der Singstimme ja schon ein. Die Worte „Tochter des Waldes“ und „So lang von mir“ werden auf einem Ton deklamiert. Und die Besinnlichkeit dieses melodischen Tons wird noch durch die Dominanz der großen und der kleinen Sekunde in der Aufwärtsbewegung der Vokallinie intensiviert.


    Das Finden der Christrose wird als herausragendes Ereignis in Form eines Sextfalls, verbunden mit einer harmonischen Rückung musikalisch zum Ausdruck gebracht. Einen zärtlichen Ton nimmt die aufsteigende melodische Linie über Nonen-Akkorden bei den Worten an: „Von welcher Hand gepflegt du hier erblühtest“, und eine Steigerung dieses zärtlichen Tones in der Ansprache der Christrose erfolgt im weiter ausgreifenden Emporsteigen der melodischen Linie bei den Worten „wessen Grab du hütest“. Mit welcher kompositorischen Kunstfertigkeit Wolf die harmonische Modulation als musikalisches Ausdrucksmittel einsetzt, vernimmt man in beeindruckender Weise bei den Worten „Ists eine Jungfrau“.


    Das Geheimnisvolle des Bildes vom „nächtgen Hain“ wird durch eine lineare Melodieführung, gepaart mit einem Oktav-Ostinato, musikalisch evoziert. Das „gis“ der Singstimme steht dabei in einer höchst expressiven harmonischen Spannung zu den fis-Oktaven im Klavierdiskant. Die ganze vierte Strophe steht klanglich unter dem Bann dieser starren Linearität in der Führung der melodischen Linie und den ostinaten Achtel-Oktaven im Klavier. Er löst sich erst bei dem Bild vom „Zauberreich“ am Ende auf.


    Über gehaltenen Akkorden werden die Worte „Schön bist du“ auf höchst markante Weise deklamiert. Und diese melodische Linie geht dann in der unmittelbaren Folge in einen überaus lieblichen Ton bei den Worten „andrer Blumen Wonne“ über. Ist jedoch das Bild von der „himmlischen Kälte“ musikalisch zum Ausdruck zu bringen, macht die melodische Linie einen Quintfall über einem Quint-Akkord im Klavier.


    Mit einer überaus expressiven Melodik, in der man Lobpreis und Bewunderung zu hören vermeint, erklingen die ersten Verse der fünften Strophe. Es-Dur ist jetzt die dominierende Tonart. Und auch dieser Tonartwechsel gibt diesem Teil des Liedes besonderes musikalisches Gewicht. In regelrechte Verzückung geraten Melodik und Harmonik bei dem Bild von „der beneideten Mutter Brautgewand“. Und auch das Verharren der melodischen Linie auf einem Ton bei den Worten „fünf Purpurtropfen schön“, bei gleichzeitigem Ansteigen der Klangfiguren im Klavier, ist ein Beispiel für die überaus beeindruckende musikalische Expressivität, die in diesem Lied entfaltet wird. Beeindruckend ist sie deshalb, weil sie als vollkommener Ausdruck der jeweiligen Aussagen des lyrischen Bildes empfunden wird.


    Mit der letzten Strophe kommt ein neuer Ton in das Lied. Eingeleitet wird er mit Sechzehntel-Triolen im Klavierdiskant, die im Piano-Pianissimo einen regelrechten Zauberklang entfalten. Der Übergang erfolgt dabei lückenlos. Man empfindet nicht den mindesten klanglichen Bruch im Lied, weil sich die Triolen wie gewachsen aus der Harmonik entfalten, in der die letzten Worte der sechsten Strophe deklamiert werden.


    Wieder verbleibt die melodische Linie auf einer Tonebene, dieses Mal bewegt sie sich aber rascher, elfenmäßiger eben. Die Worte „vor deiner mystischen Glorie“ entfalten bei dieser Art von Deklamation auf einem Ton die Aura des Geheimnisvollen, ja Numinosen. Die Worte „und huscht vorbei“ erklingen auf einer melodischen Linie, die in eine verminderte Terz mündet. Irgendwo hin huscht der Elf. Die Richtung bleibt musikalisch offen. Und über den fallenden Triolen im Klaviersatz steht „sich verlierend, pppp“.

  • Lieber Helmut,


    auf youtube kann man die beiden Lieder "Auf eine Christblume" mit Fischer-Dieskau hören und dabei parallel den Notentext verfolgen - sehr schön gemacht:


    http://www.youtube.com/watch?v=4Z1AwQeqQnk


    Ein faszinierendes, hochkomplexes Lied. Genau wie Du schreibst: man verliert sich trotz der Fülle an Gedanken nie in die Einzelheiten. Am Anfang imitiert er Naturhaftigkeit durch das Verharren auf einer Tonstufe und den Quartsprung - erinnert in dieser Art ein wenig an Liszts Goethe-Vertonung von "Ein Gleiches" "Über allen Gipfeln ist ruh...." Die zart schwebenden Elfen am Schluß - eindrucksvoll und unkonventionell. Keine Reprise oder so etwas am Schluß! Das muß ich mir noch mehrmals anhören!


