Distler, Hugo - Das Mörike-Chorliederbuch

  • "Verborgenheit" in der Version von Distler habe ich mir gerade zu Gemüte geführt! Das nimmt gefangen durch seinen leisen, "würdevollen" Ton, der die Zurückhaltung und Schüchternheit auf seine Weise sehr gut zum Ausdruck bringt. Im Vergleich mit Wolf würde ich den Charakter von Distlers Vertonung "archaisierend" nennen - sowohl vom Ausdruck als auch der Form her. Distler wählt ein Strophenlied, Wolf sehr avanciert eine Mischung aus Strophenlied und durchkomponiertem Lied. Bei Wolf ergibt sich eine ABA-Form, was wirklich sehr treffend zur Textsemantik paßt. Gerade an diesem Beispiel wird für mich deutlich, daß es generell bei einem Chorlied problematisch ist - vielleicht mehr noch als bei einem Kunstlied in der romantischen Tradition - von einer "Vertonung" des Textes zu sprechen. Das ist bei Distler ein höchst kunstvoller Chorsatz, er spiegelt aber in keiner Weise paßgenau die Form des Gedichts wider, wie es die Norm musikalischer Rhetorik verlangt. In diesem Sinne hatte ja noch Goethe nur das Strophenlied akzeptiert und das durchkomponierte Lied abgelehnt. Durch Distler verstärkt sich bei mir der Eindruck, daß die Emanzipation der Musik vom Text beim Chorlied gerade in formaler Hinsicht - bedingt durch die Stimmenpolyphonie - sogar noch weiter geht als bei der romantischen Liedvertonung. :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Durch Distler verstärkt sich bei mir der Eindruck, daß die Emanzipation der Musik vom Text beim Chorlied gerade in formaler Hinsicht - bedingt durch die Stimmenpolyphonie - sogar noch weiter geht als bei der romantischen Liedvertonung.


    Ja, was die Form betrifft.


    Ich meine, dass die inhaltliche Textdurchdringung der Distlerschen Musik zu seiner Zeit im textgebundenen Musikbereich einmalig war.


    Den Musikausdruck (um Vertonung zu vermeiden) der Verborgenheit nennst Du "archaisiernd" - ja - ich würde ihn grundsätzlich, grundlegend nennen, was doch sehr ähnlich ist, oder? (Auf jeden Fall die Subjektivität vermeidend, obwohl im Text "mich..." steht. Gegen eine grundsätzlich richtige Aussage, auch musikalisch, habe ich nichts einzuwenden, ist auch mir angenehmer, als zuviel auf eine Person bezogen.)


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Auf jeden Fall die Subjektivität vermeidend, obwohl im Text "mich..." steht.

    Lieber Zweiterbaß,


    sehr treffend, so würde ich das auch sehen! Insofern ist Distlers Vertonung sehr "modern", gehört ins 20. Jahrhundert, wo es diese Tendenzen zur Objektivierung und Entsubjektivierung gibt. Insofern ist dies ein spannendes Beispiel, was passiert, wenn eine Vertonung aus einem anderen geistigen Kontext heraus geschieht, als die ursprüngliche Gedichtvorlage. Die Romantik ist ja geradezu die Hochzeit der Subjektivität. Ich sehe auch keinen Grund, dies mit irgend einer Norm zu "verbieten". Ein Lied ist ein eigenständiges Kunstprodukt, die Musik darf die Textvorlage reflektieren, deuten, in einen anderen Kontext stellen, braucht ihren Inhalt nicht sklavisch zu verdoppeln. Es entsteht dann eine kreative Spannung zwischen Vorlage und musikalischer Umsetzung. Es ist dies schließlich ein Versuch, sich einen Sinngehalt anzueignen und dabei die Zeitdistanz zu überbrücken.


    P. S. Archaisierung als Entsubjektivierung - da denkt man natürlich an Picasso, die Faszination für das Primitive in den Plastiken oder in der Musik etwa an Strawinsky.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Hallo,


    "Das verlassene Mägdlein", a-Moll, 6/4, ruhige punkt. Halbe - für 4-stimmigenFrauenchor (S1, S2, A1, A2)


    CD wie bei "Der Gärtner"
    http://www.youtube.com/watch?v=hH2F-s3-DNg


    Ich beziehe mich auf die Beiträge ab Nr.36 im Thread "Wolf und Eduard Mörike".


    Mein Verständnis zum Gedicht von Mörike:
    Zum/dem Beitrag Nr. 36 ergänze/widerspreche ich z. T.:
    Der Inhalt des Gedichtes hat, was die "Tages"zeit betrifft, große Ähnlichkeit mit "Ein Stündlein wohl vor Tag"; von einem "schöpferischen Geist" und "Entfaltung des Lebens" kann keine Rede sein. Es "herrscht" die nämliche Unsicherheit der Gefühle wie dort. Das Mägdlein "muss am Herde steh'n… muss Feuer zünden…im Leid versunken". Noch weniger kann die Rede davon sein, dass es ein schöner Traum war - NEIN - denn erst wenn dem Mägdlein der "Traum vom treulosen Knaben kommt" wird im klar, warum/wodurch sein Gefühl "im Leid versunken" entstanden ist; das anfangs unbewusste/unerklärliche Gefühl des Leides ist nun zuordenbar. Damit ist das Gedicht von der Grundstimmung der "Verborgenheit" nahe - in beiden Fällen ist ein Mensch mit seinen bedrückenden Gefühlen allein, hier als allein gelassenes Mägdlein, in der "Verborgenheit" als bereits getroffene Entscheidung (als späte Folge des sich früher allein gelassen Fühlens?).



    Mein Verständnis zur Vertonung von Distler:
    Holger hat zum Charakter des Chorsatzes "Verborgenheit" von einem "archaisierenden" Musikausdruck gesprochen. Damit kann ich auch diesen Chorsatz charakterisieren in dem Sinn, dass Distler (allgemein gültig) das Verlassensein und das daraus entstehende Leid zum musikalischen Inhalt seines Chorsatzes macht, was er musikalisch dadurch vermittelt:
    Es handelt sich um einen 4-stimmigen Satz, aber in allen 4 Strophen
    beginnt die 1. Verszeile mit einer Quinte und endet die 1. Verszeile auf einer Quinte
    beginnt die 2. Verszeile mit einer Quinte und endet die 2. Verszeile auf einer Quarte
    beginnt die 3. Verszeile mit einer Quarte und endet die 3. Verszeile auf einer Quarte
    ................................................................endet die 4. Verszeile auf einer Oktave
    (Quint und Quart bezeichnet man heute als leere Akkorde, Oktave sowieso. In der Vorbarockmusik galten Quint und Quart als konsonante Akkorde, die Terz als dissonant.)
    Dabei haben bei der Quinte die Eckstimmen in Oktavlage das "c", die Mittelstimmen einstimmig das "g", während bei der Quarte die Mittelstimmen einstimmig das "c" und die Eckstimmen in Oktavlage das "f" haben. Dadurch entsteht ein heute ungewohnter (altertümlicher, archaischer) Klang, was eine gewisse Eintönigkeit zu Folge hat, die Distler noch dadurch erhöht, dass er das Gedicht als Strophenlied vertont, weshalb die Monotonie, das Einerlei der Einsamkeit, des sich verlassen Fühlens, des Leides noch unterstrichen wird.
    "Muss ich am Herde stehen, muss Feuer zünden" wird so wiederholt, dass Sopran 1 über 3 ½ Takte durchgehend in hoher Lage das "c" hat, während der Sopran 2, als Stimmführung, die ursprüngliche Melodie des Alt 2 übernimmt und dadurch über dem hohen Sopran ein in tiefer Lage dunkler Chorklang entsteht.


