Entstehung und Analyse
In seinem zweiten Jahr in Italien begann Heinrich Schütz das Werk, das später als Opus 1 am Beginn seines wundersamen und beeindruckenden Schaffens steht. Bereits im dritten Jahr in der Fremde, wo er seine musikalische Ausbildung bei Gabrieli vervollkommnete – so Gregor-Dellin in seiner Schützbiografie - erschienen die 18 fünfstimmigen Madrigale (ohne Generalbass) auf der Grundlage des Schäferstücks „Pastor fido“ von Battista Guarini und Texten von Marino und anderer; „versammelt und komponiert zu einem Zyklus von Liebe, Lenz, Leidenschaft, Schmerz und Tod, Liebesbitterkeit und Todessüße.“ (S.74) Eine neunzehntes Madrigal mit eigenem Text und doppelchöriger Anlage huldigt Schützens Mäzen, dem Landgraf Moritz von Hessen-Kassel, der das Marburger Jurastudium und auch die Lehrzeit bei Gabrieli finanziert hatte. „‘Vasto mar‘ stellt die Brücke dar zu den wenig später in Dresden entstehenden mehrchörigen »Psalmen Davids« (1619), der ersten großen Schützschen Transposition venezianischen Spätrenaissance-Musizierens in deutsche Kunstübung.“ (Wolfram Steude, siehe letzten Link)
Steude weiter:
ZitatAlles anzeigenBekanntlich ließ Gabrieli um 1553/56-1612 alle seine Schüler, die vor allem aus Deutschland und Dänemark gekommen waren, die Lehrzeit durch eine Serie Madrigale, die auch in Druck zu gehen hatten, beenden, obgleich aus seiner eigenen Feder fast keine Madrigale überliefert sind. Hatte die italienische Madrigalpoesie, die schon im 14. Jahrhundert ihre erste Blüte erlebt hatte, im ausgehenden 16. Jahrhundert insofern einen Reduktionsprozeß durchgemacht, als in der Flut der Dichtungen inhaltlich fast ausschließlich Liebesleid - die Klage des enttäuschten oder vergeblich um Erhörung flehenden Liebhabers, Anklage der spröden Geliebten und dergleichen - und Liebesfreud zur Sprache kamen, so verfeinerten sich auf der anderen Seite die spraehlich-poetischen Mittel bis in manieristische Extreme hinein: gesuchte Vergleichsbilder, extravagante Wortformen, konträre Metaphern auf engstem Raum, jähe Ausdrucks- und Stimmungsumschwünge sind die Norm.
Diese hochstilisierte Dichtungsart in ihrer relativ freien, sehr variablen Vers- und Reimstruktur avancierte demzufolge rasch zum Probierfeld entsprechender Vertonungen: in dieser Renaissance-Gattung wurde zielstrebig das Affekten-Komponieren, das Imitieren von im Text genannten Bildern und Vorgängen, vor allem aber die Darstellung verschiedener Gemütslagen mit den musikalischen Mitteln der Harmonie, der »sprechenden« Rhythmik und der melodischen Faktur ausgebildet. Schützens Madrigale auf Texte aus dem Hirtendrama »Il pastor fido« des Battista Guarini (1589/90), vor allem des Erzmanieristen Giambattista Marino - von dem es hieß, er komponiere statt mit Tönen in Worten! - und anderer Autoren sind weit überdurchschnittlich gute Hervorbringungen aus der Endphase der musikalisch-renaissancistischen Madrigalperiode. Mit welcher Sicherheit zeichnet Schütz heiterfreundliche Bilder und Affekte und ihren Umschlag ins genaue Gegenteil!
»Ride 10 primavera ...« (»Es lächelt der Frühling ...«, Nr. 7): Heiter-lachende Achtel, helles g-mixolydisch. »Ma tu Clori serbi l'antico verno« (»Doch du,Cloris, suchst den alten Winter ...«): Welcher Simultan-Kontrast, fast bis ins Absurde geführt, in Text und Musik.
