Edward William Elgar (1857-1934):
THE DREAM OF GERONTIUS
(Der Traum des Gerontius)
Oratorium op. 38 in zwei Teilen für Soli (Mezzosopran/Alt, Tenor, Bass) und zwei Chöre auf einen Text von John Henry Kardinal Newman
Uraufführung am 3. Oktober 1900 beim „Birmingham Triennial Music Festival“ in der Town Hall unter der Leitung von Hans Richter
DIE PERSONEN DER HANDLUNG
Der Engel, Mezzosopran oder Alt
Gerontius und Seele des Gerontius, Tenor
Priester und Todesengel, Bass
Doppelchor (vier- bis achtstimmig): Dämonen, Engel, Seelen Freunde
INHALTSANGABE
Erster Teil
Nach dem umfangreichen, in ruhigen Klängen dahin strömenden „Prelude“ äußert sich auf dem Sterbelager mit ebenso ruhigen Weisen Gerontius über seine Empfindungen, wobei er vor dem Hörer seinen Seelenzustand ausbreitet:
Jesu, Maria - I am near to death
Jesus, Maria - meine Stunde kam, und du Herr,
du bist's, der mich ruft, kein Zweifel frommt.
Lässt mich's erkennen meines Atems Not,
des Herzens Krampf,, des Blicks erlöschend Licht?
(...)
Umgeben ist Gerontius von seinen Freunden, die er bittet, für ihn und sein Seelenheil zu beten. Chorisch greifen sie diese Bitte auf, stimmen ein Kyrie an und wenden sich dann an die heiligen Engel, an die Gerechten, die Apostel, Evangelisten und an des Herrn Jünger, für Gerontius vor Gott einzutreten.
Im ständigen Wechsel zwischen dem Tenorsolo des Gerontius und seinen Freunden wird in den folgenden Texten immer wieder der Gedanke an das nahe Ende mit der Bitte um Vergebung für begangene Sünden aufgegriffen. Sehr auffällig ist das De profundis vom Librettisten gestaltet worden, das dem Solotenor anvertraut ist: Es fällt zunächst formal durch seine ungewöhnliche Länge aus dem Rahmen, hat zum anderen die zweisprachige Form Lateinisch-Englisch und, bei genauerem Blick, kleinere textliche Einschübe aus der Missa pro defunctis. Das Lateinische ist hier natürlich liturgisch begründet, die englischen Texteinschübe sind inhaltlich ergänzende Betrachtungen - der Sterbende gibt den Körper, seinen Geist und seine Seele in Gottes Hand zurück:
Sanctus fortis, Sanctus Deus, De profundis oro te
Heilger, starker, heilger Gott, aus der Tiefe rufe ich dich,
erbarme dich mein Richter, verschone mich, o Herr.
(...)
Musikalisch lotet Elgar den Klagetext mit spätromantischen Klängen aus und lässt bei den kontemplativen Textstellen mit wunderbar sanft-beruhigenden Tönen Gerontius' Stimme begleiten. In das Solostück stimmen zum Ende hin, als Gerontius die Mutter Gottes anruft, die Freunde mit einem Bittgesang um Gnade für ihn ein. Dabei gedenken sie der unendlich vielen Gnaden-Beispiele, die Gott den Menschen zu allen Zeiten erwiesen hat; so benutzt Elgar gregorianische Melismen wenn die Freunde an Noah denken, an des Hiobs leidvolles Leben erinnern, aber auch an Davids glorreiche Siege über Saul und Goliath; nach jedem der vier biblischen Beispiele erklingt jeweils eine leises Amen.
Plötzlich kommt es zu den letzten Erden-Worten von Gerontius, die er jedoch, ersterbend, nicht mehr zu Ende bringt:
Novissima hora est; and I fain would sleep
Die letzte Stunde ist da: Komm, ersehnter Schlaf, die Qual verzehret mich.
In deine Hände, deine Hände, o Herr...