    Die unterschiedliche Interpretation des Gedichts, daraus folgend die musikalische Umsetzung, wird bei Wolf besonders dort deutlich, als er bei "Schön ist der Flammenschein…" dem Mägdlein tatsächlich ein gutes Gefühl unterstellt, dabei aber übersieht, dass es im Gedicht heißt "…ich schaue so darein, in Leid versunken" (zwischen den Zeilen "das berührt mich Alles nicht").


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Lieber zweiterbass,


    eine sehr schöne Analyse hast Du gegeben. Das Lied gibt es - für Mitleser - auf Youtube zu hören:


    http://www.youtube.com/watch?v…S0-&feature=results_video


    Früh, wann die Hähne krähn,
    Eh die Sternelein verschwinden,
    Muß ich am Herde stehn,
    Muß Feuer zünden.


    Schön ist der Flammen Schein,
    Es springen die Funken;
    Ich schaue so drein,
    In Leid versunken.


    Plötzlich, da kommt es mir,
    Treuloser Knabe,
    Daß ich die Nacht von dir
    Geträumet habe.


    Träne auf Träne dann
    Stürzet hernieder;
    So kommt der Tag heran –
    O ging er wieder!


    Ich finde alle drei Vertonungen (Distler, Schumann und Wolf) auf ihre Weise höchst beeindruckend. Und ich konstatiere eine gewisse Verwandtschaft von Distler mit Schumann. Bei Distler gibt es so eine Art "ewige Wiederkehr des Gleichen", einen Ausdruck von Vergeblichkeit: Eigentlich bedeutet der Anbruch des Tages so etwas wie ein "Neues", ein neues Licht, eine Hoffnung. Aber dem Leiden, das sich wiederholt, entkommt man nicht: Ein Tag ist wie der andere! Helmut interpretiert sehr schön die Schumann-Vertonung (Beitrag 43 im Wolf-Mörike Thread), die fallende Linie des Klaviers: der immer wieder vergebliche Versuch, sich angesichts des Leides, das einen herunterzieht, sich aufzurichten. In dieser Gleichförmigkeit gibt es für mein Gefühl eine Parallele von Distler und Schumann.


    Schumann:


    http://www.youtube.com/watch?v=ZmG-Wfebrw8


    Bei Wolf haben wir auch die Betonung einer abfallenden Linie - die Stimmführung bewegt sich langsam nach unten. Die Harmonik ist sehr modern und zugleich ebenso archaisch - "naturtönig". Die fahle Stimmung des kühlen Morgens ist wirklich genial eingefangen, finde ich. Aber Wolf betont in der Einheit zugleich den Stimmungswechsel. Bei dem Flammenschein wird es auch wirklich harmonisch warm, um sich dann wieder abzukühlen. Dann kommt der emphatische Ausdruck von Schmerz - ein expressionistischer Ausbruch, bevor alles am Schluß in eine resignative Stimmung versinkt - ein verhaltener Ton wie zu Beginn. Wolfs Vertonung beschreibt die Seelenqualen, hat in diesem Sinne "dramatische" Züge, da gibt es eine Dramaturgie Ruhe-Bewegung-Ruhe, während die anderen beiden Vertonungen die durchgehend einheitliche, resignative Stimmung betonen.


    Hier Wolf:


    http://www.youtube.com/watch?v=A0kpvFx_4tI


    P.S. Distlers Archaik gibt sehr treffend das "Muß, Muß" wieder, dieses schicksalhafte Verhängnis, was die Individualität und Subjektivität aufhebt. Wolf dagegen schildert gerade subjektive Befindlichkeiten, wirklich aufregend das fast schon traumhafte Versunkensein in der 2. Strophe mit kühner Harmonik.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Das Lied gibt es - für Mitleser - auf Youtube zu hören:


    http://www.youtube.com/watch?v=SewbGEzFz…e=results_video

    Was ich absichtlich nicht eingestellt habe, Interpretation und Klang - "Schwamm drüber". Aber Du hast nat. recht, besser eine schlechte wie gar keine Aufnahme (oder doch nicht?).


    Und in diesem Fall wirken die "optischen Grazien" auch noch kontraproduktiv - zumindest für mich. (Ich kann mir bei den "Dämchen" so richtig ein verlassenes Mägdlein vorstellen.)


    "Optische Ansprüche auch noch stellen" - "soll froh sein, dass sie singen" - "ja, das tun sie, aber wie!"


    Jetzt werde ich mit Orgelmusik von Langlais - per Kopfhörer - den Tag beenden und in die Nacht hinüber segeln.


    Auch eine angenehme Nachtruhe wüncht Dir


    zweiterbass


    Nachsatz: Die von Dir, lieber Holger, eingestellte Schumann-youtube-Aufnahme ist in Allem derart unmöglich, dass mir dadurch ein Vergleich unmöglich wird.

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

    Einmal editiert, zuletzt von zweiterbass ()

  • Hallo,


    "Um Mitternacht", C-Dur, 2/2, gelassene Halbe/punkt. Halbe - für 3-stimmig gem. Chor
    (S, A, T/B)


    CD wie bei "Der Gärtner"
    http://www.youtube.com/watch?v=RpimC_8ScWI
    http://www.youtube.com/watch?v=wtAeyq1UD7U


    Ich beziehe mich auf die Beiträge ab Nr. 175 im Thread "Hugo Wolf und Eduard Mörike".


    Was Helmut hier zum Gedicht geschrieben hat, übernehme ich "mit Punkt und Komma".



    Mein Verständnis zur Vertonung von Distler:
    Ich sehe mich außerstande, diesen Chorsatz im Detail (wie bisher) zu beschreiben, zu vielseitig sind die kompositorischen Mittel, die Distler hier angewendet hat. Zwei Beispiele: "Gelassen stieg* die Nacht ans Land", setzt der Alt text- und melodiegleich 2 Viertel nach dem Sopran ein, ebenso T/B 2 Viertel nach dem Alt; da jedoch der Alt in der Melodie 2 Halbe im Sopran durch 2 Viertel ersetzt und der Bass gegenüber dem Alt das ebenso macht, kann der ganze Chor nun einstimmig oktaviert "lehnt träumend an der Berge Wand" singen. (*Der Chor auf der CD singt steigt - für mich besser, weil's auch Heute noch so ist.)
    "…vom heute gewesenen…" singt der Chor text- und rhythmusgleich einheitliche Viertel (der Tagesablauf in gleichmäßigen Stunden.)


    Ich habe nun oben zwei youtube-Links eingestellt, wohl wissend, dass die Distler-Einspielung mehr als schlecht und mit der Aufnahme auf der CD überhaupt nicht vergleichbar ist - es singt eben ein Jugend-Laienchor! Aber der Leser dieses Beitrages kann sich doch einen entfernten Höreindruck verschaffen, wie der Satz aufgebaut ist und wie das, von einem zumindest halbprofessionellen Chor gesungen, klingen kann.