»O dolcezze amarissime d'amore« (»0 bitterste Süßigkeiten der Liebe«, Nr. 2): Ein Topos, der sich durch die ganze Madrigalistik seit dem frühen Klassiker Petrarca (14. Jahrhundert) zieht. Und welch eine Dissonanzkühnheit, verbunden mit einem lockeren »amore«-Motiv!“
Die Analyse des Heinrich-Schütz-Hauses Bad Köstritz:
ZitatMit dem Aufenthalt in Venedig kam der 24jährige Schütz nicht nur in eine weltoffene Stadt, sondern auch mit der Kunst, Kultur und italienischen Sprache in Berührung. Die ästhetische Forderung, die Musik solle so genau wie möglich das vertonte Wort nachbilden, begegnete ihm erstmals in der Lagunenstadt. Dieser prägenden Kompositionsweise blieb Schütz in seinem weiteren kompositorischen Schaffen treu. Das Probierfeld für derartige Neuerungen stellte in dem Falle die weltliche Vokalmusik dar, speziell das kunstvoll gesetzte fünfstimmige Madrigal. Der Lehrmeister Gabrieli veranlasste seine Schüler, als "Beleg" für ihren Studienaufenthalt, eine Sammlung von vollstimmigen polyphonen Madrigalen ohne Generalbass zu komponieren. Mit seinen Madrigalen lernte Schütz nicht nur den polyphonen Satz, sondern vor allem Textgestalt und Textinhalt mit einer adäquaten Musik zu verbinden - somit den Worten und Stimmungen musikalisch nachzuspüren, ohne dass die Komposition in zusammenhangslose Einzelelemente auseinanderbricht. Das von den venezianischen Meistern hochgelobte Il primo Libro De Madrigali Di Henrico Sagittario Allemanno umfaßt 19 Einzelwerke. (Auch wenn diese Sammlung "primo libro" betitelt wurde, folgte nie ein zweiter Band.) Dem literarischen Geschmack der Zeit folgend, entnahm er die Texte der Madrigale 1-3, 5, 11 und 15 dem damals berühmten Hirtendrama Il Pastor fido von Battista Guarini; die der Madrigale 4, 7-9, 12-14 und 16-18 sind vom Dichter Giambattista Marino original bezeichnet als Madrigali e Canzoni. Der Text von Nr. 6 stammt von Alessandro Aligieri und der von Nr. 10 von einem anonymen Dichter. Die Texte aus dem Guarini'schen Schäferstück und aus den "Rime" Marinos stehen in keinem inhaltlichen Bezug zueinander. Schütz stellte sie, so Gregor-Dellin, zu einem Zyklus von Liebe, Lenz, Leidenschaft, Schmerz und Tod, Liebesbitterkeit und Todessüße zusammen. Die Madrigale 1 bis 18 sind fünfstimmig; das 19. Vasto mar fällt aus dem Rahmen, nicht nur, weil der Text wahrscheinlich von Schütz selbst verfasst wurde, sondern auch deshalb, weil es alle bisherigen Versuche innerhalb der Klasse von Gabrieli in den Schatten stellt. Es handelt sich dabei um eine achtstimmige doppelchörige Komposition. Alfred Einstein schrieb: Es gibt kaum ein kühneres, weniger schulmäßiges, charakteristischeres Werk von Schütz. Gerade das Moderato des Ausdrucks ist verpönt, das Exzessive, Überschwangvolle zum Prinzip erhoben; das sprengende Gefühl bedient sich der stärksten, freiesten Mittel der Deklamation, des Motivkontrastes, der Harmonik: ein unmittelbares Vorbild, [...], ist kaum nachzuweisen - diese Stücke sind gestalteter, weniger spielerisch, verwoben, tiefer als alles Italienische. (Gregor-Dellin, M.: S. 74f.) Schütz' Meisterschaft der deklamatorischen Textausdeutung und sein Gestaltungsvermögen nehmen im Opus primum ihren Anfang. Nicht allein auf die Ton- und Affektmalerei beschränkt zeigen die Stücke einen ungeheure Dramatik gepaart mit melodischem Reichtum.“