    Schöne Grüße
    Holger

  • Zit.: "sehr schön gemacht".
    Ja, gestehe ich gerne zu, lieber Holger. Objektiv betrachtet, ist das eine gute Sache.


    Gleichwohl: Das Hören von Liedern mit dem Bildschirm vor Augen ist für mich, als würde man einen Vorhang zwischen mir und der Musik herunterlassen. Es stört mich sehr, und ich kann mich damit nicht anfreunden. Bin wahrscheinlich zu alt!

  • Zit.: "sehr schön gemacht".
    Ja, gestehe ich gerne zu, lieber Holger. Objektiv betrachtet, ist das eine gute Sache.


    Gleichwohl: Das Hören von Liedern mit dem Bildschirm vor Augen ist für mich, als würde man einen Vorhang zwischen mir und der Musik herunterlassen. Es stört mich sehr, und ich kann mich damit nicht anfreunden. Bin wahrscheinlich zu alt!

    Lieber Helmut,


    am liebsten habe ich die Notenblätter, um beim Hören mitzulesen. Bei Klavier ist meine Sammlung ganz ordentlich - beim Lied muß ich halt auf solche Notlösungen am Bildschirm zurückgreifen. Musikhören am Computer ist für mich hifidelen Hörer so etwas wie schlecht gekochtes Essen... ;)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Statt mich bei Dr. Holger Kaletha dafür zu bedanken, dass er – was ich nicht kann – einen Link hergestellt hast, der es den Lesern dieses Threads ermöglicht, unter Einbeziehung des Notentextes das hörend zu verfolgen, was ich hier schreibe, lasse ich mich über meine subjektive Befindlichkeit beim Hören vor dem Bildschirm aus.


    Ein ziemlich törichter Beitrag war das. Ich sollte bei dem bleiben, was meine Sache hier ist: Die Betrachtung der Mörike-Lieder Wolfs.

  • Dieses Lied ist das erste einer Reihe von Kompositionen, bei denen Wolf sich auf religiös geprägte und von christlicher Frömmigkeit inspirierte Gedichte Mörikes einlässt. Dass dieser in seiner Lyrik solche Themen aufgreift, ist bei dem Theologen und Pastor Mörike nicht weiter verwunderlich, obwohl festzuhalten ist, dass er dabei keineswegs amtskirchlich-orthodoxe Positionen vertritt. Sowohl pietistische Einflüsse lassen sich feststellen, als auch ein deutliches Sympathisieren mit der gefühlsbetont-sinnlichen Religiosität des Katholizismus.


    Verwunderlich ist eher, dass Hugo Wolf zu diesen Gedichte gegriffen hat. Über eine besondere Frömmigkeit und Teilnahme am kirchlichen Leben seinerseits ist nichts bekannt. Und auch nichts über eine gedankliche und emotionale Beschäftigung und Auseinandersetzung mit religiösen Fragen und Themen. Warum also dieser Griff nach diesen Gedichten?


    Der Wolf Biograph Kurt Honolka meint, Wolf sei im Grunde seines Wesens ein Schauspieler gewesen, der in jede fremde Haut habe hineinschlüpfen können. Er verweist in diesem Zusammenhang auf eine Äußerung Wolfs Humperdinck gegenüber, in der er sich als einen „objektiven Lyriker“ bezeichnete, „der aus allen Tonarten pfeifen kann.“ Interessant ist daran der Begriff „objektiver Lyriker“. Wolf dürfte damit seine Fähigkeit angesprochen haben, sich als Lyriker, der er seinem Wesen nach ist, in besonders guter Weise in objektiv vorliegende Lyrik einfühlen und das dort sprachlich vorgefundene gleichsam nachvollziehen zu können.


    Nun ist dies ganz sicher die Vorsausetzung dafür, dass er als Komponist auch zu Texten mit religiösem Gehalt griff. Es erklärt aber noch nicht die Motivation. Und hier nun gibt gerade dieses Lied interessante Auskünfte, die sich – das sei schon einmal angedeutet – bei der Betrachtung der anderen Lieder, die zu dieser Gruppe gehören, bestätigen werden. Es sieht so aus, als habe sich Wolf durch die stark affekthaltigen und meditativ geprägten lyrischen Aussagen, wie sie sich in diesen Gedichten finden, zusammen mit der zugehörigen Metaphorik besonders angesprochen und musikalisch inspiriert gefühlt.


    Wenn man all den Gedanken und Empfindungen, die Mörike in diesem Gedicht lyrisch entfaltet, folgt und die sie tragenden und begleitenden lyrischen Bilder auf sich wirken lässt, gerät man unwillkürlich in diesen inneren Sog, der ihnen innewohnt. Man gerät dabei in den Bann jenes Exorbitanz-Erlebnisses, das den lyrischen Kern dieses Gedichtes bildet. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass es genau diese Lese-Erfahrung war, die Wolf zu seiner Komposition animiert hat.


