"Verborgenheit" in der Version von Distler habe ich mir gerade zu Gemüte geführt! Das nimmt gefangen durch seinen leisen, "würdevollen" Ton, der die Zurückhaltung und Schüchternheit auf seine Weise sehr gut zum Ausdruck bringt. Im Vergleich mit Wolf würde ich den Charakter von Distlers Vertonung "archaisierend" nennen - sowohl vom Ausdruck als auch der Form her. Distler wählt ein Strophenlied, Wolf sehr avanciert eine Mischung aus Strophenlied und durchkomponiertem Lied. Bei Wolf ergibt sich eine ABA-Form, was wirklich sehr treffend zur Textsemantik paßt. Gerade an diesem Beispiel wird für mich deutlich, daß es generell bei einem Chorlied problematisch ist - vielleicht mehr noch als bei einem Kunstlied in der romantischen Tradition - von einer "Vertonung" des Textes zu sprechen. Das ist bei Distler ein höchst kunstvoller Chorsatz, er spiegelt aber in keiner Weise paßgenau die Form des Gedichts wider, wie es die Norm musikalischer Rhetorik verlangt. In diesem Sinne hatte ja noch Goethe nur das Strophenlied akzeptiert und das durchkomponierte Lied abgelehnt. Durch Distler verstärkt sich bei mir der Eindruck, daß die Emanzipation der Musik vom Text beim Chorlied gerade in formaler Hinsicht - bedingt durch die Stimmenpolyphonie - sogar noch weiter geht als bei der romantischen Liedvertonung.
Schöne Grüße
Holger