Anna Karenina von Jenö Hubay - eine fantastische Wiederentdeckung - Staatstheater Braunschweig (28.5.14)

  • Liebe Taminos,


    da ich nun wieder in Deutschland weile, kam ich in den Genuss der Oper Anna Karenina von Jenö Hubay (1858-1937), einem recht unbekannten Komponisten, der einst die geschätzte Komponistenpersönlichkeit Ungarns war und erst durch die Nationalsozialisten aus dem Wortschatz eines jeden Musikfreunds schwand. In den letzten Jahren wird ihm wieder mehr Aufmerksamkeit zuteil - MIT RECHT!


    Die Details zur Aufführung:



    Inszenierung: Philipp Kochheim
    Bühne: Thomas Gruber
    Kostüme: Grabriele Jaenecke



    Anna Karenina: Nadja Stefanoff
    Graf Wronskij: Arthur Shen
    Kitty: Ekaterina Kudryavtseva
    Lewin: Matthias Stier
    Oblonskij: Orhan Yildiz
    Scherbatzkij: Selcuk Hakan Tirasoglu
    Karenin: Rossen Krastev
    Jaschwin: Michael Ha
    Fürst Serpukowskij: Oleksandr Pushniak
    Machotin / Wladimir: Vladimir Miakotine
    Matrone: Malgorzata Pryzbysz
    Fürstin: Julia Tabankova
    Dolly: Theresa Derksen-Bockermann
    Serjoscha: Niklas Braband


    Staatsorchester Braunschweig - Chor des Staatstheater Braunschweigs, Statisten
    Musikalische Leitung: Christopher Hein



    Quelle: Staatstheater Braunschweig - Fotograf Volker Beinhorn


    Zur Musik: Die Partitur der Anna Karenina ist eine wirkliche Entdeckung. Elegante Festmusik zum Ball, Maschinenmusik während der Zugfahrt im Albtraum, sowie am Ende, schwelgende - klangvoll, pompöse, spätromantische Klangwelten zwischendrin, hervorragend den Seelenzustand der Protagonisten widerspiegelnd. Das Orchester ist in Mahlerschen Dimensionen Besetzt. Großes Blech, zahlreiche Geigen und Holzbläser, Schlagwerk mit Trommeln, Gong, Kastagnetten, Glockenspielen und mehreren Becken.
    Die Oper beginnt in einem Vorraum zum Festsaal in dem momentan ein Ball stattfindet. Die ersten Takte des Musikwerks gehören einer festlichen Quadrille hinter der Bühne, bevor die Musiker im Orchestergraben mitreißend einsteigen. Hubay versteht es für die Stimme und das Orchester zu schreiben. Besonders eindrucksvoll gelingt ihm Kareninas Traum, bei dem sie von einer albtraumhaften Zugfahrt träumt. Hubay präsentiert hier eine Maschinenmusik im spätromantischen Manier, insbesondere den Rhythmus nachahmend, durch Schlaginstrumente immer maschineller wirkend und an Klang gewinnend. Auch zum Schluss, wenn sich Karenina vor dem Zug wirft, erklingt diese. Unverkennbar ist auch Hubay's ungarische Herkunft die immer wieder - jedoch angenehm dezent - mit besonderen Tonskalen einfließt. Mein einziger Kritikpunkt ist die teils zu dicke Instrumentation, die ich an für sich sehr schätze, aber nach zwei Stunden Dauerzustand doch etwas zu viel wurde.
    Nicht nur die Musik, auch die Sänger konnten bestens überzeugen. Allen voran war dabei Nadja Stefanoff als Anna Karenina, die einen sehr dramatischen, bestens verständlichen Sopran hatte, der selbst bei der dichten Instrumentierung bestens in den Zuschauerraum schallte. Arthur Shen fiel auch seit langem endlich mal wieder positiv auf. Seine stimmliche Krise scheint fast überwunden, weshalb er in den unteren lagen wieder seinen kraftvollen Tenor präsentieren konnte. In den oberen Lagen war er immer noch recht dünn. Schauspielerisch konnte beide Hauptpersonen bestens überzeugen. Sehr präsent war auch Matthias Stier als Lewin, dessen jugendlich, hoher Tenor große Strahlkraft hatte und bestens zu seiner Rolle passte. Auch Orhan Yildiz und Rossen Krastev punkteten mit ihren voluminösen tiefen Stimmen. Lediglich Oleksandr Pushniak gelang es in keinster Weise über den orchestralen Klangteppich zu kommen. Das Staatsorchester fühlte sich hörbar wohl in der spätromantischen Musik unter der mitreißenden Leitung von Christopher Hein. Der Chor des Theaters sang klangstark und spielte herrlich in der Szene auf der Pferderennbahn.