Ein Priester stimmt das letzte Gebet an, zunächst von Bläsern gestützt, im weiteren Verlauf durch dumpfe Bässe getragen, in das sich der Chor der Freunde, von ruhigen Klängen des Orchesters unterstützt, einmischt, um schließlich im ruhigen Piano den ersten Teil des Werkes zu beenden:
Profiscere, omnia Christiana, de hoc mundo!
Go forth upon thy journey, Christian Soul!
Mache dich auf, christliche Seele, aus dieser Welt! (…)
Geh in dem Namen Gottes, des allmächtigen Vaters, der auch dich erschuf.
Geh in dem Namen Jesu Christ, unsers Herrn, des Sohnes, der für dich sein Blut vergoss.
Geh in dem Namen des heilgen Geistes, der für dich ausgegossen ward. (…)
Wandle deine Bahn und finde Ruhstatt in Frieden, und deine Wohnung auf dem heilgen Berge Sion: durch den Einen, Jesum Christ, unsern Herrn.
Zweiter Teil
Nach einer kurzen, äußerst zarten Orchestereinleitung bringt Gerontius' Seele, nun in den Himmel aufgestiegen, wieder ihre Gefühle zum Ausdruck:
I went to sleep; and now I am refreshed.
Ich sank in Schlaf; gestärkt erwach' ich nun.
Welch fremd Erwachen: wie fühl' ich mich so unaussprechlich leicht und frei,
so wie ichs nie gefühlt, als wär ich jetzt erst eigen selbst, und früher nie gewesen.
(...)
Ihr Erstaunen weitet sich aus, als ein Engel zu ihr tritt und in ruhigem Tonfall von der Pflichterfüllung gegenüber dem allmächtigen Gott singt, eine „teure Seele“ heimgeholt zu haben.
Die Ruhe des himmlischen Friedens ermutigt Gerontius' Seele, eine Frage an den Engel zu stellen: Wird sie vor den Richter geführt, um zu „empfah'n des ew'gen Lohnes Spruch“? Der Engel bejaht diese Frage, kündigt ihr aber Unangenehmes an: Jetzt, sich im Vorhof des himmlischen Gerichts befindend, werde sie von Dämonen heimgesucht, die sie als ihr „Hölleneigentum“ ansehen. Das Toben der wüsten Stimmen, die sich höhnisch über die „Psalmsänger“ und „Kirchgänger“ auslassen, lässt des Gerontius Seele erschauern. Der Engel versucht, sie zu beruhigen, doch die Dämonen übertönen sie mit ihrer Raserei.
Als habe sie sich gefangen, wird die Seele plötzlich vollkommen ruhig, zeigt sich von der Raserei unbeeindruckt und stellt eine neue Frage:
I see not those false spirits.
Ich seh die Bösen nicht;
schau ich denn ihn, den Meister selbst, wenn seinem Thron ich nah'?
Auch diese Frage bejaht der Engel - aber der Blick werde nur sehr kurz sein, denn „des Höchsten Antlitz durchbohrt“ jeden, der ihn erschaut. Dann erinnert der Engel an den „einst lebenden Menschen, der jetzt im Himmel thront“ und der als Erlöser der Menschen auch ihr, des Gerontius Seele, das Heil gebracht habe.
Ein Lobgesang der Engel, der „Himmelssöhne, kindergleiche Schar“, tönt herüber, ruft das Jenseits zum Lobe Gottes auf, der seinen eigenen Sohn auf die Erde sandte, durch Maria zur Welt gebracht, und ihn nicht schonte, weil er das Menschengeschlecht auf des Vaters allmächtigen Willen hin erlösen muss.