    Vieles spricht dafür. Zum Beispiel der durchgehend betrachtend-meditative Charakter, der Musik, die das Pianissimo nicht wirklich verlässt und gleichwohl immer wieder klangliche Elemente der Verzückung aufweist. Schon beim vierten Vers der ersten Strophe kann man das hörend erleben: Die Vokallinie beschreibt mit einem Crescendo einen licht gedehnten melodischen Bogen und das Klavier folgt ihr dabei – „zart anschwellend“ – mitsamt einer klanglich ausdrucksvollen harmonischen Rückung.


    Solchen wie klangliche Blüten aus einem ruhevollen musikalischen Grund sich entfaltenden Passagen begegnet man in diesem Lied immer wieder. Sie sind oben beschrieben worden und brauchen deshalb hier nicht mehr erneut aufgezeigt zu werden. Es sei nur noch einmal in gleichsam exemplarischer Weise auf die aus dem von Nonenakkorden geprägten Klangbild der zweiten Strophe am Ende aufblühende liebliche Melodik bei den Worten „Ists eine Jungfrau, lieblich fiel ihr Teil“ verwiesen.

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Statt mich bei Dr. Holger Kaletha dafür zu bedanken, dass er – was ich nicht kann – einen Link hergestellt hast, der es den Lesern dieses Threads ermöglicht, unter Einbeziehung des Notentextes das hörend zu verfolgen, was ich hier schreibe, lasse ich mich über meine subjektive Befindlichkeit beim Hören vor dem Bildschirm aus.


    Ein ziemlich törichter Beitrag war das. Ich sollte bei dem bleiben, was meine Sache hier ist: Die Betrachtung der Mörike-Lieder Wolfs.


    Lieber Helmut,


    das finde ich gerade sehr sympathisch! Vielleicht ein bisschen dürfen wir auch über uns selbst verraten! :hello:


    Deine zweite Ausführung führe ich mir nachher zu Gemüte.... :)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Nein, lieber Holger, - das war wirklich eine Dummheit meinerseits!


    Ich hätte doch froh sein sollen über diesen Link, den Du da geschaltet hast. Ich habe mir diese Interpretation inzwischen sehr genau angehört. Leider ist die Aufnahme nicht datiert. Der Pianist ist offensichtlich Gerald Moore. Jedenfalls ist das sein Kopf von hinten, was da auf dem kleinen Bildchen zu sehen ist, und außerdem ist das genau die Begleitung, die ich aus der Aufnahme von 1957 kenne. Es gibt übrigens auch noch eine überaus hörenswerte Aufnahme der Mörike-Lieder als Mitschnitt von der Salzburger Festspielen 1961, bei der ebenfalls Moore begleitet. Ich selbst benutze ja als Referenz die Aufnahme mit Barenboim als Begleiter. Sie erschien 1972 bei der DG.


    Eben, beim nochmaligen Hören der Aufnahme bei Youtube, hatte ich den Eindruck, dass Fischer-Dieskau die Deklamation noch ausgeprägter wortorientiert praktiziert, als ich das von der DG-Aufnahme kenne. Und Moore begleitet weniger klangorientiert als Barenboim, lässt dafür aber die tonale Struktur des Klaviersatzes deutlicher hören. Aber das sind nur Details, die bei der überragenden Qualität der jeweiligen Interpretation letzten Endes belanglos sind.

  • Lieber Helmut,


    es ist doch bemerkenswert, daß auch ein so "intellektueller" Sänger wie Fischer-Dieskau, der genau weiß was er will, sich doch offenbar auf den Liedbegleiter einstellt. So sollte es bei einer fruchtbaren künstlerischen Partnerschaft eigentlich auch sein. Oder hat sich sein Stil mit den Jahren geändert?


    Die Problematik ist eine sehr tiefgründige, die Du da ansprichst. Kann man religiöse Empfindungen überhaupt in Musik umsetzen? Die romantische Naturreligiosität ist natürlich nicht dogmatisch gebunden - tritt also auf in einer Form auf, die sich auch einer säkularen Vertonung nicht verschließt.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Mein Thema sind hier die Lieder selbst, - und nicht ihre Sänger. Aber da ich nun schon einmal auf die verschiedenen Interpretationen der Mörike-Lieder durch Fischer-Dieskau eingegangen bin:


    Natürlich stellte er sich auf seine Begleiter am Klavier ein. Es gibt eine Fülle von Beispielen, wo man die interpretatorische Interaktion, die da jeweils stattfand, sehr deutlich hören und erkennen kann. Die stärksten "Effekte" dieser Art kenne ich im Falle von Fischer-Dieskau bei - und jetzt der Reihenfolge der Intensität nach - : Leonard Bernstein, Swjatoslav Richter, Alfred Brendel und Daniel Barenboim. Die drei haben in den jeweiligen Fällen deutlich auf die Art und Weise eingewirkt, wie Fischer-Dieskau die Lieder interpretierte. Aber dominant waren auch sie nicht! Das war bei diesem großen Sänger und Interpreten nicht möglich.


    So! Das ist hier mein letztes Wort in Sachen Liedersänger.

  • „Auf eine Christblume“ besticht durch die Vielfalt und den Reichtum an Klängen. Man erlebt Wolf hier in jener Nähe zum musikalischen Impressionismus, die immer wieder einmal bei ihm zu beobachten ist und die zu einem großen Teil seine liedkompositorische Modernität begründet.