    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

    Einmal editiert, zuletzt von zweiterbass ()

  • bislang sind in diesem Thread 8 Lieder analysiert worden, die auf der von mir im Thread "Distler, Hugo Das Mörike-Chorliederbuch" genannten CD eingespielt sind und zu denen ich auch dort gepostet habe.


    Auf "meiner" CD sind 27 Chorsätze enthalten, sodass ich immer dann einen neuen Beitrag im Thread "Distler, Hugo…"schreiben werde, wenn ein Chorsatz als Lied in diesem Thread analysiert wird.


    Hallo,


    das habe ich im Thread "Hugo Wolf und Eduard Mörike" gepostet, dies zur Info für die Leser hier.


    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Zit.: "Auf meiner CD sind 27 Chorsätze enthalten..."


    Nur als rein informativer Beitrag:
    Distler hat, wenn ich richtig gezählt habe, insgesamt 49 Gedichte von Mörike vertont (einige davon in mehreren Fassungen). Zwanzig davon liegen auch in Vertonungen durch Hugo Wolf vor. (Was von zweiterbass aber nicht als Aufforderung verstanden werden möge, sich auf alle diese hier einzulassen)

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  • Bitte den Nachsatz im Beitrag Nr. 329 "Hugo Wolf und Eduard Mörike" beachten.

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Pardon, ich wollte nicht stören!
    Mir schien es nur angebracht, einmal darauf hinzuweisen, dass Hugo Distler mehr als die siebenundzwanzig Chorlieder auf Texte von Eduard Mörike komponiert hat, die sich auf zweiterbassens CD finden. Diesen Sachverhalt konnte ich nämlich in diesem Thread nirgends erwähnt finden. Und er scheint mir doch, was diesen Komponisten und sein Werk anbelangt, von Bedeutung zu sein.


    Es gibt übrigens noch andere Komponisten von Chormusik, die sich auf Mörikes Gedichte musikalisch eingelassen haben. Gerade hörte ich mir die Komposition von Robert Franz auf das Gedicht "Er ist´s" (op. 53) an und verglich sie mit der Version von Hugo Distler. Bei der Frage, wer da den Geist des lyrischen Textes besser eingefangen hat, bin ich sehr unschlüssig. Ich neige im Augenblick eher zu Robert Franz, weil mich die klanglich kühle, gleichsam monologische, nicht zu harmonischem Zusammenklang kommende Stimmführung bei Distler ein wenig stört. Der Geist dieses lyrisch doch so zentralen Doppelverses "Frühling, ja du bists", in dem sich ja Jubel ausdrückt, scheint mir bei Distler nicht so recht eingefangen zu sein.


    Aber diese Frage muss ich mit mir selber ausmachen und klären. Ich wollte mit diesem Beitrag ja auch nur zum Ausdruck bringen, dass ich diesen Thread aufmerksam und mit großem Interesse verfolge, eifrig mithöre und jede Menge über Chormusik lerne.

  • Es gibt übrigens noch andere Komponisten von Chormusik, die sich auf Mörikes Gedichte musikalisch eingelassen haben. Gerade hörte ich mir die Komposition von Robert Franz auf das Gedicht "Er ist´s" (op. 53) an und verglich sie mit der Version von Hugo Distler.


    Lieber Helmut,


    stören sollst Du gerade - die Vergleiche sind doch das Salz in der Suppe! :hello: Leider kann ich die Vertonung von Robert Franz nicht bei youtube finden - auf CD habe ich das leider nicht!


    Schöne Grüße
    Holger

  • Der Geist dieses lyrisch doch so zentralen Doppelverses "Frühling, ja du bists", in dem sich ja Jubel ausdrückt, scheint mir bei Distler nicht so recht eingefangen zu sein.


    Lieber Helmut,


    von"stören" kann überhaupt keine Rede sein.


    Ich glaube zu ahnen, was die Differenz des Jubels ist. Dazu wäre zu fragen, was Anlaß der Freude, des Jubels ist? Es kann die in Jubel ausbrechende Freude des Menschen sein, der Winter ist endlich vorbei, der Mensch kann wieder raus, der Frost, die meist doch unangenehm empfundene Winterkälte ist vorbei usw. usw.


    Es gibt aber auch die Freude und den mehr verinnerlichten Jubel über das Wunder der erwachenden Natur; so ähnlich habe ich auch geschrieben (aus meinem Gedächtnis ohne nachzulesen). Das ist ein anderer Jubel.
    "Frühling, ja du bist's" wiederholt Distler mehrmals, aber das kompositorische Schwergewicht liegt doch einwandfrei bei dem auch mehrmals wiederholten "dich hab' ich v e r n o m m e n und dann endet der Satz in reinem, lang ausgehaltenen C-Dur!
    Der Jubel liegt also auf dem wirklichen Vernehmens des Wunders Frühling - und das ist, meine ich, ein eher andächtiges, staunendes, bewunderndes Gefühl, was den lauten Jubel nicht hat. Das meine ich - NEIN - das höre ich aus Distlers Vertonung.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Der Jubel liegt also auf dem wirklichen Vernehmens des Wunders Frühling - und das ist, meine ich, ein eher andächtiges, staunendes, bewunderndes Gefühl, was den lauten Jubel nicht hat.

    Lieber Horst,


    in der Richtung empfinde ich das auch. Bei Distler ist das ein sakraler Ton, der Jubel hat etwas von einem Lobgesang des Herrn. Bei Wolf ist das eine sehr "weltliche" Freude, viel menschennäher - in diesem Punkt glaube ich allerdings, steht Wolf Mörike näher. Denn dieses Gedicht hat bei Mörike keinen erkennbaren religiösen Bezug finde ich. Bei Distler wird die Textvorlage sakralisiert - wahrscheinlich, weil er alle Mörike-Gedichte so vertont, vermute ich mal. Oder stimmt das nicht?


    Schöne Grüße
    Holger

  • Lieber Holger,


    im Grundsatz - Ja! - aber er kann auch anders, das wird bei den Chorsätzen deutlich, über die ich am Schluß berichten werde, wenn sie Wolf nicht vertont hat.


    Zu zweien Deiner Adjektive:
    religiösen Bezug hat weder Mörike, noch Distler - aber gläubigen Bezug wohl Beide (den aber Wolf nicht hat), weswegen Mörike näher bei Distler ist (nein, ich habe das nicht irrtümlich verdreht!).
    menschennäher - da wäre die Frage zu klären, was den Menschen ausmacht, was im näher steht? (Was nicht Gegenstand des Forums ist.)


    Ein angenehmes Wochenende wünscht
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Du sagst, lieber zweiterbass:
    "Der Jubel liegt also auf dem wirklichen Vernehmens des Wunders Frühling - und das ist, meine ich, ein eher andächtiges, staunendes, bewunderndes Gefühl, was den lauten Jubel nicht hat. "


    Ich habe mir diesen Chorsatz darauf hin noch einmal sehr gründlich angehört. Und nun meine ich: Du siehst das wohl richtig.