Der Gang durch die Himmelsräume führt nun, wie der Engel weiter erklärt, in „das Innere des Gerichts“; begleitet werden sie von einem freudigen Preisgesang der „himmlischen Heerscharen“ (als Wechselgesang vertont), die des Allmächtigen Gnade, seine Liebe gegenüber allen Kreaturen hervorheben. Auf die Ankündigung, dass der Seele, nunmehr in „unseres Herrn geheimnisvolle Nähe“ gekommen, das Urteil bekanntgemacht werden soll, antwortet die Seele, dass sie Stimmen von der Erde höre. Da, so der Engel, beten seine irdischen Freunde mit dem Priester das „Subvenite“ (Kommt zusammen, ihr Heiligen Gottes (…) nehmt seine Seele auf, bringt sie vor das Angesicht des Höchsten).
Danach wird der Seele des "Todesengels ernst' Gestalt" angekündigt. Dieser erinnert Jesus insgesamt acht Mal an seine seine eigene Furcht, die eigenen Qualen und den eigenen Schmerz auf Golgatha und bittet um Gnade für alle die Seelen, die eingehen wollen in
dein himmlisch Reich, ewig zu schau'n dein Angesicht.
An dieser Stelle erklärt der Engel plötzlich und unvermittelt der Seele, dass sie erlöst sei, erlöst durch den „Blick des Herrn“. Diesen kurzen Augenblick der Wahrnehmung Gottes nimmt Elgar zum Anlass, ein dreifaches Forte zu komponieren, das die Dankesworte der Seele als den dynamischen Höhepunkt des gesamten Oratoriums erscheinen lassen:
Take me away, and in the lowest deep there let me be
Nimm mich hinweg, und in der tiefsten Tiefe berge mich!
(...)
In diesen Gesang mischen sich die Stimmen der irdischen Freunde des Gerontius, und die der Seelen im Fegefeuer, die aus den ersten beiden Versen des 90. Psalms zitieren (Herr, du bist unsre Zuflucht für und für).
Noch einmal erhebt der Engel seine Stimme, wünscht der Seele des Gerontius, die er als „Bruder mein“ bezeichnet, die Ruhe bis zum „Morgen“- dem Jüngsten Tag, an dem er sie aus der „Prüfung Nacht“ holen werde. Noch während der Rede des Engels treten zwei vierstimmige Chöre, die Seelen im Fegefeuer und die himmlischen Engel repräsentierend, hinzu, wobei die ersteren wieder die Verse aus dem 90. Psalm zitieren, während die Himmlische Heerschar das Lob Gottes besingen. Ruhig verklingt das Oratorium, als eine mögliche musikalisch vorstellbare Verklärung...
INFORMATIONEN ZU KOMPONIST UND WERK
Edward William Elgar kam als viertes Kind des Musikalienhändlers, Klavierstimmers und Organisten William Henry Elgar und dessen Frau Ann, geborene Greening, am 2.Juni 1857 in Broadheath/Worcester zur Welt. Da Elgars Mutter, gegen den Willen ihres Vaters, zum Katholizismus übergetreten war, erzog sie ihre Kinder katholisch.
Der Knabe war musikalisch und konnte schon früh verschiedene Instrumente spielen. Erst nach kurzfristiger Arbeit bei einem Notar stieg er in das väterliche Geschäft ein, entschloss sich aber im Alter von 16 Jahren, eine musikalische Ausbildung anzustreben. Die Eltern vermochten ihm allerdings keine fundierte Ausbildung zu finanzieren. Das meiste eignete sich der junge Mann autodidaktisch an, so auch das Komponieren. 1877 wurde er in den „Worcester Glee Club“ aufgenommen und leitete die neu gegründete „Worcester Amateur Instrumental Society“. Gleichzeitig erhielt er in London Violinunterricht bei Politzer.