    Von Anfang an schlägt das Lied damit im Bann. Bestechend, wie sich aus dem rezitativischen Grundton des ersten Verses im Klaviersatz aus einfachen Akkorden ein filigranes Klanggebilde entfaltet, das am Ende der ersten Strophe bei den Worten „find´ ich dich“ eine Art Kulmination mit der überraschenden Rückung nach Fis-Dur erlebt. Sie setzt sich in einem überaus modulationsreichen zweitaktigen Zwischenspiel fort.


    Und dann – am Beginn der zweiten Strophe - die wunderbare, von Nonen-Akkorden getragene Ruhe in der Bewegung der melodischen Linie, die ein wenig an Wagner erinnert.


    Ich habe versucht, diesen Klangreichtum in seiner funktionalen Bindung an die Aussage des lyrischen Textes aufzuzeigen. Denn er ist ja nicht Selbstzweck, und das macht die Größe dieser Liedkomposition aus. So ist diese harmonische Rückung am Ende der ersten Strophe Ausdruck des tiefen Eindrucks, den die überraschende Begegnung mit der bislang unbekannten Christblume auf das lyrische Ich macht. Und die von Nonen-Akkorden geprägte Harmonik der ersten beiden Verse der zweiten Strophe bildet den Klangraum für die Nachdenklichkeit, der sich das lyrische Ich bei der Betrachtung der Blume hingibt.

  • Lieber Helmut,


    man fragt sich ja, warum sich der Hörer bei Wolfs höchst komplexer Vertonung nicht "verliert". Das liegt wohl nicht zuletzt an dem sehr klugen und - bei aller Komplexität - sparsamen Umgang mit dem motivischen Material. Das müßte man allerdings dann mal genauer analysieren.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Die Faktur dieses Liedes ist tatsächlich sehr komplex: Jede Strophe weist gleichsam ihre eigene Grundstruktur auf, was die Melodik und den Klaviersatz anbelangt. Selbst die Tonart wechselt mehrfach. Zwar kehrt das anfängliche D-Dur bei der letzten Strophe wieder, aber diese weicht nun mit ihren triolischen Sechzehnteln in der Begleitung klanglich derart stark vom Klangbild der ersten Strophe ab, dass auch die Tonart nicht wirklich „einheitsstiftend“ in diesem Lied ist.


    Es ist, wenn man dies alles berücksichtigt, tatsächlich so, dass die innere Einheit des Liedes durch Mörikes Text gestiftet wird, in dem die meditative Ansprache der „Christblume“ die durchgehende lyrische Substanz bildet. Wolf tut ja nicht mehr, aber auch nicht weniger, als den verschiedenen Aspekten dieser Ansprache und den Bildern, in denen sie sich lyrisch konstituiert, zu folgen. Die klangliche Vielfalt, die sich daraus ergibt, ist also textkonstituiert. Darin gründet ihr innerer Zusammenhalt und damit die innere Einheit des Liedes. Und dies wiederum verhindert, dass der Rezipient sich in seiner klanglichen Vielfalt verlieren könnte..

  • Die klangliche Vielfalt, die sich daraus ergibt, ist also textkonstituiert. Darin gründet ihr innerer Zusammenhalt und damit die innere Einheit des Liedes. Und dies wiederum verhindert, dass der Rezipient sich in seiner klanglichen Vielfalt verlieren könnte..

    ... was sich zeigt in einer Art leitmotivischer Verwendung solcher mit dem Text verbundener Motive, so war mein Eindruck! :)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Ja, Wolf arbeitet kompositorisch gerne mit dem Leitmotiv. Darin ist er Wagner-Schüler. Es nimmt bei ihm aber nicht den Raum ein und hat auch nicht die Bedeutung, die es bei diesem hat.

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose
  • Im Winterboden schläft, ein Blumenkeim,
    Der Schmetterling, der einst um Busch und Hügel
    In Frühlingsnächten wiegt den samtnen Flügel;
    Nie soll er kosten deinen Honigseim.


    Wer aber weiß, ob nicht sein zarter Geist,
    Wenn jede Zier des Sommers hingesunken,
    Dereinst, von deinem leisen Dufte trunken,
    Mir unsichtbar, dich blühende umkreist?


    Diese beiden Strophen sind ein eigenes Gedicht und keinesfalls von Wolf aus dem anderen mit dem gleichen Titel herausgelöst. Es entstand Ende November, Anfang Dezember 1842 und wurde vom Dichter selbst mit der römischen Ziffer II in den Kontext des ersten gestellt. Die zufällige Begegnung mit dieser ihm zuvor völlig unbekannten Blume auf dem Friedhof eines Dorfes, in dem er an einem Fest teilnahm, muss ihn sehr stark angesprochen und innerlich beschäftigt haben. Anders ist eine „Fortsetzung“ der dichterischen Auseinandersetzung mit diesem Erlebnis ja nicht erklärlich.