    Was ich - und das erfahre ich oft bei Distler - heraushöre, das ist ein deskriptiver, um nicht zu sagen konstatierender Grundton in seiner Chormusik. Man hann ihn bei "Er ist´s" immer wieder vernehmen, etwa bei dem Vers "Veilchen träumen schon". Das wird zweimal auf einfach fallender melodischer Linie festgestellt. Oder wenn dann die Stimmen im Einander-Überschneiden lange bei dem Bild vom leisen Harfenton verweilen, wobei der Vers von den träumenden Veilchen fortklingt.


    Und schließlich dieses "Frühlling ja du bists". Da erwartet man eigentlich, da bei Mörike ja nun wirklich eine Ton des Jubels lyrisch zu vernehmen ist, eine aufsteigende melodische Linie. Statt dessen macht sie bei Distler einen Quintfall und wiederholt den sogar mehrfach. Das wirkt klanglich unerwartet nüchtern.


    Eben deskriptiv konstatierend!

  • Eben deskriptiv konstatierend!


    Das finde ich sehr schön kurz und treffend beschrieben, lieber Helmut. Distler ist hier finde ich ein Komponist des 20. Jhd., der ganz bewußt das "Subjektive" meidet zugunsten einer "objektiven" Aussage. Die Zeit der Romantik ist für ihn - anders als für Wolf - doch schon sehr fern. "Er ist´s" - so etwas kann ein Romantiker des 19. Jhd. nur mit Enthusiasmus, mit Begeisterung erleben. Genau das fällt bei einem Rezipienten aus dem 20. Jhd. wie Distler weg. Es wird zur puren Konstatierung, zur "Botschaft" die man vernimmt, ohne diese noch außerdem zu affirmieren.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Eben deskriptiv konstatierend!


    Ich höre das sehr lang ausgehaltenen reine C-Dur am Satzende - nach vernommen - als „reinen Jubel“ und nicht als Feststelung eines Ereignisses, sondern den Jubel über diesen bereits beschriebenen Frühling.

    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Hallo,


    "Frage und Antwort - 1. Fassung", a-Moll, 3/4, sehr erregte Viertel - für 4-stimmig gemischten Chor (SATB)


    CD wie bei "Der Gärtner"
    http://www.youtube.com/watch?v…363C&feature=results_main


    Ich beziehe mich auf die Beiträge ab Nr. 314 im Thread "Wolf und Eduard Mörike".


    Mein Verständnis zum Gedicht von Mörike:
    An sich ist dem Beitrag von Helmut nichts hinzufügen - höchstens die Frage, warum Mörike das Gedicht "Frage und Antwort" überschreibt, wenn in dem Gedicht, wie von Helmut ausgeführt, keine Antwort auf die Frage gegeben wird. Warum das vermeintlich so ist und wie Distler aber doch meint, dass Antworten in dem Gedicht gegeben werden, kann aus seiner Vertonung gehört werden.



    Mein Verständnis zur Vertonung von Distler:
    Schon aus den Vortragsvorschriften - Wolf "Nicht zu langsam und sehr innig", Distler "sehr erregte Viertel" - ist ersichtlich, dass Distler eine im Gedicht nicht ausgesprochene Antwort gefunden hat auf die rhetorische Frage "woher die bange Liebe mir zum Herzen kam" - in der direkten Betroffenheit des Fragestellers. Die rhetorische Frage wird ja nun nicht gestellt, um eine Antwort zu bekommen, weil der Fragesteller die Antwort ja schon kennt (die eigene Betroffenheit), sondern um den Befragten indirekt aufzufordern, sich dem/der Sachverhalt/ Problematik mit eigenen Gedanken zu nähern.
    Wie setzt Distler das nun in der musikalischen Struktur der einzelnen Strophen um:


    1. Die rhetorisch unterschiedlich formulierten Fragen in der Verszeile 1 jeder Strophe werden homophon, text- und rhythmusgleich (choralartig, stets als Fragen), aber unterschiedlich vertont.


    2. Die Betroffenheit in den Verszeilen 4 aller Strophen wird (wie die 1. Verszeilen) auch text- und rhythmusgleich (choralartig, stets die Betroffenheit), aber einheitlich vertont.


    3. Die unterschiedliche Art und Weise der "naturhaften Metaphern" (Zitat Helmut) und deren Wirkung auf die Betroffenheit, wird in den Verszeilen 2 und 3 aller Strophen einheitlich vertont, aber polyphon und mit leicht unterschiedlicher Textverteilung auf die Stimmen.



    In 1. ist der Harmonikverlauf (nicht der einzelne Akkord) recht ungewöhnlich.


    In 2. die Akkorde ab "Stachel" - e'', a', d'', a - e'', a', cis'', a - g'', g', d'', b - f'', g', d''; b -


    e'', a', d'', a - d'', b', f, g - e'', a', f'', a - e'', a', d'', a - e'', f'', f', a', cis' - d'', d'', d', d'', d', d'


    In 3. kommt zu dem ungewöhnlichen Harmonikverlauf (ähnlich wie 1.) noch die polyphone Struktur mit leicht (aber sehr wirkungsvoll) verschobenem Text insbesondere bei "Liebe mir zum Herzen" (Strophe 1 - 2 und 3 analog).


    Leider gibt es auf youtube keine Einspielung und Vorstehendes (und Nachfolgendes) sind der letztlich untaugliche Versuch, einen Eindruck der Musik zu vermitteln, dennoch:


    Gleich die ersten beiden Takte aller 3 Strophen sind, entgegen von 1., einheitlich vertont, aber der Harmonikverlauf und die kleine Textverschiebung zwischen S und ATB ergeben einen sehr indifferenten, unsicheren Klangeindruck.
    Die in 2. gezeigte Akkordfolge gibt einen sehr schmerzlichen Höreindruck. Auch in den leeren Oktaven jeweils am Schluss jeder Strophe höre ich die Rat- und Hilflosigkeit des Betroffenen deutlich, mit der Situation umzugehen.



    Erneut ein Beispiel, welch unterschiedliches Textverständnis beide Komponisten haben und in Folge die Musik auch sehr unterschiedlich ausfällt.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

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  • Lieber Horst,


    ich finde der Schlüssel zu Distlers Vertonung ist die Zeile


    Sprich warum mit Geisterschnelle
    Wohl der Wind die Flügel rührt


    was wiederum dafür spricht, daß bei Distler das Geschehnis wichtiger ist als die Subjektivität - das ist ja ein Naturereignis, dessen Notwendigkeit sich dem menschlichen Eingriff entzieht. Die Vertonung "fliegt" durch das Gedicht - die Endpunkte werden dann zu wahren Aufhalten der Bewegung, wie Ausrufezeichen. Eine sehr schöne Vertonung und der Chor auf besagter CD ist wieder mal Top! :hello:


    Schöne Grüße
    Holger

  • Hallo,


    "Lebewohl", a-Moll, 6/4, gehende punkt. Halbe, etwas frei im Zeitmass - doppelchörig, für 3- (bis zu 5-) stimmigen Frauenchor (S1, S2, A) und 3- (bis zu 4-)stimmigen Männerchor (T, B1, B2)


    CD wie bei "Der Gärtner"
    http://www.youtube.com/watch?v=j4WdlAnBLns



    Ich beziehe mich auf die Beiträge ab Nr. 344 im Thread "Wolf und Eduard Mörike".