Seine ersten Kompositionen, die Kantaten „The Black Knight“ von 1893 und „King Olaf“ von 1896 sowie das Oratorium „The Light of Life“ verschafften ihm zwar erste öffentliche Anerkennung; der endgültige Durchbruch kam aber erst 1899 mit dem Orchesterwerk der „Enigma-Variationen“ und ein Jahr später mit dem Oratorium „The Dream of Gerontius“. 1904 erhielt Elgar den Ritterschlag, und wurde kurz darauf als Professor an die Universität von Birmingham berufen. 1910 entstand dann auf Wunsch von Fritz Kreisler das Konzert für Violine und Orchester, das sich in die Tradition groß angelegter romantischer Konzerte einreihte. Es wurde ein großer Publikumserfolg und gehört noch heute zum Standard-Repertoire der großen Geiger - mit einer Länge von ungefähr 50 Minuten ist es eines der umfangreichsten Solokonzerte der Musikgeschichte.
Als Elgars weithin bekanntestes Werk dürfte „Land of Hope and Glory“ auf Basis des „Pomp and Circumstance March No.1“ gelten; neben „Rule, Britannia“ und „God Save the Queen (bzw. King)“ ist es die bekannteste britische Hymne. Der Marsch ist übrigens Standardprogramm bei der „Last Night of the Proms“ und wird als englische Hymne auch bei den „Commonwealth Games“ gespielt.
„The Dream of Gerontius“ entstand als Auftragswerk für das im Jahre 1900 vorgesehene „Birmingham Triennial Music Festival“ - nachdem Jahre zuvor Antonìn Dvořák dem Librettisten, Kardinal Newman, eine Komposition seines Versepos zugesagt, dann aber nicht eingehalten hatte. Elgar kannte das fast 900 Zeilen umfassende, 1865 im Druck erschienene Gedicht und begab sich sofort an die Vertonung.
Die Komposition entstand in engem brieflichem Kontakt mit seinem Freund August Jaeger, dem deutschstämmigen Lektor des Londoner Musikverlages Novello. Von ihm erhielt Elgar aufführungspraktische Hinweise und konnte das Werk am 3. August 1900 abschließen. Dabei folgte er der Praxis (beispielsweise) Johann Sebastian Bachs und signierte seine Komposition mit A.M.D.G - Ad maiorem Dei gloriam / Zum größeren Ruhm Gottes.
In den Briefen an Jaeger gibt es eine Stelle, die darauf hinweist, dass der Komponist sein Opus für gelungen hielt:
Ich denke, du wirst Gerontius für weit besser halten als alles, was ich bisher gemacht habe - ich liebe es - ich behaupte zwar nicht, dass ich auch nur für einen Moment die Größe der Dichtung erreicht habe, aber (…) in Gedanken habe ich die Seele auferstehen sehen und mein eigenes Heil in der Musik niedergeschrieben.
Diesen Text kennend wird man Elgars große Enttäuschung, sogar seine tiefe Verzweiflung verstehen, als die Uraufführung wegen der katastrophalen Ausführung - die Hans Richter angelastet wurde, der die Schwierigkeiten wohl unterschätzt hatte - verrissen wurde. Er schrieb nach der Premiere an Jaeger (wobei der offizielle Protest der Church of England gegen das Werk auch eine bestimmende Rolle gespielt haben mag):
Ich habe immer gesagt, dass Gott gegen die Kunst ist (…) ein einziges Mal habe ich mein Herz geöffnet, doch jetzt ist es für immer verschlossen gegen jedes religiöse Empfingen und jedes weiche, milde Gefühl.
Es gab aber auch Fachleute (so beispielsweise die Komponisten Hubert Parry und Charles Villiers Stanford), die das in dem Werk steckende künstlerische Potenzial erkannten, und die insofern recht behielten, als spätere Aufführungen den Erfolg brachten. Beachtenswert ist jedenfalls, dass in England „The Dream of Gerontius“ nach dem „Messias“ das meist aufgeführte Oratorium ist - noch vor dem „Elias“.
© Manfred Rückert für den Tamino-Oratorienführer 2014
unter Hinzuziehung folgender Quellen:
Libretto
Oratorienführer von Pahlen und Harenberg