    Herausgekommen ist so etwas wie die lyrische Beschwörung einer „Unio mystica“ des Lebens in der Natur in fünfhebigen Jamben. Warum soll hier dieser formale Aspekt hervorgehoben werden? Das Gedicht ist von einer eigentümlichen Binnenspannung zwischen seinen mystisch angehauchten lyrischen Bildern und seiner Metrik geprägt, die formal so streng durchgehalten wird, dass sie sich sogar im vierten Vers der ersten Strophe und im ersten der zweiten an der Sprachmelodie stößt.


    Wie ist das zu deuten? Vielleicht, so denke ich, soll diese metrische Strenge der in die Transzendenz der Erfahrung von Natur abhebenden Metaphorik jenes Gewicht in der dichterischen Aussage verleihen, die ihr nach dem Willen ihres Schöpfers zukommen soll. Diese „Unio mystica“ , die Beseeltheit der Natur also, ist eine Erfahrung, die der Mensch, der naturhaftem Leben in offener Zuwendung ihm gegenüber begegnet, sehr wohl machen kann.


    Die Christblume ist auch hier wieder ein in die Transzendenz weisendes, weil ihr verbundenes pflanzliches Wesen. Der in den naturbedingten Zyklus seines Lebens eingebundene Schmetterling kann ihr nicht begegnen, den Honigseim ihrer Blüten nicht kosten. Aber in seinem zweiten Leben vermag er das.


    So ist auch dem Menschen derlei wirkliche Begegnung mit der Transzendenz möglich, - in seinem zweiten Leben nämlich.

  • Auf dem Hintergrund des ersten Liedes mit diesem lyrischen Thema mutet dieses wie ein Nachklang an. Das soll nicht abwertend gemeint sein. Es ergibt sich aus dem klanglichen Eindruck, den es macht. Und diesbezüglich ist festzustellen: Dieses Lied wirkt im Vergleich mit der Fülle an melodischen Motiven und harmonischen Modulationen, die „Auf eine Christblume I“ aufzuweisen hat, auffällig karg.


    In seiner klanglichen Grundstruktur ist es monothematisch. Die melodische Linie der Singstimme entfaltet sich über dem immer gleichen Motiv im Klaviersatz, das insgesamt zwanzig Mal aufklingt, - freilich dabei durch verschiedene Tonarten wandernd. Es besteht aus einem Sechzehntel-Einzelton und drei aufsteigenden Achtel-Akkorden, zwischen denen wiederum ebenfalls aufsteigende Einzeltöne aufklingen.


    Was mag Wolf zu dieser monothematischen Anlage des Klaviersatzes bewogen haben? Klanglich wirkt dieses Motiv infolge der ihm innewohnenden harmonischen Modulation auf eigentümliche Weise offen, wie ins Ungewisse mündend, unabgeschlossen. Es ist wohl nicht ganz und gar abwegig, wenn man vermutet, dass Wolf sich vom Geist des lyrischen Textes leiten ließ, der ja sein Zentrum in diesem „Wer aber weiß, ob nicht…“ des ersten Verses der zweiten Strophe hat. Meditative Spekulation artikuliert sich da. Und man kann diese eigentümlich offene und immer wiederkehrende Klangfigur durchaus als ihr musikalisches Äquivalent empfinden.


    Ein anderes strukturelles Merkmal ist noch auffällig an diesem Lied. Mörikes Verse sind, metrisch betrachtet, fünfhebige Jamben. Wolfs Melodiezeilen aber sind in ihrer rhythmischen Akzentuierung vierhebig. Man kann das gleich am Anfang hörend erleben: Durch Pausen feinsäuberlich getrennt, lauten die beiden ersten, in fallender Linie gestalteten Melodiezeilen: Im Winterboden schläft // ein Blumenkeim, der Schmetterling“. Wolf stülpt also eine ganz neue musikalisch-metrische Gliederung über diese Mörike-Verse. Und das Wunderliche ist: Man empfindet dies gar nicht als eine Vergewaltigung des lyrischen Textes. Ganz im Gegenteil: Diese musikalische Phrasierung wirkt als dem lyrischen Text vollkommen gemäß.


    Es ist überdies so, dass die melodische Linie der Singstimme – wie unberührt vom sprachlichen Metrum – ganz von der Aussage der lyrischen Bilder geprägt ist, - etwa wenn sie in ihrer fallenden Bewegung bei dem Wort „ein Blumenkeim“ deutlich höher ansetzt und eine kleine Sekunde nimmt. Das bringt einen zärtlichen Ton in sie. Zu vernehmen ist diese das lyrische Bild reflektierende Expressivität auch bei dem Bild von dem „samtnen Flügel“. Oder auch bei der kleinen Dehnung bei dem Wort „nie“, der ein Akkord mit harmonischer Rückung zugeordnet ist.


    Überaus eindrucksvoll steigt die melodische Linie zu Beginn der zweiten Strophe aus tiefer Lage empor. Auf dem Wort „weiß“ liegt eine melodische Dehnung, die eine kleine Pause in der Bewegung der Vokallinie bewirkt und der Frage Nachdruck verleiht. Auch die folgenden Wortgruppen des Verses sind durch kleine Pausen voneinander getrennt. Ein geheimnisvoller Ton kommt so in das Lied.