    Mein Verständnis zum Gedicht von Mörike:
    Auch hier ist dem Beitrag von Helmut nur kurz hinzufügen: Es soll (gibt) Gedichte geben, in welchen der Dichter dem Leser etwas vermittelt, was nicht direkt verbalisiert ist (siehe "Frage und Antwort"). .


    Mein Verständnis zur Vertonung von Distler:
    Zur Satztechnik: Hier nützt Distler die Vorteile einer Chorvertonung voll aus. Die Männerstimmen singen, über weite Teile des Chorsatzes "Lebe wohl", in punkt. Halben und einem gleich bleibenden Akkord - also wie ein Ostinato - während dem affektbetonten Frauenchor der musikalische Vortrag des Gedicht-Textes vorbehalten bleibt.


    Zur Harmonik - immer wichtig, hier aber ganz besonders:
    Das Ostinato des Männerchores "Lebe wohl": cis', gis, cis - e', a, h, HIS - cis', gis, cis


    Frauenchor was es heißt dies "Wort der Schmerzen" incl. Ostinato: a', d', eis' - h', gis', GIS, a', fis' - cis'', cis', fis', gis', cis', gis, cis - gis', cis'', cis', fis', gis', cis', gis, cis


    Frauenchor zum 1.Mal "Lebe wohl" incl. Ostinato in forte: gis', e', e', cis', gis, cis - e', a', c', e'', a', h, HIS - gis', e', e', cis', gis, cis


    Dann wiederholt bis zu 5 mal der Frauenchor "(Tausend Mal) hab' ich es mir vorgesprochen" mit unterschiedlicher, sehr wirkungsvoller Textverteilung - ohne Ostinato - und dissonanten Akkordreibungen.


    Frauenchor das Herz damit "gebrochen" incl. Ostinato: h', fis', fis', gis', GIS - cis'', cis', gis', fis', cis, cis', gis, cis - c'', c', g', eis', c', cis', gis, cis


    Gesamtchor das letzte "Lebe wohl" in forte: e'', e', e'', e', e', cis', gis, cis - e'', e, c'', c', a', e', a, h, HIS - gis'', gis', e'', e', c', cis, gis, cis


    Diese Stellen ergeben sehr dissonante Akkorde, dem Schmerz Ausdruck gebend.



    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Der lyrische Text versieht das „Lebe wohl“ mit dem Epitheton „Wort der Schmerzen“ und spricht in diesem Zusammenhang von einem „Brechen des Herzens“. Das sind gleichsam die Zentren der Aussage, die das Gedicht Mörikes macht, und sie müssen der Maßstab bei der Frage sein, ob ein Komponist dem lyrischen Text musikalisch gerecht geworden ist.


    Hier nun ist bezüglich der Vertonung durch Hugo Distler aus meiner Sicht festzustellen: Der Chorsatz fängt das, was der Dichter zu sagen hat, in klanglich faszinierender Weise voll und ganz ein.


    Ganz wesentlich ist dies durch das Zusammenspiel von Frauen- und Männerstimmen bedingt. Die Worte „Lebe wohl“ liegen, von den Männerstimmen artikuliert, dem Lied wie ein Ostinato zugrunde, weil es permanent wiederholt wird und gleichsam die Vorlage und Basis für die Bewegung der Frauenstimme liefert. Klanglich in Bann schlagend ist dieses Ostinato,, weil auf der Silbe „be“ (von „Lebe“) ein äußerst schmerzhaft wirkender dissonanter Akkord liegt.
    Auch die melodische Linie der Frauenstimme ist von Dissonanzen durchsetzt und pendelt zwischen Dur- und Moll-Harmonik hin und her. Bei „Wort der Schmerzen“ zum Beispiel kulminiert diese klangliche Schmerzlichkeit, weil das ostinate „Lebe wohl“ in die Bewegung der Frauenstimme einfällt und diese überlagert.


    Großartig die Gestaltung der letzten beiden Verse. Die melodische Linie steigt homophon langsam in Sekundschritten an. Bei dem Wort „Herz“ fällt ein dissonanter Akkord in sie ein. Und während die Frauenstimmen ganz langsam das Wort „gebrochen“ deklamieren, bricht wieder das „Lebewohl“ der Männerstimmen über sie herein, und sie wollen nicht mehr davon ablassen.

  • Ganz wesentlich ist dies durch das Zusammenspiel von Frauen- und Männerstimmen bedingt. Die Worte „Lebe wohl“ liegen, von den Männerstimmen artikuliert, dem Lied wie ein Ostinato zugrunde, weil es permanent wiederholt wird und gleichsam die Vorlage und Basis für die Bewegung der Frauenstimme liefert.


    Sehr treffend, lieber Helmut! Ich finde diese Vertonung auch besonders gelungen! Und dann das Unisono am Schluß ist sehr eindringlich. Tiefer Schmerz macht stumm - da verstummt jegliche Redseligkeit!


    Schöne Grüße
    Holger

  • Hallo,


    "Lied vom Winde", a-Moll/C-Dur, überwiegend 3/8, dazwischen kurz in ¾ und 4/8 wechselnd - frei, etwas nachdenklich - die ¾ Takte als Sopran-Solostimme, sonst 3-(bis zu 4-)stimmiger Frauenchor ( 2-mal S1, S2, A)


    CD wie bei "Der Gärtner"
    http://www.youtube.com/watch?v=-WC6n1c3HOc



    Ich beziehe mich auf die Beiträge ab Nr. 363 im Thread "Wolf und Eduard Mörike" (mit komplettem Text).


    Mein Verständnis zum Gedicht von Mörike:
    Auch hier ist Helmut voll zuzustimmen, ich zitiere ihn: "Wie ein Sause- und Brausewind wirbeln diese Verse in der Unregelmäßigkeit ihrer Versgliederung und der wie bruchstückhaft wirkenden Syntax vorbei."
    Dann habe ich jedoch ein, nicht nur von der Distlerschen Vertonung geprägtes, anderes Textverständnis, sondern bei Beachtung des obigen Zitates (Syntax!) ist für mich die Frage ob Wolf bei seiner Vertonung nicht zu sehr auf das 2. Zitat von Helmut: "Die Unbeständigkeit der Liebe. Es ist ihr Wesensmerkmal, das dem Menschen immer wieder als höchst schmerzliche Erfahrung begegnet." abhebt, was dem 1. Zitat insofern widerspricht, als: Es ist die naturhafte Wesensart dieser (romantischen usw.) Liebe unbeständig zu sein wie der Sause- und Brausewind und um das Wesen dieser Liebe, verglichen mit dem Wind, geht es m. E. in dem Gedicht, nicht in 1. Linie um die Wirkung dieser Liebe auf die menschliche Psyche (Zitat aus dem Gedicht: Das "Kindlein" wird gefragt"…Bist du klüger als sie…" und zusätzlich "… Wer's nennen könnte, schelmisches Kind…").



    Mein Verständnis zur Vertonung von Distler:
    Es handelt sich um ein "durchkomponiertes Strophenlied" - das ist ein Widerspruch in sich, aber das dürfte genau den Kern des Chorsatzes treffen. Leider bringt auch hier youtube keine Einspielung, sodass ich erneut den untauglichen (und sehr text- und zeitaufwändigen)Versuch unternehmen muss, die Vertonung von Distler zumindest sehr, sehr ansatzweise zu beschreiben.