    Quelle: Staatstheater Braunschweig - Fotograf Volker Beinhorn


    Die Inszenierung: Die Inszenierung war für das Theater Braunschweig, welches sonst nur für Regietheater bekannt ist hervorragend. Es gab keine blöden Regieeinfalle, man nahm die Oper wieder als Gesamtkunstwerk wahr. Vielen Dank an den neuen Operndirektor Philipp Kochheim. Das erste Bild spielt in einem Vorraum zum Ballsaal. Die Wänder sind mit schmucker Tapete beklebt, alte Türen verbergen den Blick in die Nachbarräume, historische Möbel zieren den Saal. Alle Sängerinnen tragen die prachtvollen Ballkleider, die Männer in adretten Uniformen. Das zweite Bild spielt auf der Pferderennbahn. Im Vordergrund ein weiß bemalter Weidenzaun, die Abgrenzung zur Rennbahn signalisierend. Im Hintergrund eine große Ergebnistafel mit russischen Lettern, links und rechts die Wettbüros. Der Chor und sie Sänger treten in dicken Pelzmänteln auf, einige tragen russische Hüte. Sehr gelungen war hier die Personenführung - eine gelungene Massenszene. Im dritten Bild befindet man sich in Wronskjis italienischer Villa - ein kühler, fast amerikanisch wirkender Raum in dem sich Wronskji der Fotografie widmet. Alles ist behaglich - vom Pomp der russischen Hauptstadt ist nichts mehr zu sehen. Das letzte Bild spielt im Birkenhain des russischen Landsitzes, elegant weiße Holzstühle bestimmen den Park, im Hintergrund verlaufen Eisenbahnschienen. Sehr gelungen gelöst war der Selbstmord der Karenina. Im Orchester erklingt die wilde Maschinenmusik der Dampflok. Sie springt auf die Schienen, und die Eisenbahnlichter kommen rasant immer näher. Im entscheidenden Augenblick fällt der Vorhang und eingespielte ICE-Bremsgeräusche sorgen für ein reales, erschütterndes Ende.
    Sehr erfreut hat mich auch, dass der Vorhang in dieser Produktion wieder eingesetzt wurde. Zu den stürmischen Zwischenspielen wurde mit geschlossener Bühne gespielt, auch bei den jeweiligen Aktenden wurde der Vorhang zugezogen - man fühlte sich in die Zeit der großen Opernaufführungen zurückversetzt! Eine rundum gelungene Produktion!



    Quelle: Staatstheater Braunschweig - Fotograf Volker Beinhorn


    Zum Schluss: Hubay Librettist Alexander Góth komprimierte das Werk auf seine wichtigsten Teile - das Fest - die Entsagung von Karenin auf der Rennbahn - das triste Leben in Italien - der Tod auf den Gleisen. Trotz der Auslassung zahlreicher Stellen, erhielt man einen guten Einblick in die Seelenkrise Annas. Da ich den Roman selber noch nicht kenne, kann ich nicht sagen, inwiefern die Inszenierung vom Original abwich. Mir schien es jedoch eine runde Sache, die den weiteren Weg für Aufführungen in Braunschweig hoffentlich festlegte.


    Beste Grüße
    Christian

  • Wirklich sehr, sehr schade, dass das schon die letzte Aufführung war und ich die Produktion somit verpasst habe. :(

    Beste Grüße vom "Stimmenliebhaber"

  • Lieber Christian,


    vielen Dank für deine Schilderung. Ein Lichtblick in den trüben Tagen des immer verrückter werdenden Regietheaters. Hoffentlich gibt es unter dem neuen Operndirektor noch mehr davon. Bedauerlicherweise gibt es wohl keine Aufnahme davon auf DVD.


    Liebe Grüße
    Gerhard

    Regietheater ist die Menge der Inszenierungen von Leuten, die nicht Regie führen können. (Zitat Prof. Christian Lehmann)