    Bei den beiden letzten Versen ist die melodische Linie von einem starken Ausgreifen in höhere Langen mit anschließendem Oktavfall geprägt. Dem Zauber des lyrischen Bildes wird auf diese Weise ein ihn gleichsam steigernder musikalischer Ausdruck verliehen.

  • Im Grunde ist es ja eine Kühnheit, ein Lied auf einer einzigen klanglichen Figur im Klaviersatz aufzubauen. Außer in Schuberts „Der Leiermann“ wüsste ich kein Lied sonst, bei dem dieses kompositorische Prinzip mit derartiger Konsequenz durchgehalten wurde. Und die Tatsache, dass sich die Musikwissenschaft in der Einschätzung der zukunftsweisenden Modernität von Schuberts Komposition weitgehend einig ist, verweist nun indirekt auf die Modernität des Liedkomponisten Wolf. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass er in dem bewussten Arbeiten mit der Vielfalt der harmonischen Modulation und dem vollen Ausschöpfen des klanglichen Potentials von Musik dem Impressionismus nahesteht.


    Es ist durchaus kein Zufall, dass gerade diese beiden Mörike-Gedichte Wolf zu einer Art musikalischem Impressionisten machten. Ihre Verse sind ja selbst ihrem dichterischen Wesen nach „impressionistisch“. Dies natürlich nicht im formal strengen Sinn der späteren literarischen Epoche, wohl aber in ihrem Ansatz: Der lyrischen Reflexion des sinnlichen Eindrucks im Innenraum der Seele. Und auch bei diesem zweiten Teil des Gedichts ist wieder jener lyrische Vorgang zu beobachten, der vermutlich Wolf dazu animiert hat, sich musikalisch auf es einzulassen: Das imaginative Transzendieren der Realität durch das lyrische Beschwören eines ganz und gar phantastischen Bildes. Man kann sich gut vorstellen, dass dies Wolfs musikalische Phantasie beflügelte.


    Und vielleicht liegt hier ja auch die Quelle für das das Lied klanglich prägende Klaviersatz-Motiv. Es hat mit seiner melodisch emporstrebenden und von harmonischen Rückungen begleiteten Bewegung durchaus etwas von dieser Tendenz hin zum Phantastischen an sich, die auch das zentrale lyrische Bild beherrscht.

  • Lieber Helmut,


    wunderbar, Deine Erläuterungen! Ein in seiner schlichten Schönheit berührendes Lied. Vielleicht steckt hinter der Monothematik die Idee des Schmetterlings, der unsichtbar die Blume umkreist, also immer präsent ist, dabei "trunken", verträumt, schwebend in verschiedenen harmonischen Höhen und Farben herumflattert um die Blume - verkörpert durch die Singstimme. Sehr bildhaft-impressionistisch!


    "Ersterbend" steht am Schluß - alles verflüchtigt sich in eine duftende Atmosphäre. Das ist so schön, daß man es sich ruhig dreimal hintereinander anhören kann! Um die Verwandlung des Metrums durch die Musik denke ich noch nach! :)


    Schöne Grüße
    Holger

  • Du meinst, lieber Holger: „Vielleicht steckt hinter der Monothematik die Idee des Schmetterlings, der unsichtbar die Blume umkreist,..“

    Das ist ein interessanter Gedanke zur motivischen Monothematík, die dieses Lied in seiner Faktur auszeichnet. Ich selbst habe ja auch zwei Erklärungsversuche gemacht, und das zeigt, dass ein solches Lied, wenn man ihm aufmerksam lauscht, eine Menge Fragen aufwirft, über die es sich lohnt nachzudenken.


    Gerade der Klaviersatz der Lieder bereitet mir oft Kopfzerbrechen, wenn ich darüber nachdenke, warum der Komponist ihn gerade so und nicht anders gestaltet hat. Bei der melodischen Linie der Singstimme lässt die Frage nach den Gründen für ihre spezifische Struktur oft leichter beantworten, da der unmittelbare Bezug zur Aussage des lyrischen Textes und zur Sprachmelodie häufig fassbar ist.


    Anders ist das beim Klaviersatz, denn in dessen Klangbild und Rhythmik fließt ja in der Regel das Grundverständnis des Komponisten vom jeweiligen lyrischen Text ein. Dieser Bezug ist aber, weil es da primär um Emotionalität geht, weitaus schwieriger zu fassen. Man ist – wie im Falle des Liedes „Auf eine Christblume II“ – auf Spekulationen angewiesen.
    Aber die machen ja auch Spaß!

  • Vielleicht sollte ich, bevor ich mich dem nächsten Lied zuwende, noch anmerken, dass „Auf eine Christblume II“ als letztes Lied des Mörike-Opus entstanden ist. Die Reihenfolge, die die Lieder in dem Druck, der im Frühjahr 1889 bei Wetzler erschien, aufweisen, stimmt ja keineswegs mit dem Datum ihrer Entstehung überein und ist von Wolf so angeordnet, weil er thematische Gruppen bilden wollte.