    "Sausewind…sage mir" und "Halt an…ihr Ende" werden von einer Solosopranstimme in ¾ - und wie etwas verzögernd betonend - in unterschiedlicher Melodie vorgetragen, quasi als Überschrift für die je folgende Gedichtstrophe.


    Was dann in der 1. Strophe kommt, ist ein kaum zu überbietendes Meisterwerk Distlers in der Textverteilung und -wiederholung auf die 3 Frauenchorstimmen. Die Chorstimmen "Kindlein wir fahren…" werden im Kanon (polyphon) geführt, überwiegend in Achtelnoten, dabei wir die sehr kurze und einprägsame Melodiephrase ostinatoartig vielmals wiederholt, (und dadurch ist der höchste Ton d'' der Melodiephrase fast wie ständig hörbar ist), dazu cresc. (=wir, der Brause- und Sausewind, sind schon so lange auf der Welt unterwegs, willst du, Kindlein, klüger sein als wir?) und dim., was dem Sausewind zusätzliches "Leben einpustet". Es kommen aber auch immer wieder Stellen, in welchen ein zwar textlich verschiedener, aber in Akkord und Rhythmus homophoner Chorklang entsteht und so die Widersprüchlichkeit, Uneinheitlichkeit, Unbeständigkeit des Naturphänomens Wind musikalisch exzellent verdeutlicht. (Ich kann nur empfehlen, sich den Chorsatz anzuhören - mit Worten ist diese überragende, überwältigende Textübertragung in Musik nicht beschreibbar!)
    "Bist du klüger als sie, magst du es sagen" im homophonen, textgleichen Chorsatz in 4/8 , betont im Tempo zurück genommen, verzögernd, "sagen" auf lange zwei Halbenoten.
    "Fort halt uns nicht auf" singt der Sopran 1 über 8 Takte, Sopran 2 und Alt haben dazu, 7 mal wiederholt, "wohlauf" - in Sechzehntel-, Achtelnote und Sechzehntelpause. Dann hält der zweite Sopran 1 über 6 Takte, wie ein Orgelpunkt, das d'' aus, der Chor singt dazu "Kommen andere nach…", ab dem vorletzten Takt mit unterschiedlichen Fermaten in den Chorstimmen (wer hat so etwas schon gehört?) und ab drittletztem Takt in 4/8, verzögernd.


    "Halt an…ihr Ende", siehe oben, dann die
    2. Strophe: Von der musikalischen Struktur genau wie die 1. Strophe, aber eine andere Melodie, der 1. artverwandt. Und dann kommt's: "Wer's nennen könnte schelmisches Kind" - auf "schelmisches" - 4 Achtelnoten Tonleiter aufwärts - punkt. Viertelnote Ganzton abwärts - Achtelnote kleine Terz abwärts - Viertelnote kleine Terz abwärts: gibt es für schelmisch eine besser charakterisierende Musikphrase? Die musikalische Struktur, Ostinato, Textwiederholungen, homophone Chorstellen - wie 1. Strophe.
    "Aber nicht immer beständig", auch homophoner, textgleicher Chorsatz wie 1. Strophe, aber nicht 4/8 und im Tempo verzögernd zurück genommen, im Gegenteil string. und die Wiederholung 1 Ganzton höher, fast wie erregend, ängstlich* klingend, mit Fermate vor "Fort"
    "Fort, fort, halt uns nicht auf", wie 1. Strophe, melodie- und satzgleich! - aber:
    Ab letztem "auf" hält der zweite Sopran 1 über 25 Takte das e'' in einem Orgelpunkt aus, dazu erster Sopran 1, Sopran 2 und Alt homophon und textgleich "fort über Stoppel und Wälder und Wiesen! Wenn ich dein Schätzlein seh'" (beeindruckend der Möriketext "und… und" die Weite verdeutlichend), dann ähnlich 1. Strophe "will ich es grüßen", auch mit unterschiedlichen Fermaten.** Aber weiter unter dem 25-taktigen Sopranorgelpunkt: Sopran 1 auf h' und Sopran 2 in Quintabstand drunter"Kindlein" auf zwei punkt. Viertel, dann 2-mal "Kindlein ade" in Achtelnoten, auch im Quintabstand, dann 5-mal (allmählich stark verzögernd) "ade" Sopran 1 gis' - e', Sopran 2 im Quintabstand und der Alt hat ab ** 18-mal "ade" auf fis' - e' in Sechzehntelpause, Sechzehntel- und Achtelnote, in den letzten Takten zwei Achtel- und eine Sechzehntelpause, Sechzehntel- und Achtelnote, Sechzehntelpause, Sechzehntel- und Achtelnote.



    Bis auf * gibt es keinen Schmerzausdruck, wozu auch, der Wind kennt keinen Schmerz und diese Liebe auch nicht, nur der Mensch leidet darunter, aber das scheint nicht Thema des Gedichtes zu sein. Der Wind ruft, "Wenn ich dein Schätzlein seh', will ich es grüßen" und verabschiedet sich mit "Kindlein" ade, ade, ade, ade…= du Kindlein bist ja noch so unerfahren, was weißt du von der großen weiten Welt, über die ich ständig wehe (und diese Liebe ist genau so naturgemäß wie der Wind).



    Was macht nun den Unterschied beider Vertonungen aus? Bei Wolf liegt der Sause- und Brausewind beeindruckend im Klavier, die Liedmelodie drückt vor Allem das schmerzliche Leid aus, was die Liebe, so wie sie von Natur aus angelegt ist, dem Menschen zufügen kann.
    Distler beachtet auch die Liedüberschrift, vergleicht als Metapher - zum besseren Verständnis und weil sich Liebe in Worten eher ausdrücken lässt als Wind - den Wind mit der Liebe und geht aber dennoch auf - aber nicht hauptsächlich - das von dieser Liebe auf den Menschen einwirkende Leid* ein.


    Viele Grüße
    zweiterbass


    Nachsatz: Dieser Chorsatz ist unter dem Gesichtspunkt "Vertonung nahe am Text", genauso meisterhaft und unerreicht, wie "Ich wollt', dass daheime wär'…", zwar mit einem ganz anderen Inhalt des Textes, aber damit beweisend, dass Distler auch sehr unterschiedliche Texte kongenial vertont.

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Zit. zweiterbass aus dem Hugo-Wolf-Mörike-Thread:
    „…und dürfte m. E. damit am Inhalt des Gedichtes vorbei gehen - "Lied vom Winde" - siehe auch den entspr. Beitrag im Thread "Distler, Hugo - Das Mörike-Chorliederbuch"


    Ich möchte mich an derartigen Vergleichen nicht beteiligen, weil ich ihre Sinnhaftigkeit nicht sehe. Distler und Wolf verfolgen nicht nur unterschiedliche kompositorische Intentionen, sie setzen auch ein ganz und gar wesensverschiedenes musikalisches Instrumentarium ein.


    Man kann das sehr schön an diesem Beispiel „Lied vom Winde“ erkennen. Distler hebt kompositorisch ganz auf den dialogischen Faktor ab, den dieses Lied aufweist. Infolgedessen setzt er in homophoner Stimmführung die Fragen des lyrischen Ichs gegen die polyphon, stark rhythmisiert und mit dem Prinzip vielfältiger Wiederholung des lyrischen Textes gestaltete Antwort des Windes.