Fazit: Schützens Opus 1 dürfte von allen seinen Werken das unbekannteste und am wenigsten gespielte sein; vielleicht wegen der italienischen Texte. Schütz wurde ja erst in Verbindung mit der deutschen Sprache der große strenge alte Meister. Dennoch wäre es falsch, diese Madrigale deshalb nicht wahrzunehmen. Auch hier schon es geht nie um Tonmalerei oder Affekte, um die bloße Wiedergabe von Inhalten. Kontraste und Spannungen bei der genauen Deutung des Wortes vereinigen sich mit einem kaum glaublichen Reichtum an Melodien und Rhythmen. Schon jetzt ist ein Meister am Werk: Der Wechsel der Tonwerte als Mittel des musikalischen Ausdrucks mit kontrapunktischer Betonung der Affekte, so dass sich Text und Musik kunstvoll überlagern. „Die Stimmen gehen nicht, oder nur ganz selten, im Gleichschritt dahin, sondern reichen einander den Text weiter, unterbrechen oder versetzen ihn. ‚O Dolcezze Amarissimi D'Amore‘ , o bitterste Süße der Liebe: Wenn etwa hier die beiden Soprane und der Baß in lang gehaltenen und synkopierend verschobenen Tönen von unterschiedlicher Intervallspannung von der Bitterkeit der Liebe erzählen, sprechen Alt und Tenor im ansteigenden wechselnden Gezwitscher einer Sechzehntelfigur von der Süße der Empfindung – und das alles auf die drei Silben ‚d’a-mo-re‘ (zweites Madrigal). Mittels Spreizung der Motive, die ihrerseits wieder untereinander kontrastieren (so daß Moser von einem ‚Kontrastfiguren-madrigal‘ sprechen konnte), und einer reichen Modulation mischen sich Leichtes und Inbrünstiges, Hell und Dunkel, Freude und Schmerz. Chromatische Gänge, überraschende Wendungen und Tonart-Versetzungen sowie weite und kühne Intervallsprünge werden mit großer Sicherheit und Selbstverständlichkeit eingesetzt.“ (S.75f.) Schon hier also ist Schütz ein Meister der Ausdeutung von ganz unterschiedlichen Texten; jedem Textgedanken wird ein musikalischer Gedanke zugeordnet, wobei der Wille zu einer übergreifenden musikalischen Architektur zu beobachten ist: herbe Chromatik, Seufzerpassagen, spielerisch oder kreisende Bewegungen bei bestimmten Worten. Schütz verband die Einzelelemente zu einem organischen Ganzen, in dem sich vollstimmige und geringstimmige Partien logisch abwechseln, so dass die Komposition immer dichter wird. (Silke Leopold, siehe erste Booklet der ersten Aufnahme, S.11) Interessanterweise deutet Leopold die Madrigale als Endpunkt der Gattung: Polyphone Sätze hätte Schütz auch in Deutschland studieren können; aber die Erkenntnis des besonderen Verhältnises von Textgestalt und Textinhalt zu einer adäquaten Musik ohne Auseinanderbrechen der Komposition in unverbundene Einzelteile wäre das eigentliche Ergebnis seines Italienaufenthalts gewesen. Demzufolge wurzelt seine Musikphilosophie in Italien? Auf jeden Fall liefert Schütz hier nicht bloß ein Gesellenstück; das ist keine Arbeit, die bloß zeigen soll, dass er sein Metier beherrscht. Vieles ist natürlich Handwerk, Konvention der Zeit (Wahl der Tonarten etc.), aber die Auswahl und Kompilation der Texte spricht schon eine deutliche Sprache. Die satztechnische Virtuosität mag noch nicht an die italienischen Vorbilder heranreichen; aber er bemüht sich sichtlich und hörbar eine Tonsprache zu finden, um Text und Musik zu einer Einheit zu formen. Schütz in nuce made in Italy? Parla italiano? Was heißt nach italienischer Art auf italienisch?
Aufnahmen:
Ich selbst besitze nur wenige Aufnahmen, nicht bei allen ist übrigens das 19. Madrigal enthalten. Oft findet man die Einspielungen unter dem deutschen Titel "Italienische Madrigale". Zu den verschiedenen Aufnahmen im Einzelnen aber erst später.
Hier auf der fünften und letzten CD der Box:
Quellen:
Martin GREGOR-DELLIN: Heinrich Schütz. Sein Leben, sein
Werk, seine Zeit, Berlin 1985.
http://heinrich-schuetz-haus.de/swv/sites/swv_001.htm
http://heinrich-schuetz-haus.de/swv/daten/daten_swv_1-19.htm