Ein Thread für die Schwester und keiner für den – kompositorisch sicher gewichtigeren – Bruder, - geht das?
Es geht nicht. Also denn!
Felix Mendelssohn-Bartholdy hat nicht halb so viele Lieder hinterlassen wie seine Schwester Fanny Hensel, - um die 120 nämlich, wovon die Veröffentlichung von 79 Liedern von ihm selbst autorisiert ist. Gleichwohl ist er – im Unterschied zu ihr – in der Rezeptionsgeschichte des Kunstliedes ins Bewusstsein der Öffentlichkeit getreten. Nicht nur das: Sein Lied „Auf Flügeln des Gesanges“ wurde im 19. Jahrhundert sogar zum Inbegriff des Liedgesangs überhaupt.
Hier aber, in eben diesem Lied, lässt sich auch, wie gleichsam musikstrukturell verdichtet, die „Problematik“ fassen, die sich um den Liedkomponisten, ja den Komponisten Felix Mendelssohn überhaupt, rankt: Es ist der Vorwurf einer gefälligen, letztlich aber oberflächlichen musikalischen Eleganz.
Um es gleich vorweg festzustellen: Er ist unsinnig, weil sachlich unbegründet! Und nicht nur dies: Bei ihm handelt es sich um ein musikgeschichtlich interessantes und höchst bedenkenswertes Phänomen.
Felix Mendelssohn war zu seinen Lebzeiten nicht nur ein hochgeachteter Musiker, Komponist, und Dirigent, er galt als ein musikalisches Genie, dem Robert Schumann ohne jeglichen Verdacht einer Übertreibung den Beinamen „Mozart des neunzehnten Jahrhunderts“ verleihen konnte. Nach seinem frühen Tod dauerte es nicht lange, und man apostrophierte ihn als einen „schönen Zwischenfall“ in der Musik eben dieses Jahrhunderts.
Was war geschehen? Die Antwort der Musikwissenschaft auf diese Frage lautet: Die Kritik Richard Wagners („Das Judentum in der Musik“) und ihrer Protagonisten schuf in Kombination mit der allgemeinen Kritik am Viktorianismus eben jenes Bild vom „übersentimentalen“ Komponisten Mendelssohn-Bartholdy, das sich an sein Werk gleichsam von außen anlagerte, ohne eine Entsprechung in dessen kompositorischer Substanz zu haben.
Dieses historisch bedingte Klischee erstreckte sich auch auf seine Lieder. Auch diese fand man noch weit bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein als „hübsch“, „melodisch elegant“, aber letzten Endes ohne großes kompositorisches Gewicht und musikalische Aussage. Bei Dietrich Fischer-Dieskau, der wesentlich dazu beigetragen hat (u.a. mit seiner Lp-Kassette mit Mendelssohn-Liedern von 1970), die Aufmerksamkeit auf den Liedkomponisten Mendelssohn zu lenken, liest man:
„Die Lieder und Duette für die bürgerliche gute Stube lassen auch bei Felix Mendelssohn-Bartholdy die Rhythmik häufig so problemlos erscheinen, daß der Interpret Mühe hat, ihr individuelle Kontur zu geben. Kraft, Originalität oder Kompliziertheit sind nicht spezifische Kennzeichen der Lieder. Und die Schablonen gleichmäßigen Sechsachtel-Flusses in Barcarolen oder punktierter Rhythmen, gleichmäßiger Viertel nicht nur bei ruhiger Seelenlage – sie bieten der Interpretation wenig Anhalt, fordern zum Nur-Schönklang geradezu heraus. Und wenn ringsum progressive Harmonik zum Gradmesser des Romantischen wurde, so ist Mendelssohn auch hierin der simplen Konvention näher. Das Interesse >bahnbrechender Neuerung< fehlt. Kontraste und Stufen der Ausdrucksintensität gibt es wenige.“
Immerhin gesteht Fischer-Dieskau Mendelssohn zu, dass die Begegnung mit der Lyrik Heines sich positiv auf dessen Lieder ausgewirkt habe, dennoch ist das Urteil insgesamt recht negativ. Es muss zugestanden werden, dass die darin getroffenen liedanalytischen Feststellungen durchaus zutreffend sind. Diese kompositorischen Merkmale des Mendelssohn-Liedes erklären sich daraus, dass dieser Schüler Zelters war und sich an dessen liedkompositorischem Grundmodell orientierte, ohne es freilich einfach zu kopieren.
Es erklärt sich aber auch aus der kompositorischen Grundhaltung, die Mendelssohn generell einnahm, - nicht nur in seiner Liedkomposition. Sein Biograph R. Larry Todd spricht in diesem Zusammenhang von dem „Versuch, die Dichotomie von Klassik und Romantik zu überbrücken, indem er über seine überaus expressive Musik die klassischen Attribute Haltung, Balance und Klarheit legt“.
Es ist wohl eine Frage der Kriterien, die man bei dem Versuch anlegt, die Lieder Felix Mendelssohns in ihrer kompositorischen Qualität zu beurteilen. Geht man, wie Fischer-Dieskau, von der „progressiven Harmonik“ des damaligen „romantischen Liedes“ aus, dann muss man zu dem Urteil gelangen, das er in dem obigen Zitat vorgelegt hat. Legt man aber die Kriterien zugrunde, die für Mendelssohn selbst maßgeblich waren und verlässt sich ansonsten auf den unmittelbaren Höreindruck, dann kann man auch zu einem Urteil gelangen, dass sich es bei Mendelssohns Liedern um „beseelte Musik“ handele, „ein unendlich sanftes, sehnsüchtig-seliges Schweben der dem All, dem Ursprung zugewandten Seele“ (Martin Geck).
Vielleicht, so denke ich, kann ja der Thread einen Beitrag dazu leisten, zu einem einigermaßen fundierten Urteil über die Lieder Felix Mendelssohns zu gelangen.