    Wolf komponiert sein Lied aus der Perspektive des lyrischen Ichs mit seinen drängenden Fragen nach dem Wesen und der „Heimat“ der Liebe. Der Wind wird unter Heranziehung der klangmalerischen Elemente, die aus einem Klaviersatz zu gewinnen sind, in all seiner hurtigen Flüchtigkeit diesen Fragen entgegengesetzt, um die zentrale Aussage „Lieb ist wie der Wind“ - eben über spezifische Struktur der melodischen Linie der Singstimme in ihrer Einbettung in den Klaviersatz – bei Hören des Liedes gleichsam sinnlich erfahrbar werden zu lassen.


    Das sind zwei völlig unterschiedliche kompositorische Intentionen. Sie sind es nicht nur deshalb, weil Distler nicht mehr die in der Tradition der Romantik stehende kompositorische Grundhaltung vertritt. Sie müssen es sogar sein, weil er andere musikalisch-kompositorische Mittel einsetzt.


    Ein Klavierlied ist mit einem Chorlied allenfalls unter der Fragestellung vergleichbar:
    Welche Akzente setzen die Komponisten jeweils auf der Grundlage und im Rahmen der dichterischen Aussage des lyrischen Textes und seiner spezifischen sprachlichen Struktur, und welche eigenen Aussage-Intention verfolgen sie damit?
    Eine Einbeziehung des qualitativen Aspekts verbietet sich hierbei angesichts der Unvergleichbarkeit der Gattungen.

  • Ich möchte mich an derartigen Vergleichen nicht beteiligen, weil ich ihre Sinnhaftigkeit nicht sehe.


    Lieber Helmut,


    "möchte mich…nicht beteiligen…", machst es aber dann doch, darum meine Antwort.

    1. Die Sinnhaftigkeit sehe ich schon allein darin, die Frage zu stellen, mit welchen musikalischen Mitteln ein Gedicht, ein Text in Musiksprache übertragen werden kann mit dem Ziel, die Textaussage zu verdeutlichen, zu vertiefen, was Musik - nahe am Text komponiert - unbestritten kann.


    2. Ich gehe davon aus, dass Du und ich keine Meinungsverschiedenheiten darüber haben, dass Musik besser in der Lage ist, die besseren Mittel hat, den Sinngehalt eines Textes - einschl. des "zwischen den Zeilen Geschriebenen" - dem Hörer rational und insbesondere emotional zu vermitteln.


    3. Es kommt also bei der Frage, welche musikalischen Mittel - im weitesten Sinn - anzuwenden sind, um 1. und 2. zu erreichen, sehr darauf an, um welchen Text es sich handelt. Unstrittig dürfte m. E. sein: Ein "Kyrie" ist in einer Chorvertonung besser aufgehoben, als in einer Vertonung für Solostimme, egal in welcher Art von Begleitung - umgekehrt ist "Et unam sanctam…" für eine Chorvertonung wohl fraglich. Das Klangbild der "Moldau" dürfte als Klavierwerk gegenüber dem Orchesterwerk stark abfallen und "Die Forelle" ist als Kunstlied wohl unschlagbar, ob zwingend mit Klavierbegleitung? - wir haben uns zumindest an die geniale Schubertvertonung gewöhnt. Es gibt hier für mich Grauzonen: "Bilder einer Ausstellung", manche Mahler-Lieder usw.
    Dazu zitiere ich aus Distlers Vorwort zu seinem Chorliederbuch (bereits im Beitrag Nr. 36 gepostet): "Die im Hinblick auf die chorische Bearbeitung von mir getroffene Auswahl ist bemüht gewesen, alle mir dafür geeignet erscheinenden Gedichte (…) heranzuziehen - eine angesichts des Gesamtwerkes des Dichters freilich nur geringe Anzahl."


    4. Nun zum Mörikegedicht "Lied vom Winde": Der 3-Zeiler vor der 1. Strophe macht für mich eindeutig klar, dieses Gedicht hat nicht den Liebesschmerz derer zum Inhalt, die sich von ihrem/r Liebsten verlassen fühlen. Der 4-Zeiler vor der 2. Strophe hat auch nicht den "Weltschmerz" der/s Verlassenen zum Inhalt, er fragt nach "der Liebe Heimat", nicht lyrisch ausgedrückt, nach dem Wesen der Liebe. Dabei dürfte unstreitig sein, dass es viele Liebesarten gibt, in diesem Fall geht es ebenso unstreitig um die naturhafte Liebe, sonst wäre der Vergleich mit dem Wind unsinnig.


    5. Zurück kommend auf 3. spricht das "Lied vom Winde" deshalb für eine Chorvertonung, da es sich um eine Frage handelt, die für viele Menschen??? ist, sprich es geht um eine grundsätzlich Frage, nicht eine/n Einzelne/n betreffend. Selbstverständlich kann auch eine individuell gestellte Frage die Fragen von Vielen zum Inhalt haben. Dann kommt es aber sehr darauf an, wie diese individuelle Frage gestellt wird, weshalb ich nun komme zu


    6. Wolfs Vertonung. Ich zitiere Dich: "Eine Fantasie für Klavier und obligate Singstimme mit reichlich Holländer-Chromatik und Walküren-Anmutung angereichert, - so könnte man dieses Lied charakterisieren. Aber da täte man ihm unrecht." - "Die Deklamation erfolgt auf tonal ansteigenden Ebenen, und dabei wandelt sich die Tonart auf klanglich eindrucksvolle Weise von cis-Moll über c-Moll nach fis-Moll." - "…dass es klanglich ganz und gar aus dem orchestral angelegten Klaviersatz lebt". - "Diesem kommt eine unüberhörbare musikalische Dominanz zu,…".
    Mit Ende der Barockmusik und auf jeden Fall bis Ende der romantischen Musik war die emotionale Zuordnung der Tongeschlechter klar definiert. Unter diesem Gesichtspunkt das Lied angehört ist eindeutig eine Mollzuordnung festzustellen, was dem schmerzlichen Empfinden Ausdruck gibt, was diese Art der Liebe bei den Menschen zur Folge haben kann, was aber dieser Liebesart naturgemäß innewohnt, sie selber also nicht schmerzlich sein kann, genauso wenig wie der Wind.
    "Zu großer Emphase schwingt sich die melodische Linie dann bei den Worten „Ewig ist sie“ auf." - "Diese (Gesangstimme)artikuliert sich ja recht deutlich," - "Und die vielen Fragen des „Kindleins“ bleiben unbeantwortet."
    Auch die dramatische, leidensvolle, exzessive Melodieführung ist eng die die Harmonik gebunden und ist Ausdruck der Emotion des passiven Erleidens, was der Liebe und dem Wind völlig abgeht.