    Im Spätherbst des „Mörike-Jahres“ 1888 hielt sich Wolf schon wieder in Wien auf. In der Zeit vom 27. Oktober bis zum 15. November arbeitete er bereits an der Komposition von Goethe-Gedichten. Danach kehrte er noch einmal kurz nach Perchtoldsdorf – dem Ort seiner Mörike-Inspiration – zurück. Und dort entstand dann das zweite Lied zu „Auf eine Christblume“.

  • Dein Liebesfeuer,
    Ach Herr! Wie teuer
    Wollt ich es hegen,
    Wollt ich es pflegen!
    Habs nicht geheget
    Und nicht gepfleget,
    Bin tot im Herzen –
    O Höllenschmerzen!


    Der lyrische Text stellt eine dichterisch freie Übersetzung der Passionshymne „Crux fidelis“ von Venantius Fortunatus dar:


    Jesu benigne!
    A cuius igne
    Opto flagrare
    Et Te amare:
    Cur non flagravi?
    Cur non amavi
    Te, Jesu Christe?
    - O frigus triste!


    Bemerkenswert und überaus aufschlussreich an dieser “Übersetzung” ist das – ganz und gar unmittelalterliche – Eindringen der Subjektivität in sie: In Gestalt des Bekenntnisses eines personalen Versagens und damit einer „Sündhaftigkeit“ des eigenen Verhaltens. Aus dem „Cur?“, dem nachdenklich-sachlichen Fragen des Originaltextes, wird bei Mörike das „Habs nicht“. An die Stelle der Frage tritt das vom Bewusstsein des Versagens beladene Bekenntnis.


    Und noch deutlicher wird diese Wendung des mittelalterlich objektivierten Sündenbekenntnisses in ein höchst neuzeitlich modernes, weil subjektiviertes Versagens-Geständnis bei Mörikes Schlussversen.


    Der letzte Vers von Venantius Fortunatus lautet, wörtlich übersetzt: „O traurige (seelische) Kälte.“ Bei Mörike werden aus diesem einen Vers zwei. Und sie enthalten nicht den Klageruf, der bei Venantius auf der objektiven, von der Kirche vorgegebene Ebene des Sündenbekenntnisses erfolgt, sondern ein ganz und gar subjektives Bekenntnis der eigenen seelischen Befindlichkeit und der Leiden, die das lyrische Ich durchzustehen hat.


    Das lyrische Geständnis „Bin tot im Herzen“ ist keine Übersetzung der Worte „o frigus triste“ des Venantius Fortunatus. Es ist der ganz und gar personale und radikal subjektive Aufschrei einer modernen Seele, der durch die Begegnung mit dem vom Bewusstsein der allgemeinen Sündhaftigkeit des Menschen geprägten und getragenen Klageruf aus dem Mittelalter ausgelöst wird.

  • Das achttaktige Vorspiel dieses Liedes, das einen Viervierteltakt aufweist und mit der Vortragsanweisung „Langsam und schmerzlich“ versehen ist, besteht aus einer Abfolge von Akkorden, bei denen jeder Schritt in eine lang gehaltene Dissonanz mündet. Die harmonische Rückung, die dabei erfolgt, wirkt klanglich regelrecht schmerzlich, zumal das Tongeschlecht Moll an keiner Stelle verlassen wird und zudem ein schroffer Wechsel von Forte und Piano stattfindet.


    Vom vierten Takt an kommt so etwas wie eine zielgerichtete Bewegung in die Akkordfolge. Oktaven steigen langsam aus der Tiefe nach oben, aus dem Pianissimo kommend und mit einem leichten Crescendo versehen. Der Aufeinanderprall der Dissonanzen wirkt jetzt ein wenig reduziert und gemildert, die Moll-Harmonik ist freilich nicht verlassen. Und wie während des ganzen Vorspiels bleibt die Tonart auf eigentümliche Weise in der Schwebe.


    Die melodische Linie der Singstimme ist durchgehend von abwärts gerichteten Bewegungen geprägt, in die sich immer wieder ein sich über ein größeres Intervall erstreckender Fall einlagert. Und ebenso durchgängig münden die jeweiligen Melodiezeilen in Moll-Harmonik. Da sich zudem die Bewegung der melodischen Linie sehr langsam vollzieht, stellt sich ein immer mehr sich intensivierender Eindruck von schmerzlicher Klage ein.


    Schon der erste Vers steigt in syllabisch exakter Deklamation von einem „h“ auf ein „fis“ herab. Bei der Versgruppe zwei bis vier kommt dann aber eine gewisse Emphase in die melodische Linie. Bei den jeweils lyrisch gewichtigen Worten bewegt sie sich hinauf in höhere Lagen, also bei den Worten „teuer“, „hegen,“ wollt“ und „pflegen“. Vor allem das Wort „wollt“ wird mit einem mit einer Dehnung versehenen hohen „dis“ musikalisch besonders akzentuiert. Der Wille soll betont werden, damit das Scheitern der guten Absichten dann als um so schmerzlicher musikalisch zum Ausdruck gebracht werden kann. Zwei Mal ereignet sich in diesen kleinen Melodiezeilen ein verminderter Quintfall (Bei „hegen“ und „pflegen“), - klassisches kompositorisches Mittel, um Schmerz musikalisch zu artikulieren.


