Das Lied wurde am 20. April 1888 komponiert. Es nimmt in vielerlei Hinsicht eine Ausnahmestellung in Wolfs Mörike-Opus ein. Dies nicht nur unter formalen Gesichtspunkten, der Tatsache nämlich, dass Wolf ausnahmsweise einmal ein Strophenlied komponiert hat. „Um Mitternacht“ ist wohl auch in einem Maße „stimmungshaltig“, wie das bei kaum einem anderen Mörike-Lied der Fall ist.
Für den Griff zur Form des Strophenliedes bietet das Gedicht Mörikes wohl hinreichende formale und inhaltliche Gründe. Beide Strophen sind metrisch gleich gebaut, und – was noch wichtiger ist – : Das in der ersten Strophe entfaltete lyrische Bild beherrscht auch die zweite, und die „Quellen“ singen ihr gleiches Lied. Wolf muss wohl gespürt haben, dass er dieses lyrische Bild musikalisch so voll und ganz erfasst und ausgeleuchtet hat, dass eine Modifikation unangebracht war.
Worin gründet dieses so starke evokativ-emotionale Potential dieses Liedes? Da ist zunächst einmal der Klaviersatz zu nennen. Er entfaltet mit den in klanglich dunkel wirkendem cis-Moll wie strömend repetierenden Achteln unter Einschluss von Terzen und Oktaven eine klangliche Aura, die nächtliche Atmosphäre evoziert. Und da diese Grundstruktur des Klaviersatzes auch dann erhalten bleibt, wenn er, der Singstimme folgend, Modulationen durchläuft, prägt er den klanglichen Charakter dieses Liedes sehr stark.
Und dann ist da noch die Bewegung der Singstimme. Ruhe geht von ihr aus. Punktierte Viertelnoten dominieren, und das auf der Grundlage eines Zwölfachtel-Taktes. Wenn einmal Achtel auftauchen, dann wirkend sie wie eine melodische Legato-Brücke hin zum nächsten Viertel. Zu vernehmen etwa bei dem Verspaar „Ihr Auge sieht die goldne Waage nun // Der Zeit in gleichen Schalen ruhn“. Die Vokallinie verbleibt hier lange auf einer tonalen Ebene, und die lyrischen Hauptworte tragen allesamt eine melodische Dehnung.
Überaus beeindruckend dabei, wie die Ruhe am Ende musikalisch zum Ausdruck gebracht wird: Bei den Worten „stille ruhn“ macht die melodische Linie der Singstimme nur einen kleinen Sekundschritt nach oben, kehrt dann wieder zu ihrem „gis“ zurück und klingt in Form einer langen, sich fast über einen ganzen Takt erstreckenden Dehnung aus, wobei sich das „gis“ harmonisch in ein „as“ wandelt. Das ist tatsächlich eine überaus expressive klangliche Evokation von Ruhe.
Man meint bei diesem Lied zu hören, mit welcher Behutsamkeit und Achtung vor dem großen lyrischen Text sich Wolf diesem Gedicht kompositorisch näherte. Wenn man bedenkt, wie stark seine Neigung war, die jeweilige lyrische Vorlage mit allen Mitteln der musikalischen Expression auszuleuchten und zu interpretieren, dann spürt man die Zurückhaltung, die er hier übt, ganz besonders deutlich.