    7. Von einer homophonen Stimmführung der tatsächlichen Strophen 1 und 2 bei Distler kann nicht die Rede sein, ausgenommen der wenigen Stellen, wo der homophone Chorsatz im Kontrast zur überwiegenden Polyphonie und als kompositorisches Ausdrucksmittel eingesetzt wird, was ja die Kunst des Komponisten ausmacht, zur Textverdeutlichung die passenden musikalischen Mittel einzusetzen. Die rhythmisch stark akzentuierten und oftmaligen Wortwiederholungen sind keinesfalls polyphon, sondern in der Art eines Ostinatos und geben diesen Stellen die Eindringlichkeit bei gleichzeitig zu hörender Leichtigkeit der Komposition, weit ab von leidensvoller Dramatik, welche diesem Gedicht nicht innewohnt.


    8. Dass die Musikgattungen Kunstlied und Chorsatz sehr unterschiedlich sind macht ja gerade den Reiz aus zu vergleichen, welche Musikgattung für das zur Vertonung ausgewählte Gedicht geeignet ist, um o. g. 1. und 2. zu erreichen. Dass dabei die eigenen Intentionen der Komponisten ebenfalls zum Ausdruck kommen, steht außer Frage, nur sollten diese den Inhalt und die Struktur des Gedichtes bei der Vertonung nicht z. T. auf den Kopf stellen, was ich bei Wolf hier höre; in Distlers Vertonung wird die romantische Herkunft des Gedichtes keinesfalls verleugnet, Distler erliegt aber nicht der Versuchung, das menschliche Leid als Grundtenor des Gedichtes zu verstehen und so zu vertonen.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Ich bin noch nicht dazu gekommen, Distlers Vertonung eingehend zu studieren!


    Nur eine kleine Bemerkung vielleicht: Das Gedicht ist ja in Dialogform geschrieben - und die Form des klassischen Dramas ist das Rededuell. Insofern ist Wolfs "dramatisierende" Vertonung durchaus von der Form des Gedichtes her gerechtfertigt. Wenn man genau hinhört, besonders in der ersten Strophe, erkennt man, daß sich Wolf an Schuberts "Erlkönig" orientiert hat. Auch da ist es ja ein Dialog zwischen dem Vater und dem Kind. Die Dominanz des Tonmalerischen spricht auch dafür, daß es sich hier weniger um eine die Subjektivität und Innerlichkeit betonende Vertonung handelt. "Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei" - steht in Beethovens Partitur der Pastorale. Bei Wolf ist es genau umgekehrt - mehr Malerei als Ausdruck von Empfindung.


    Schöne Grüße
    Holger

  • Hallo,


    "Denk' es, o Seele", C-Dur, überwiegend 3/2, dazwischen kurz in 4/2 wechselnd - gehende Halbenoten, ja nicht schleppend, sehr zart - 4-(bis zu 5-)stimmiger gem. Chor (S1, S2, A, T, B)


    CD wie bei "Der Gärtner"
    http://www.youtube.com/watch?v=Pum_-8LCEkU ab Laufzeit 3.20


    Ich beziehe mich auf die Beiträge ab Nr. 373 im Thread "Wolf und Eduard Mörike" (mit komplettem Text).


    Mein Verständnis zum Gedicht von Mörike:
    Auch hier ist Helmut voll zuzustimmen - ich zitiere ihn:


    "Ein einziges Wort ist es, in dem sich alles verdichtet: „Blitzen“. Es ist nur ein Hufeisen, um das es dabei geht, eines, das „los wird“. Aber dieses lyrische Bild ist ein einziges evokatives Äquivalent für eine existenzielle Erfahrung, die nicht anders als so zum Ausdruck gebracht werden kann: Die erschreckend aufblitzende Erkenntnis der Endlichkeit von Leben"


    Der dazu besonders wichtige Textabschnitt: "Sie werden schrittweis gehn' mit deiner Leiche; vielleicht noch, vielleicht eh' an ihren Hufen das Eisen los wird, das ich blitzen sehe!"


    Dies gilt es für mich ein klein wenig zu verdeutlichen (zu ergänzen?): Es geht insbesondere um die Einsicht der plötzlichen, unerwarteten, unvorhersehbaren Endlichkeit des Lebens, was auch schon in der 1. Strophe angedeutet wird "…sie sind erlesen schon*, denk es o Seele…"
    (*aber nicht erlesen von der/dem für das Grab Bestimmten!). Ich bin mir nicht sicher, welch religiöser Hintergrund (Prädestination?) bei Mörike hier hereinspielt.



    Mein Verständnis zur Vertonung von Distler:
    Ich sehe mich außer Stande, diesen Chorsatz in der bisher praktizierten Weise zu beschreiben. Der Chorsatz lebt von einer z. T. ungewohnten, sehr textbezogenen und zu dem äußert abwechslungsreichen Harmonik. Die Akkorde wechseln Tongeschlecht und/oder -art z. T. von Silbe zu Silbe, häufig nach jedem Wort und es bringt wenig, wenn ich dies mit Notenangaben zu beschreiben versuche. Lediglich bei "…Leiche, vielleicht noch, vielleicht eh' an ihren Hufen…" wird die Textbezogenheit mehr durch eine besondere Rhythmik (3/2 wechselt zu 4/2) des homophonen Chorsatzes dargestellt.


    Wer sich tatsächlich für die Chormusik des Distlerschen Mörike-Chorliederbuch interessiert, kommt an dem Kauf der von mir vorgestellten CD (mit einem ausgezeichneten Chor!) nicht vorbei.


    Viele Grüße
    zweiterbass

    Wer die Musik sich erkiest, hat ein himmlisch Gut bekommen (gewonnen)... Eduard Mörike/Hugo Distler

  • Ich habe mir gerade die Distler-Vertonung angehört - gleich zweimal! Sehr beeindruckend. Ich gehe nicht ins Detail wie Horst eindringlich sorgfältige Beschreibung :) , ich bleibe beim Gesamteindruck. Das Frage-Antwortspiel ist nach der Art eines Vorsängers gestaltet, der mit dem Chor wechselt. Der Wind braust förmlich auf in einem sehr dynamischen Accelerando, bevor dem Brausen durch den Fragenden wieder Einhalt geboten wird. Die Wiederholungen des Chores haben etwas von einer Litanei, die ja auch den Sinn der Verstärkung - Verdichtung - der Aussage hat. Bei Distler braust der Wind, der in seinem Brausen nicht aufgehalten werden will - er wird zu einer Art Orakel, das spricht, und das etwas Mysteriöses und Geheimnisvoll-Unergründliches hat. Auch hier sakralisiert Distlers Vertonung finde ich den Text, wendet die Individualität der lyrischen Aussage ins Allgemeine. Die Musik beobachtet gewissermaßen aus der Vogelperspektive diesen Dialog. Somit liegen in der Tat Welten zwischen Distler und Wolf Welten. Bei Wolf ist es die Perspektive eines Individuums, das mit einem Naturereignis konfrontiert wird.


    Für mich ist dies ein besonders interessantes Beispiel, weil es die Frage nach dem Sinn einer Liedvertonung überhaupt aufwirft. Bei Distler transformiert die Musik die Aussage der Dichtung von der individuellen Betroffenheit eines lyrischen "Ich" ins Allgemeine. Das sprengt natürlich das traditionelle Verständnis einer Liedvertonung, wonach sich ihr Sinn auf den der Sinnverdeutlichung beschränkt. Bei Distler entsteht eine Art "Gesamtkunstwerk", eine originelle Synthese aus Dichtung und Musik.


    Schöne Grüße
    Holger

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