    Ein leicht dramatischer Akzent kommt in die melodische Linie bei den Versen fünf und sechs. Sie bewegt sich zweimal in den gleichen Schritten nach oben, in Moll harmonisiert, aber im zweiten Fall um eine Terz nach oben gerückt. Und zweimal steht am Ende ein verminderter Quintfall. Diese Wiederholung empfindet man als Steigerung der musikalischen Expressivität.


    Vom Piano ins Forte bricht die Vokallinie bei den Worten „Bin tot im Herzen“ aus. Sie setzt dabei mit einem verminderten Sextsprung ein, der das Wort „tot“ klanglich stark exponiert, zumal es auch noch eine Dehnung in Gestalt einer halben Note trägt. Auch bei „Höllenschmerzen“ macht die Vokallinie einen Sprung mit nachfolgender Dehnung. Er ist aber deutlich kleiner, umfasst nur eine Terz.


    Es ist, als sei der melodischen Linie bei all ihrer Schmerzensqual ein wenig die Kraft ausgegangen, - als resignierte sie. Es bleibt nur noch der Atem für einen verminderten Quartfall bei der Partikel „-schmerzen“. Er ist mit einer Rückung in Dur-Harmonik und mit einem deutlichen Decrescendo ins Piano verbunden. Man meint wirklich einen Rückzug in die Resignation zu vernehmen.


    Ein langes, sieben Takte umfassendes Nachspiel folgt, in dem die Motivik des Vorspiels aufgegriffen wird. Dem Klaviersatz kommt in diesem Lied eine große Bedeutung zu: Fast die Hälfte wird allein von ihm bestritten.

  • Das Gedicht „Seufzer“ ist in den Roman „Maler Nolten“ aufgenommen. Dort singt Noltens Braut Agnes den lateinischen Text zusammen mit dem blinden Knaben Henni zur Orgel. In Form einer Fußnote merkt Mörike an: „Diese Zeilen finden sich wirklich in einem uralten, wohl längst vergriffenen Andachtsbuch. Sie sind unnachahmlich schön; indessen fügen wir, um einiger Leser willen, diese Übersetzung bei.“


    Es folgt die deutsche Fassung. Und diese lässt in dem subjektiv-personalen Akzent, der in den lateinischen Text hineingelegt wird, eine tiefe seelische Erschütterung ihres Autors erkennen. Hier sind deutlich Einflüsse des schwäbischen Pietismus zu erkennen, insbesondere was die moralische Dimension der menschlichen Sündhaftigkeit anbelangt.


    Dass Hugo Wolf es vermochte – fern wie er persönlich dieser ganzen religiösen Welt eines Mörike stand – diesen lyrischen Text und seine zentralen Aussagen in vollkommen adäquater Weise in Musik zu setzten, zeigt wieder einmal, über welch immenses Einfühlungsvermögen in Lyrik er verfügte. Offensichtlich wusste er auch um den Kontext dieses Gedichtes, wie er im „Maler Nolten“ gegeben ist: Der Klaviersatz hat durchaus die musikalische Qualität von Orgelklängen.


    Die Art, wie Wolf bei diesem Lied in der Harmonik mit den kompositorischen Elementen „Dissonanz“ und „Modulation“ umgeht, weist wieder einmal auf seine liedkompositorische Modernität hin. Da die harmonischen Rückungen nicht im Rahmen der tonalen Regeln erfolgen, kann man hier durchaus feststellen, dass es nur noch ein kleiner Schritt hin zur Atonalität ist. Auf jeden Fall erreicht Wolf damit klanglich das, was der Aussage des lyrischen Textes vollkommen gemäß ist: Dem Seelenschmerz korrespondiert eine schmerzhafte Klanglichkeit. Und betrachtet man die Faktur dieses Liedes, so erkennt man, dass Wolf darin offensichtlich sein musikalisches Haupt-Ausdrucksmittel sieht: Von den 31 Takte des Liedes nimmt das Klavier solo fünfzehn ein.


    Das heißt nun wiederum nicht, dass die melodische Linie der Singstimme eine untergeordnete Rolle spielte. Zwar vollzieht sich ihre Bewegung sehr langsam, und darin ist sie dem Klaviersatz voll angepasst und fügt sich in den dem Lied zugrundeliegenden getragenen Orgelklang ein. Gleichwohl wirkt sie in hohem Maße expressiv. Diese Expressivität gründet in der Struktur ihrer Bewegung: Immer wieder kommt es nach einer Fallbewegung zu einer Art Aufbäumen der Vokallinie, in dem sie in Gestalt einer Dehnung in höherer Lage verharrt. Das ereignet sich gleich acht Mal, und zwar bei den Worten, in denen sich die Betroffenheit des lyrischen Ichs von seinen Versagens-Skrupeln verdichtet. In besonders markanter Weise ist das bei dem doppelten „wollt´ich“ und bei den Worten „nicht gepfleget“ zu vernehmen.

  • Banner Trailer 2 Gelbe Rose